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Archiv verlassen und diese Seite im Standarddesign anzeigen : Ewiges Eis


Sidgrani
10.12.2012, 20:16
Du hast den Winter nie gemocht,
nun hat er an die Tür gepocht,
er löst des Herbstes morsches Band
und reicht uns seine kalte Hand.
Verschlissen sind die warmen Decken,
wir können uns nicht mehr verstecken.

Dein Kleid ist hübsch, dein Lieblingsblau,
du bist für mich die schönste Frau.
Sieh nur, mein Ehering, er blitzt,
wie oft hast du ihn mir stibitzt
und heimlich wieder blank gerieben.
Wo sind die Jahre nur geblieben.

Den schwarzen Anzug liebst du doch,
er passt mir heute immer noch.
Ich mag dein Haar, den feinen Glanz,
pass auf, gleich führ ich dich zum Tanz,
was haben wir es toll getrieben.
Wo sind die Jahre nur geblieben.

Als ich die Kette dir geschenkt,
hast du verschämt den Blick gesenkt,
und ich trag immer noch den Schal,
den du mir gabst vorm Tanzlokal.
Da wussten wir, dass wir uns lieben.
Wo sind die Jahre nur geblieben.

Ich komm zu dir, mein lieber Schatz,
an deiner Seite ist mein Platz,
du bist und bleibst mein ganzes Glück,
hier hast du deinen Schal zurück.
Er hält dich warm, lass dich bedecken,
und er verbirgt die Totenflecken.

Dana
10.12.2012, 20:46
Hallo Sidgrani,

ich denke, du hast bewusst nicht die düstere Rubrik gewählt.

Mir tat sich eine "ewig" bleibende Liebeserklärung auf, die sich dem Lauf der Zeit (matophorisch den Jahreszeiten) beugt und dennoch alles Gewesene bewahrt.
Wunderschön die greifbaren Erinnerungen, das Bleibende und das "Bei-einander-bleiben".
Mir gefällt die Mischung: Liebe, Philosophie, Realität - berührend und frei von Klage.
Trotz der "Traurigkeit" - schön für den/die Betroffenen, die so leben und erleben dürfen.

Liebe Grüße
Dana

Sidgrani
11.12.2012, 15:27
Hallo Sidgrani,

ich denke, du hast bewusst nicht die düstere Rubrik gewählt.

Dana


Hallo Dana,

ja, das habe ich mit Absicht getan, um den Überraschungseffekt am Schluss nicht zu gefährden.

Ich freue mich sehr über deinen tiefgründigen Kommentar, danke!

Liebe Grüße
Sidgrani

Antigone
11.12.2012, 17:13
Lieber Sidgrani,

es ist gerade der "überraschende Schluss", der dein Gedicht zerstört.
Ohne ihn wäre es ein nettes Liebesgedicht geblieben, zwar etwas klischeehaft, ohne Höhen und Tiefen, aber doch nett. So aber geht man ein wenig enttäuscht aus dem Gedicht heraus, weil man merkt, dass hier der Plot nicht beherrscht wurde.

Lieben Gruß
Antigone

Erich Kykal
11.12.2012, 17:44
Sorry Antigone, aber die letzte Aussage deines Kommi finde ich danebengegriffen! Von wegen "Plot nicht beherrscht" - derselbige war eben von vornherein ein ganz anderer, aber das wird erst mit dem letzten Wort enthüllt!

Hi, Sidgrani!

Das erinnert mich an ein altes Rammsteinlied, ein wenig auch an Falco's "Jeanny".

Der Knalleffekt der Conclusio macht das Gedicht überhaupt erst richtig wertig und interessant!!! Nicht dass der Rest schlecht geschrieben wäre - aber halt eben, wie Antigone sagte: Das Übliche - ein harmloses, nettes Gedicht freundlicher Fürsorge und Verliebtheit.
Erst diese letzte Wendung bringt Wahnsinn und Grauen mit hinein und verleiht allem zuvor Gesagten eine skurrile, albtraumhafte Note verschobener Realität und macht erst ein lyrisches Gustostückchen draus!

Sehr gern gelesen!

LG, eKy

PS: Das einzige, was mich stutzen ließ: "ich hab den Kindern grad geschrieben". - Heutzutage gibt es da wohl raschere Kommunikationsmöglichkeiten! Wenn die Mutter tot ist, schreibt man doch heute keinen Brief mehr - man ruft an! Das wirkt etwas antiquiert, als stamme der Text aus dem vorletzten Jahrhundert.

Sidgrani
11.12.2012, 18:35
Liebe Antigone,

als die Idee zu meinem Gedicht geboren wurde, wusste ich lediglich, dass erst in der letzten Zeile deutlich werden sollte, dass der betagte Herr mit seiner gerade verstorbenen Frau spricht. Er hat sie während des Monologs liebevoll zurecht gemacht und kann einfach nicht begreifen, dass sie von ihm gegangen ist. Wer weiß, wie lange er neben ihr ausgehalten hat oder ob er zu einer Überdosis Tabletten gegriffen hat.

