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Chavali
29.04.2010, 09:49
Die Füße im Feuer

Conrad Ferdinand Meyer
(1825-1898)



Wild zuckt der Blitz. In fahlem Lichte steht ein Turm.
Der Donner rollt. Ein Reiter kämpft mit seinem Roß,
Springt ab und pocht ans Tor und lärmt. Sein Mantel saust
Im Wind. Er hält den scheuen Fuchs am Zügel fest.
Ein schmales Gitterfenster schimmert goldenhell
Und knarrend öffnet jetzt das Tor ein Edelmann ...

- "Ich bin ein Knecht des Königs, als Kurier geschickt
Nach Nîmes. Herbergt mich! Ihr kennt des Königs Rock!"
- Es stürmt. Mein Gast bist du. Dein Kleid, was kümmert's mich?
Tritt ein und wärme dich! Ich sorge für dein Tier!"
Der Reiter tritt in einen dunklen Ahnensaal,
Von eines weiten Herdes Feuer schwach erhellt,
Und je nach seines Flackerns launenhaftem Licht
Droht hier ein Hugenott im Harnisch, dort ein Weib,
Ein stolzes Edelweib aus braunem Ahnenbild ...
Der Reiter wirft sich in den Sessel vor dem Herd
Und starrt in den lebend'gen Brand. Er brütet, gafft ...
Leis sträubt sich ihm das Haar. Er kennt den Herd, den Saal ...
Die Flamme zischt. Zwei Füße zucken in der Glut.

Den Abendtisch bestellt die greise Schaffnerin
Mit Linnen blendend weiß. Das Edelmägdlein hilft.
Ein Knabe trug den Krug mit Wein. Der Kinder Blick
Hangt schreckensstarr am Gast und hangt am Herd entsetzt ...
Die Flamme zischt. Zwei Füße zucken in der Glut.
- "Verdammt! Dasselbe Wappen! Dieser selbe Saal!
Drei Jahre sind's ... Auf einer Hugenottenjagd ...
Ein fein, halsstarrig Weib ... 'Wo steckt der Junker? Sprich!'
Sie schweigt. 'Bekenn!' Sie schweigt. 'Gib ihn heraus!' Sie schweigt.

Ich werde wild. D e r Stolz! Ich zerre das Geschöpf ...
Die nackten Füße pack ich ihr und strecke sie
Tief mitten in die Glut ... 'Gib ihn heraus!' ... Sie schweigt ...
Sie windet sich ... Sahst du das Wappen nicht am Tor?
Wer hieß dich hier zu Gaste gehen, dummer Narr?
Hat er nur einen Tropfen Bluts, erwürgt er dich." -
Eintritt der Edelmann. "Du träumst! Zu Tische, Gast ..."

Da sitzen sie. Die drei in ihrer schwarzen Tracht
Und er. Doch keins der Kinder spricht das Tischgebet.
Ihn starren sie mit aufgerißnen Augen an -
Den Becher füllt und übergießt er, stürzt den Trunk,
Springt auf: "Herr, gebet jetzt mir meine Lagerstatt!
Müd bin ich wie ein Hund!" Ein Diener leuchtet ihm,
Doch auf der Schwelle wirft er einen Blick zurück
Und sieht den Knaben flüstern in des Vaters Ohr ...
Dem Diener folgt er taumelnd in das Turmgemach.
Fest riegelt er die Tür. Er prüft Pistol und Schwert.
Gell pfeift der Sturm. Die Diele bebt. Die Decke stöhnt.
Die Treppe kracht ... Dröhnt hier ein Tritt? Schleicht dort ein Schritt? ...

Ihn täuscht das Ohr. Vorüberwandelt Mitternacht.
Auf seinen Lidern lastet Blei, und schlummernd sinkt
Er auf das Lager. Draußen plätschert Regenflut.
Er träumt. "Gesteh!" Sie schweigt. "Gib ihn heraus!" Sie schweigt.

Er zerrt das Weib. Zwei Füße zucken in der Glut.
Aufsprüht und zischt ein Feuermeer, das ihn verschlingt ...
- "Erwach! Du solltest längst von hinnen sein! Es tagt!"
Durch die Tapetentür in das Gemach gelangt,
Vor seinem Lager steht des Schlosses Herr - ergraut,
Dem gestern dunkelbraun sich noch gekraust das Haar.

Sie reiten durch den Wald. Kein Lüftchen regt sich heut.
Zersplittert liegen Ästetrümmer quer im Pfad.
Die frühsten Vöglein zwitschern, halb im Traume noch.
Friedsel'ge Wolken schimmern durch die klare Luft,
Als kehrten Engel heim von einer nächt'gen Wacht.
Die dunklen Schollen atmen kräft'gen Erdgeruch.
Die Ebne öffnet sich. Im Felde geht ein Pflug.
Der Reiter lauert aus den Augenwinkeln: "Herr,
Ihr seid ein kluger Mann und voll Besonnenheit
Und wißt, daß ich dem größten König eigen bin.
Lebt wohl! Auf Nimmerwiedersehn!" Der andre spricht:
"Du sagst's! Dem größten König eigen! Heute ward
Sein Dienst mir schwer ... Gemordet hast Du teuflisch mir
Mein Weib! Und lebst ... Mein ist die Rache, redet Gott."