Wenn er mit ihr spricht, ist es ungelenk und ein bisschen niedlich bzw. altmodisch, so wie es vielleicht bei einem etwas senilen alten Mann üblich ist.

Ich habe dir mein Gedicht so ausführlich erläutert, weil ich es schade finde, dass du am Ende enttäuscht worden bist, anstatt eine aufkommende Betroffenheit zu fühlen.

Danke, dass du das Gedicht gelesen hast und dir auch noch die Zeit genommen hast, es zu kommentieren, das ist nicht üblich. Viele Leser denken vielleicht ähnlich, und werfen das Gelesene direkt auf den Müll - und basta.

Liebe Grüße
Sidgrani


Hallo eKy,

"Jeanny" werde ich mir nachher einmal anhören.

Der Monolog des LI soll ja so harmlos bzw. hilflos klingen, weil das ganze Universum des alten Mannes gerade aus den Fugen geraten ist. Wie schon erklärt, die letzte Zeile soll ins Ziel treffen.

Das Wort "geschrieben" ist dem Reim geschuldet, wie du sicherlich erkannt hast, da muss ich noch einmal schauen, ob ich das besser hinkriege.

Danke für deine "durchblickenden" Worte und den "Beifall".

Liebe Grüße
Sidgrani

Chavali
11.12.2012, 18:56
Lieber Sid,

ich las das Gedicht gestern schon, doch aus technischen Gründen kann ich dir erst heute antworten.

Ich habe mich ob der überraschenden Wendung ziemlich erschrocken und musste nochmals ansetzen,
ob ich den Inhalt nicht falsch verstanden habe.
Nun sind ja schon einige Kommentare gekommen und auch deine Antworten haben mir bestätigt,
dass meine Interpretation richtig lag.

Ja, so habe ich den Text auch verstanden:
Ein alter Mann, der sich zurück erinnert an das Leben mit der geliebten Frau, die nun verstorben ist.
Er kann es kaum begreifen und deshalb sind seine Handlungen tragisch-absurd.

Immer wieder fragt er sich, wo die Zeit geblieben ist und findet keine Antwort.
Für ihn selber bleibt nur ein Ausweg: Seiner Frau zu folgen.


Diese tragische Geschichte ist mehr als ein Liebesgedicht.
Sie macht betroffen.


Lieben Gruß,
Chavali

Falderwald
11.12.2012, 20:35
Hallo Sidgrani,

das ist eine sehr innige und berührende Liebeserklärung an die verstorbene, langjährige Partnerin.

Geradezu zärtlich naiv sind die Worte des alten Mannes, der sich noch einmal seinen Erinnerungen hingibt, bevor er sich endgültig von ihr trennen muss.

Ich glaube, es ist hier genug erörtert worden, aber ich wollte dir ebenfalls mitteilen, daß mich dieser Text emotional sehr berühren konnte, ich kann es nachvollziehen.

Ewiges Eis, ja...

In diesem Sinne mit dem Protagonisten mitfühlend aber dennoch gerne gelesen und kommentiert...:)


Liebe Grüße

Bis bald

Falderwald

Thomas
11.12.2012, 21:18
Hallo Sidgrani,

ein sehr gutes Gedicht, wie ich finde. Was (völlig zu Recht) gelobt wurde, möchte ich nicht wiederholen und nur zwei Zeilen markieren, an denen du vielleicht noch etwas verbessern könntest, wenn du willst. Der Ausdruck "wie aus dem Ei gepellt," passt meiner Meinung nicht ganz zu der Sprachebene des restlichen Gedichtes und in der letzten Zeile finde ich "sieht man deine Totenflecken" auch etwas störend. Es liegt nicht an dem Wort "Totenflecken" sondern am Verb "sehen", welches mir zu direkt ist. Der Schal "könnte" verbergen, würde das Bild realer machen. Hoffentlich verstehst du, was ich meine, ich kann es nicht genau ausdrücken.

Bitte nicht als Gekrittel auffassen, das Gedicht ist sehr gut.

Liebe Grüße
Thomas

Sidgrani
14.12.2012, 15:27
Hallo ihr Drei,

ich danke auch euch für die ausführlichen Besprechungen, ihr habt noch einmal schön beschrieben, was die Aussage des Gedichtes ist, das freut mich.

Was du, Thomas, noch angemerkt hast, werde ich in Ruhe überdenken.

Liebe Grüße
Sidgrani

Sidgrani
10.06.2014, 15:16
Hallo Sidgrani,

ein sehr gutes Gedicht, wie ich finde. Was (völlig zu Recht) gelobt wurde, möchte ich nicht wiederholen und nur zwei Zeilen markieren, an denen du vielleicht noch etwas verbessern könntest, wenn du willst. Der Ausdruck "wie aus dem Ei gepellt," passt meiner Meinung nicht ganz zu der Sprachebene des restlichen Gedichtes und in der letzten Zeile finde ich "sieht man deine Totenflecken" auch etwas störend. Es liegt nicht an dem Wort "Totenflecken" sondern am Verb "sehen", welches mir zu direkt ist. Der Schal "könnte" verbergen, würde das Bild realer machen. Hoffentlich verstehst du, was ich meine, ich kann es nicht genau ausdrücken.