Chavali
29.04.2010, 10:46
Hallo zusammen :)

hier kann jeder sein Lieblingsgedicht einstellen, vielleicht auch mehrere.
Eine kurze Begründung dazu wäre toll!

Achtet bitte darauf, dass der Verfasser schon mindestens 70 Jahre tot ist -
so will es das Urheberrechtsgesetz.




Für mich sind Die Füße im Feuer eines meiner Lieblingsgedichte.
Es ist an Dramatik kaum zu überbieten und das mag ich :)
Außerdem hat der Text ein schwieriges Versmaß: er ist in Hexametern geschrieben.

Lieben Gruß,
Chavali

ginTon
03.05.2010, 21:30
ach ja schon lange nicht mehr gelesen,, ein Muss
für alle Liebhaber der Nacht..."Hymnen an die Nacht"

von Novalis (http://gutenberg.spiegel.de/index.php?id=19&autorid=446&autor_vorname=&autor_nachname=Novalis&cHash=b31bbae2c6)



Muß immer der Morgen wiederkommen?
Endet nie des Irdischen Gewalt?
Unselige Geschäftigkeit verzehrt den himmlischen
Anflug der Nacht.

Wird nie der Liebe geheimes Opfer ewig brennen?
Zugemessen ward dem Lichte seine Zeit;
aber zeitlos und raumlos ist der Nacht Herrschaft.

- Ewig ist die Dauer des Schlafs. Heiliger Schlaf -

beglücke zu selten nicht der Nacht Geweihte in
diesem irdischen Tagewerk. Nur die Toren verkennen
dich und wissen von keinem Schlafe, als dem Schatten,
den du in jener Dämmerung der wahrhaften Nacht mitleidig auf uns wirfst.

Sie fühlen dich nicht in der goldnen Flut der Trauben -
in des Mandelbaums Wunderöl und dem braunen Safte des Mohns.

Sie wissen nicht, daß du es bist, der des zarten Mädchens Busen umschwebt
und zum Himmel den Schoß macht - ahnden nicht, daß aus alten Geschichten
du himmelöffnend entgegentrittst und den Schlüssel trägst zu den
Wohnungen der Seligen, unendlicher Geheimnisse schweigender
Bote.

Chavali
04.05.2010, 06:39
....und natürlich

Rainer Maria Rilke

1875 - 1926

Abend

Der Abend wechselt langsam die Gewänder,
die ihm ein Rand von alten Bäumen hält;
du schaust: und von dir scheiden sich die Länder,
ein himmelfahrendes und eins, das fällt:

und lassen dich, zu keinem ganz gehörend,
nicht ganz so dunkel wie das Haus, das schweigt,
nicht ganz so sicher Ewiges beschwörend
wie das, was Stern wird jede Nacht und steigt -

und lassen dir (unsäglich zu entwirrn)
dein Leben bang und riesenhaft und reifend,
so daß es, bald begrenzt und bald begreifend,
abwechselnd Stein in dir wird und Gestirn.




...so melodisch, so poetisch - wunderbar :)

ginTon
04.05.2010, 19:29
ich schließe mich hier mal chavi an...muss erst einmal nach den übersetzungen schauen...

Der Träumer (R.M. Rilke)

I

Es war ein Traum in meiner Seele tief.
Ich horchte auf den holden Traum:
ich schlief.
Just ging ein Glück vorüber, als ich schlief,
und wie ich träumte, hört ich nicht:
es rief.


II

Träume scheinen mir wie Orchideen. -
So wie jene sind sie bunt und reich.
Aus dem Riesenstamm der Lebenssäfte
ziehn sie just wie jene ihre Kräfte,
brüsten sich mit dem ersaugten Blute,
freuen in der flüchtigen Minute,
in der nächsten sind sie tot und bleich. -
Und wenn Welten oben leise gehen,
fühlst du's dann nicht wie von Düften wehen?
Träume scheinen mir wie Orchideen. -

Chavali
20.05.2010, 16:41
Die Stadt

Am grauen Strand, am grauen Meer
und seitab liegt die Stadt;
der Nebel drückt die Dächer schwer,
und durch die Stille braust das Meer
eintönig um die Stadt.

Es rauscht kein Wald, es schlägt im Mai
kein Vogel ohn' Unterlass;
die Wandergans mit hartem Schrei
nur fliegt in Herbstesnacht vorbei,
am Strande weht das Gras.

Doch hängt mein ganzes Herz an dir,
du graue Stadt am Meer;
der Jugend Zauber für und für
ruht lächelnd doch auf dir, auf dir,
du graue Stadt am Meer.


Theodor Storm
14.September 1817 in Husum, +4.Juli 1888 in Hademarschen bei Rendsburg/Holstein

ginTon
21.05.2010, 13:15
.
.
Theodor Däubler (17.8.1876-13.6.1934)

Purpurschwere, wundervolle Abendruhe

Purpurschwere, wundervolle Abendruhe
Grüßt die Erde, kommt vom Himmel, liebt das Meer.
Tanzgestalten, rotgewandet, ohne Schuhe,
Kamen rasch, doch sie versinken mehr und mehr.

Furchtbar rot ist jetzt die Stunde. Wutentzündet
Drohen Panther. Grausamfunkelnd. Aufgebracht!
Dieser bleibt: ein Knabe reitet ihn und kündet
Holder Wunder tollen Jubel in die Nacht.

Nacht! der Abend, aller Scharlach mag verstrahlen.
Auch der Panther schleicht im Augenblick davon.
Aber folgt dem Knaben! Sacht, in schmalen Glutsandalen
Tanzt er nackt im alten Takt von Babylon.

Alle Flammen abgeschüttelt? Auf der Füße
Blassen Spitzen winkt und fiebert jetzt das Kind:
Weltentschwunden? Sterne sind die sichern Grüße
Stiller Keuschheit überm Meere, vor dem Wind!

[Das Nordlicht. Genfer Ausgabe. Leipzig : Insel Verlag 1921]
.
.

ginTon
17.06.2010, 23:22
Gerrit Engelke (21.10.1890-13.10.1918)

Schöpfung

Nicht Raum, nicht Zeit, nur Nacht und Nacht.
Nur Nacht, von Nacht noch überdacht.
Ein trächtig Sausen wogend schwoll –

Da! plötzlichgroß ein donnernd »Ich«! erscholl –
Da: Er! – Er saß in Nacht,
Und Er – Er war die Nacht.
Der Anfang war erwacht.
Er saß im Anfangsnacht-Getreibe
Mit schwangerem Hirn und Leibe,
Um Seinen Körper rauchte Schweiß.
Ein helles Strahlen ging aus Seinem Kopf –
Und wurde dicht und hell: zum Silber-Mond-Kreis,
Aus Seinen Augen fiel ein Lichtgetropf:
Und irrte wirr im Dunkel:
Sterngefunkel.

Da scholl es wieder fürchterlich:
Das All-Gebär-Gebrüll: »Ich«!
Da riß Er auf mit Händekrallen Seine Stirn:
Und offen lag in Dampf: das rote Feuer-Hirn!
Er riß ein Stück heraus:
Er ballte eine Kugel draus

Und hielt das Glühen in die Nacht,
Er hing es in den Braus:
Die Sonne war erwacht!

Ein Glühgezisch, das Funken sprühte,
Das heiß die schwere Nacht durchglühte,
Daß Mond und jeder Stern verblühte
Und alles Dunkel schwand.
Hochoben hing der Sonne-Brand.

Da riß Er mit den Händekrallen
Aus Seinem Leib das Alles-Herz!
Schrie »Ich«! und »Ich«! in Dampf und Schmerz –
Und ließ es in die Tiefe fallen –

Er ließ es in die Tiefe fallen
Und setzte Seinen Fuß darauf.
Und setzte Seinen Fuß auf diese Welt
Auf Seine, Seine Welt,
Von Sonne überhellt.

Zum Letzten rief er wieder »Ich«:
Gedehnt und väterlich beschließend,
Als erster Wohlklang aus Ihm fließend,
Und ließ ein Teilchen Zeugungs-Hirn aus Seiner Hand
Tief abwärts fallen auf das neue, runde Land:

Und da! und da: der Same quoll;
Ein Wesen, neues Wesen schwoll:
Und stieg – und stand auf dem Geroll: –
Der Mensch! der Mensch! der Mensch!

Der sah den All-Gebärer nicht!
Er sah das Licht, nur Licht und Licht!
Er hob ergriffen seine Hände hoch,
Ein schäumend Stammeln seinem Mund entflog,
Das große Leuchten bog
Seine Knie –

Da brach aus seinem Munde jäh ein Sang:
Voll Rausch, voll niegehörtem Urwelt-Klang:
Vom wilden Leben hochgeschwellt:
Hinauf! Hinauf!
Zum ersten Tag! Zum Ewig-Tag!
Zum Tag der Welt.

Chavali
18.06.2010, 18:43
Johann Wolfgang von Goethe

Der Fischer

Das Wasser rauscht', das Wasser schwoll,
Ein Fischer saß daran,
Sah nach der Angel ruhevoll,
Kühl bis ans Herz hinan.
Und wie er sitzt und wie er lauscht,
Teilt sich die Flut empor:
Aus dem bewegten Wasser rauscht
Ein feuchtes Weib hervor.