Liebe Grüße
Thomas



Lieber Thomas,

nun habe ich mein eigenes Gedicht wieder ausgegraben, aber ich hatte dir eine Überarbeitung versprochen. Das Gedicht ist mir sehr wichtig, deshalb möge man mir meine Vorgehensweise verzeihen. :)

Wie gefällt dir der Umbau?

Lieben Gruß
Sid

Narvik
24.06.2014, 16:35
Hallo Sidgrani,

das ist ja tieftraurig. Du fragst zu recht, wo die Jahre geblieben sind, so geht es mir auch immer wieder. Wenn ich zurück schaue, dann kann ich es auch nicht begreifen, wie schnell die Zeit vergangen ist.
Deine Zeilen haben mich seltsam und innigst berührt. Vielleicht benötigt man auch eine solche Erfahrung dafür, denn für mich ist das wie ein Déjà-vu-Erlebnis.
Halte den Ring in Ehren und möge der Schal als Zeichen der Wärme zwischen zwei Personen bestehen.
Dieses ewige Eis hat mich sehr traurig und melancholisch werden lassen.

Herzliche Inselgrüße

Narvik

Sidgrani
02.07.2014, 13:04
Hei Narvik,

ich danke dir für deine mitfühlenden Worte. Der alte Mann, das LI, wird sich allerdings nicht mehr lange an dem Ring erfreuen können.

Auch wenn es ein trauriges Thema ist, freue ich mich, dass ich die entsprechenden Gefühle in dir zum Klingen bringen konnte.

Lieben Gruß
Sid

Lailany
04.08.2014, 03:34
Lieber Sid,
endlich komme auch ich dazu, dieses beklemmende und berührende Werk zu kommentieren, welches verdienterweise schon eine Menge positives Feedback geerntet hat, dem ich mich anschließen möchte.
Um diesem schweren Thema auf allen Ebenen gerecht zu werden, ist viel Fingerspitzengefühl vonnöten. Du hast das souverän hingekriegt.

Du schickst den Leser auf eine Reise in die unerforschten Abgründe des menschlichen Geistes. Die Weise, wie Du das anpackst, nötigt mir Bewunderung und Respekt ab.
Der Text verliert den Bezug zur Realität nicht, denn solche Fälle gab und gibt es.
Trotz der Schwere des Themas driftest Du nicht in schwülstig Rührseliges ab.
Du erweckst im Leser Betroffenheit... damit veranlasst Du ihn zum Innehalten und Nachdenken.
Sehr gut gemacht.

Handwerklich gibts nichts zu meckern. Sauber gebastelt.

Kritik habe ich nur an einem Satz vorzubringen:
Ich komm zu dir, mein lieber Schatz....

'Ich komm zu dir'.... gefällt mir von der Formulierung her nicht.

Und 'lieber Schatz' ist mir zu überzogen.
Schatz allein ist ja schon ein Kosewort... 'lieber Schatz' ist zuviel des Guten.

Vllt: ich lege mich zu dir, mein Schatz...
Was meinst Du?

Die Verbesserung der von Thomas zu Recht kritisierten Stelle ist prima gelungen.

Sehr, sehr gerne gelesen und mich damit beschäftigt.

LG von Lai :)

Sidgrani
16.08.2014, 13:01
Liebe Lai,

dein ausführlicher Kommentar gefällt mir gut, du hast die Hintergründe gut herausgearbeitet. :Blume:

Deinen Vorschlag hinsichtlich „lieber Schatz“ möchte ich nicht übernehmen. Ich habe alte Menschen genauso reden hören und „ich lege mich zu dir“ drückt weniger aus als „Ich komm zu dir“. Mit dieser Bemerkung kündigt der alte Mann seinen Freitod an.

Danke und liebe Grüße
Sid

momo
27.08.2014, 21:56
Hallo Sidgrani,
mit deinem Gedicht hast du mich zunächst für ein paar Augenblicke aus der Fassung gebracht. Dann folgte die Sprachlossigkeit und Rührung.
So viele unterschiedliche Gefühle in einen Gedicht einzubauen - (wie Liebe, Zärtlichkeit, Wehmut, Trauer, Hilflosigkeit)
- das nenne ich eine grossartige Leistung! :Blume:


Immer noch ein wenig sprachlos,
aber lieb grüßend

momo

Sidgrani
16.09.2014, 15:29
Liebe momo,

was freut einen Dichter mehr, als zu erfahren, dass sein Werk jemanden "berührt" hat. :) Ich danke dir für deine netten Worte.

Liebe Grüße
Sid