Sie sang zu ihm, sie sprach zu ihm:
"Was lockst du meine Brut
Mit Menschenwitz und Menschenlist
Hinauf in Todesglut?
Ach wüßtest du, wie's Fischlein ist
So wohlig auf dem Grund,
Du stiegst herunter, wie du bist,
Und würdest erst gesund.

Labt sich die liebe Sonne nicht,
Der Mond sich nicht im Meer?
Kehrt wellenatmend ihr Gesicht
Nicht doppelt schöner her?
Lockt dich der tiefe Himmel nicht.
Das feuchtverklärte Blau?
Lockt dich dein eigen Angesicht
Nicht her in ew'gen Tau?"

Das Wasser rauscht', das Wasser schwoll,
Netzt' ihm den nackten Fuß;
Sein Herz wuchs ihm so sehnsuchtsvoll
Wie bei der Liebsten Gruß.
Sie sprach zu ihm, sie sang zu ihm;
Da war's um ihn geschehn;
Halb zog sie ihn, halb sank er hin
Und ward nicht mehr gesehn.



(1779)

Dana
20.06.2010, 16:31
Ich dachte, ich hätte es längst gepostet, mein absolutes Lieblingsgedicht.
Es ist von Hermann Hesse und für mich ganz große Lyrik.
Ich kann in jeder Lebensphase auf den Inhalt Bezug nehmen und annehmen.

Das ist es:


Stufen

Wie jede Blüte welkt und jede Jugend
Dem Alter weicht, blüht jede Lebensstufe,
Blüht jede Weisheit auch und jede Tugend
Zu ihrer Zeit und darf nicht ewig dauern.
Es muß das Herz bei jedem Lebensrufe
Bereit zum Abschied sein und Neubeginne,
Um sich in Tapferkeit und ohne Trauern
In andre, neue Bindungen zu geben.
Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne,
Der uns beschützt und der uns hilft, zu leben.

Wir sollen heiter Raum um Raum durchschreiten,
An keinem wie an einer Heimat hängen,
Der Weltgeist will nicht fesseln uns und engen,
Er will uns Stuf' um Stufe heben, weiten.
Kaum sind wir heimisch einem Lebenskreise
Und traulich eingewohnt, so droht Erschlaffen,
Nur wer bereit zu Aufbruch ist und Reise,
Mag lähmender Gewöhnung sich entraffen.

Es wird vielleicht auch noch die Todesstunde
Uns neuen Räumen jung entgegen senden,
Des Lebens Ruf an uns wird niemals enden...
Wohlan denn, Herz, nimm Abschied und gesunde!

ginTon
20.06.2010, 18:42
ERNST WILHELM LOTZ (1890-1914)

Hart stoßen sich die Wände in den Straßen..

Hart stoßen sich die Wände in den Straßen,
Vorn Licht gezerrt, das auf das Pflaster keucht,
Und Kaffeehäuser schweben im Geleucht
Der Scheiben, hoch gefüllt mit wiehernden Grimassen.

Wir sind nach Süden krank, nach Fernen, Wind,
Nach Wäldern, fremd von ungekühlten Lüsten,
Und Wüstengürteln, die voll Sommer sind,
Nach weißen Meeren, brodelnd an besonnte Küsten.

Wir sind nach Frauen krank, nach Fleisch und Poren,
Es müßten Pantherinnen sein, gefährlich zart,
In einem wild gekochten Fieberland geboren.
Wir sind versehnt nach Reizen unbekannter Art.

Wir sind nach Dingen krank, die wir nicht kennen.
Wir sind sehr jung. Und fiebern noch nach Welt.
Wir leuchten leise. - Doch wir könnten brennen.
Wir suchen immer Wind, der uns zu Flammen schwellt.

Chavali
28.06.2010, 08:44
Theodor Storm (1817 - 1888)

Meeresstrand

Ans Haff nun fliegt die Möwe
und Dämmrung bricht herein;
über die feuchten Watten
spiegelt der Abendschein.

Graues Geflügel huschet
neben dem Wasser her;
wie Träume liegen die Inseln
im Nebel auf dem Meer.

Ich höre des gärenden Schlammes
geheimnisvollen Ton;
einsames Vogelrufen -
so war es immer schon.

Noch einmal schauert leise
und schweiget dann der Wind;
vernehmlich werden die Stimmen,
die über der Tiefe sind.

Dana
16.08.2010, 21:37
Oder dieses Lieblingsgedicht. Kennst du dach auch?


Kennst du das auch?

Kennst du das auch, dass manches Mal
Inmitten einer lauten Lust,
Bei einem Fest, in einem frohen Saal,
Du plötzlich schweigen und hinweggehn musst?

Dann legst du dich aufs Lager ohne Schlaf
Wie Einer, den ein plötzlich Herzweh traf;
Lust und Gelächter ist verstiebt wie Rauch,
Du weinst, weinst ohne Halt - Kennst du das auch?

(Hermann Hesse)

Justin
30.08.2010, 23:07
Ess ist gar nicht so einfach, sich für ein Lieblingsgedicht zu entscheiden, weil wir Viele ins Herz geschlossen haben. Dana erwähnt 2 Gedichte von Hermann Hesse, die auch bei mir ganz vorn stehen. In "Kennst Du das auch" erkenne ich mich sogar wieder. Chavali hat 2 Gedichte von Theodor Storm reingestellt und auch ich entscheide mich für ein Weiteres von ihm. Es sagt aus, daß man ganz gern mal in die Ferne schweift, Heimat aber ein elastischer Begriff ist. Darüber hinaus geht es um Freundschaft, die um so wertvoller ist, wenn sie erhalten bleibt.

An die Freunde

Wieder einmal ausgeflogen,
Wieder einmal heimgekehrt,
Fand ich doch die alten Freunde
Und die Herzen unversehrt.

Wird uns wieder wohl vereinen
Frischer Ost und frischer West?
Auch die losesten der Vögel
Tragen allgemach zu Nest.

Immer schwerer wird das Päckchen,
Kaum noch trägt es sich allein;
Und in immer engren Fesseln
Schlinget uns die Heimat ein.

Und an seines Hauses Schwelle
Wird ein jeder festgebannt;
Aber Liebesfäden spinnen
Heimlich sich von Land zu Land.

(Theodor Storm)

PS: Habe es mit der Schriftauszeichnung probiert, was leider nicht funktioniert hat. Die Überschrift sollte "fett" erscheinen.

Chavali
23.02.2011, 10:04
DAS darf nicht fehlen:

Der Panther
von R.M. RILKE

Sein Blick ist vom Vorübergehn der Stäbe
so müd geworden, daß er nichts mehr hält.
Ihm ist, als ob es tausend Stäbe gäbe
und hinter tausend Stäben keine Welt.

Der weiche Gang geschmeidig starker Schritte,
der sich im allerkleinsten Kreise dreht,
ist wie ein Tanz von Kraft um eine Mitte,
in der betäubt ein großer Wille steht.

Nur manchmal schiebt der Vorhang der Pupille
sich lautlos auf -. Dann geht ein Bild hinein,
geht durch der Glieder angespannte Stille -
und hört im Herzen auf zu sein.

Blaugold
23.04.2011, 11:34
Eines meiner Lieblingspoems kenne ich nur in Englisch, ich wage es nicht, es zu übersetzen, fürchte ich doch, irgendwelche Feinheiten zwischen den Zeilen vielleicht missverständlich zu interpretieren.

Es ist ein traditional aus West Afrika:

do not seek to much fame
but do not seek obscurity
be proud
but do not remind the world of your deeds
excel when you must
but do not excel the world
many heroes are not yet born
many have already died
to be be alive to here a song is a victory

Chavali
02.05.2011, 18:35
Sehr stimmungsvoll auch das hier:




Das Glück von Edenhall



von Ludwig Uhland


Von Edenhall der junge Lord
Läßt schmettern Festtrompetenschall,
Er hebt sich an des Tisches Bord
Und ruft in trunk'ner Gäste Schwall.
"Nun her mit dem Glücke von Edenhall!"

Der Schenk vernimmt ungern den Spruch,
Des Hauses ältester Vasall,
Nimmt zögernd aus dem seid'nen Tuch
Das hohe Trinkglas von Kristall,
Sie nennen's: Das Glück von Edenhall.

Darauf der Lord: "Dem Glas zum Preis
Schenk roten ein aus Portugal!"
Mit Händezittern gießt der Greis,
Und purpurn Licht wird überall,
Es strahlt aus dem Glücke von Edenhall.

Da spricht der Lord und schwingt's dabei:
"Dies Glas von leuchtendem Kristall
Gab meinen Ahn am Quell die Fei,
Drein schrieb sie: Kommt dies Glas zu Fall,
Fahr' wohl dann, o Glück von Edenhall!

Ein Kelchglas ward zum Los mit Flug
Dem freud'gen Stamm von Edenhall;
Wir schlürfen gern in vollem Zug,
Wir läuten gern mit lautem Schall;
Stoßt an mit dem Glücke von Edenhall!"

Erst klingt es milde, tief und voll,
Gleich dem Gesang der Nachtigall,
Dann wie des Waldstroms laut Geroll,
Zuletzt erdröhnt wie Donnerhall
Das herrliche Glück von Edenhall.

"Zum Horte nimmt ein kühn Geschlecht
Sich den zerbrechlichen Kristall;
Es dauert länger schon als recht,
Stoßt an, mit diesem kräft'gen Prall
Versuch' ich das Glück von Edenhall."

Und als das Trinkglas gellend springt,
Springt das Gewölb' mit jähem Knall,
Und aus dem Ritz die Flamme dringt;
Die Gäste sind zerstoben all'
Mir dem brechenden Glück von Edenhall.

Einstürmt der Feind mit Brand und Mord,
Der in der Nacht erstieg den Wall,
Vom Schwerte fällt der junge Lord,
Hält in der Hand noch den Kristall,
Das zersprungene Glück von Edenhall.

Am Morgen irrt der Schenk allein,
Der Greis, in der zerstörten Hall';
Er sucht des Herrn verbrannt Gebein,
Er sucht im grausen Trümmerfall
Die Scherben des Glücks von Edenhall.

"Die Steinwand," spricht er, "bricht zu Stück,
Die hohe Säule muß zu Fall,
Glas ist der Erde Stolz und Glück,
In Splitter fällt der Erdenball
Einst gleich dem Glücke von Edenhall."

Chavali
10.05.2011, 21:16
Nacht lag auf meinen Augen

Heinrich Heine (1797-1856)


Nacht lag auf meinen Augen,
Blei lag auf meinem Mund,
Mit starrem Hirn und Herzen
Lag ich im Grabesgrund.

Wie lang, kann ich nicht sagen,
Daß ich geschlafen hab;
Ich wachte auf und hörte,
Wie's pochte an mein Grab.

»Willst du nicht aufstehn, Heinrich?
Der ew'ge Tag bricht an,
Die Toten sind erstanden,
Die ew'ge Lus' begann.«

Mein Lieb, ich kann nicht aufstehn,
Bin ja noch immer blind;
Durch Weinen meine Augen
Gänzlich erloschen sind.

»Ich will dir küssen, Heinrich,
Vom Auge fort die Nacht;
Die Engel sollst du schauen,
Und auch des Himmels Pracht.«

Mein Lieb, ich kann nicht aufstehn,
Noch blutet's immerfort,
Wo du ins Herz mich stachest
Mit einem spitz'gen Wort.

»Ganz leise leg ich, Heinrich,
Dir meine Hand aufs Herz;
Dann wird es nicht mehr bluten,
Geheilt ist all sein Schmerz.«

Mein Lieb, ich kann nicht aufstehn,
Es blutet auch mein Haupt;
Hab ja hineingeschossen,
Als du mir wurdest geraubt.

»Mit meinen Locken, Heinrich,
Stopf ich des Hauptes Wund',
Und dräng zurück den Blutstrom
Und mache dein Haupt gesund.«

Es bat so sanft, so lieblich,
Ich konnt nicht widerstehn;
Ich wollte mich erheben
Und zu der Liebsten gehn.

Da brachen auf die Wunden,
Da stürzt' mit wilder Macht
Aus Kopf und Brust der Blutstrom,
Und sieh! - ich bin erwacht.

ginTon
11.05.2011, 17:23
habe ich eben gefunden und gelesen und fand es sehr gut..:)

Ballade von der wilden Welt
Richard Dehmel (1863-1920)

Schöne stille Seele
hatte einen Garten,
rings um den Dornheckenwerk
und Urwalddickicht starrten,
einen Blumengarten.

Schöne stille Seele
saß in ihrem Zelt,
bebte vor den Häßlichkeiten
oh der wilden Welt,
in ihrem seidnen Zelt.

Schöne stille Seele
sah gern Kolibris
durch die Blütenbüsche huschen
überm warmen Kies,
die goldnen Kolibris.

Und die bunten Schmetterlinge,
und die blanken Schlangen;
schöne stille Seele
sah sie gern im Dickicht prangen,
die sonneblanken Schlangen.

Sah auch gern die blauen Blitze
über den Wäldern jagen
und die fernen schneebedeckten
Kraterberge ragen;
schöne stille Seele!

Schöne stille Seele
erschrak auf einmal sehr:
durch das Dornwerk drang ein hoher
wilder Fremdling her.
Seele bebte sehr.

Fremder Weltumsegler,
ich saß so schön allein;
du wirst mich Schlange schelten,
dann werden wir häßlich sein.
Und stehst so schön allein.

Schöne stille Seele
könnt all das nicht sagen,
sah den Fremdling vor sich höher
als die Berge ragen;
könnt kaum Willkomm sagen.

Könnt ihn nur empfangen endlich,
Ihn - o wilde Welt -
Blitze, Blüten, Kolibris
jagten um ihr Zelt -
schöne wilde Welt! -

Thomas
12.05.2011, 16:48
Das Thema 'Lieblingsgedicht' ist eine tolle Idee. Und gleich zu Anfang 'Die Füße im Feuer', welches auch eines meiner Lieblingsgedichte ist! Aber welches ist das Lieblingsgedicht? Welches würde ich wählen, wenn ich nur ein einziges auswählen dürfte? Ich habe unter meinen vielen Lieblingen ein ganz einmaliges Gedicht gefunden. Zur Begründung sage ich später etwas.

Friedrich Schiller

Das Ideal und das Leben

Ewigklar und spiegelrein und eben
Fließt das zephyrleichte Leben
Im Olymp den Seligen dahin.
Monde wechseln, und Geschlechter fliehen;
Ihrer Götterjugend Rosen blühen
Wandellos im ewigen Ruin.
Zwischen Sinnenglück und Seelenfrieden
Bleibt dem Menschen nur die bange Wahl;
Auf der Stirn des hohen Uraniden
Leuchtet ihr vermählter Strahl.

Wollt ihr schon auf Erden Göttern gleichen,
Frei sein in des Todes Reichen,
Brechet nicht von seines Gartens Frucht!
An dem Scheine mag der Blick sich weiden;
Des Genusses wandelbare Freuden
Rächet schleunig der Begierde Frucht.
Selbst der Styx, der neunfach sie umwindet,
Wehrt die Rückkehr Ceres' Tochter nicht;
Nach dem Apfel greift sie, und es bindet
Ewig sie des Orkus Pflicht.

Nur der Körper eignet jenen Mächten,
Die das dunkle Schicksal flechten;
Aber frei von jeder Zeitgewalt,
Die Gespielin seliger Naturen,
Wandelt oben in des Lichtes Fluren
Göttlich unter Göttern die Gestalt.
Wollt ihr hoch auf ihren Flügeln schweben,
Werft die Angst des Irdischen von euch!
Fliehet aus dem engen, dumpfen Leben
In des Idealen Reich!

Jugendlich, von allen Erdenmalen
Frei, in der Vollendung Strahlen
Schwebet hier der Menschen Götterbild,
Wie des Lebens schweigende Phantome
Glänzend wandeln an dem styg'schen Strome,
Wie sie stand im himmlischen Gefild,
Ehe noch zum traur'gen Sarkophage
Die Unsterbliche herunter stieg.
Wenn im Leben noch des Kampfes Wage
Schwankt, erscheinet hier der Sieg.

Nicht vom Kampf die Glieder zu entstricken,
Den Erschöpften zu erquicken,
Wehet hier des Sieges duft'ger Kranz.
Mächtig, selbst wenn eure Sehnen ruhten,
Reißt das Leben euch in seine Fluten,
Euch die Zeit in ihren Wirbeltanz.
Aber sinkt des Mutes kühner Flügel
Bei der Schranken peinlichem Gefühl,
Dann erblicket von der Schönheit Hügel
Freudig das erflogne Ziel.

Wenn es gilt, zu herrschen und zu schirmen,
Kämpfer gegen Kämpfer stürmen
Auf des Glückes, auf des Ruhmes Bahn,
Da mag Kühnheit sich an Kraft zerschlagen
Und mit krachendem Getös die Wagen
Sich vermengen auf bestäubtem Plan.
Muth allein kann hier den Dank erringen,
Der am Ziel des Hippodromes winkt.
Nur der Starke wird das Schicksal zwingen,
Wenn der Schwächling untersinkt.

Aber der, von Klippen eingeschlossen,
Wild und schäumend sich ergossen,
Sanft und eben rinnt des Lebens Fluss
Durch der Schönheit stille Schattenlande,
Und auf seiner Wellen Silberrande
Malt Aurora sich und Hesperus.
Aufgelöst in zarter Wechselliebe,
In der Anmut freiem Bund vereint,
Ruhen hier die ausgesöhnten Triebe,
Und verschwunden ist der Feind.

Wenn, das Tote bildend zu beseelen,
Mit dem Stoff sich zu vermählen,
Tatenvoll der Genius entbrennt,
Da, da spanne sich des Fleißes Nerve,
Und beharrlich ringend unterwerfe
Der Gedanke sich das Element.
Nur dem Ernst, den keine Mühe bleichet,
Rauscht der Wahrheit tief versteckter Born;
Nur des Meißels schwerem Schlag erweichet
Sich des Marmors sprödes Korn.

Aber dringt bis in der Schönheit Sphäre,
Und im Staube bleibt die Schwere
Mit dem Stoff, den sie beherrscht, zurück.
Nicht der Masse qualvoll abgerungen,
Schlank und leicht, wie aus dem Nichts gesprungen,
Steht das Bild vor dem entzückten Blick.
Alle Zweifel, alle Kämpfe schweigen
In des Sieges hoher Sicherheit;
Ausgestoßen hat es jeden Zeugen
Menschlicher Bedürftigkeit.

Wenn ihr in der Menschheit traur'ger Blöße
Steht vor des Gesetzes Größe,
Wenn dem Heiligen die Schuld sich naht,
Da erblasse vor der Wahrheit Strahle
Eure Tugend, vor dem Ideale
Fliehe mutlos die beschämte Tat.
Kein Erschaffner hat dies Ziel erflogen;
Über diesen grauenvollen Schlund
Trägt kein Nachen, keiner Brücke Bogen,
Und kein Anker findet Grund.

Aber flüchtet aus der Sinne Schranken
In die Freiheit der Gedanken,
Und die Furchterscheinung ist entflohn,
Und der ew'ge Abgrund wird sich füllen;
Nehmt die Gottheit auf in euren Willen,
Und sie steigt von ihrem Weltenthron.
Des Gesetzes strenge Fessel bindet
Nur den Sklavensinn, des es verschmäht;
Mit des Menschen Widerstand verschwindet
Auch des Gottes Majestät.

Wenn der Menschheit Leiden euch umfangen,
Wenn Laokoon der Schlangen
Sich erwehrt mit namenlosem Schmerz,
Da empöre sich der Mensch! Es schlage
An des Himmels Wölbung seine Klage
Und zerreiße euer fühlend Herz!
Der Natur furchtbare Stimme siege,
Und der Freude Wange werde bleich,
Und der heil'gen Sympathie erliege
Das Unsterbliche in euch!

Aber in den heitern Regionen,
Wo die reinen Formen wohnen,
Rauscht des Jammers trüber Sturm nicht mehr.
Hier darf Schmerz die Seele nicht durchschneiden,
Keine Träne fließt hier mehr den Leiden,
Nur des Geistes tapfrer Gegenwehr.
Lieblich, wie der Iris Farbenfeuer
Auf der Donnerwolke duft'gem Tau,
Schimmert durch der Wehmut düstern Schleier
Hier der Ruhe heitres Blau.

Tief erniedrigt zu des Feigen Knechte,
Ging in ewigem Gefechte
Einst Alcid des Lebens schwere Bahn,
Rang mit Hydern und umarmt' den Leuen,
Stürzte sich, die Freunde zu befreien,
Lebend in des Todenschiffes Kahn.
Alle Plagen, alle Erdenlasten
Wälzt der unversöhnten Göttin List
Auf die will'gen Schultern des Verhassten -
Bis sein Lauf geendigt ist -

Bis der Gott, des Irdischen entkleidet,
Flammend sich vom Menschen scheidet
Und des Äthers leichte Lüfte trinkt.
Froh des neuen ungewohnten Schwebens,
Fließt er aufwärts, und des Erdenlebens
Schweres Traumbild sinkt und sinkt und sinkt.
Des Olympus Harmonien empfangen
Den Verklärten in Kronions Saal,
Und die Göttin mit den Rosenwangen
Reicht ihm lächelnd den Pokal.


Ich möchte noch zwei Briefstellen zitieren, die sich auf dieses Gedicht beziehen, weil sie recht gut beschreiben, warum ich das Gedicht so außerordentlich schön finde:

Wilhelm von Humboldt schrieb am 21.08.1795, unmittelbar nachdem er das Gedicht erhalten, an Schiller: 'Wie soll ich Ihnen, liebster Freund, für den unbeschreiblich hohen Genuss danken, den mir Ihr Gedicht gegeben hat? Es hat mich seit dem Tage, an dem ich es empfing, im eigentlichsten Verstande ganz besessen, ich habe nichts anderes gelesen, kaum etwas anderes gedacht,... solch einen Umfang und solch eine Tiefe der Ideen enthält es, und so fruchtbar ist es, woran ich vorzüglich das Gepräge des Genies erkenne, selbst wieder neue Ideen zu wecken.' Humboldt merkte auch an: 'Man muss' sich dieses Gedicht 'erst durch eine gewisse Anstrengung verdienen.'

Interessant ist auch, was Schiller am 30.11.1795 an Humboldt schrieb: 'Ich habe ernstlich im Sinne, da fortzufahren, wo das Ideal und das Leben aufhört... Über diesen Stoff hinaus gibt es keinen mehr für den Poeten, denn dieser darf die menschliche Natur nicht verlassen, und eben von diesem Übertritt des Menschen in den Gott würde diese Idylle handeln... Denken Sie Sich aber den Genuss, lieber Freund, in einer poetischen Darstellung alles Sterbliche ausgelöscht, lauter Licht, lauter Freiheit, lauter Vermögen... ich nehme meine ganze Kraft und den ganzen ätherischen Teil meiner Natur noch auf einmal zusammen, wenn er auch bei dieser Gelegenheit rein sollte aufgebraucht werden.'

Ganz allgemein finde ich Gedichte philosophischen Inhalts, oder Gedankengedichte, problematisch. Sie sind oft vergleichbar mit gereimten Gebrauchsanweisungen (Sie müssen erst den Nippel durch die Lasche ziehn...), welche im Grunde genommen keine Gedichte sind, weil sie mit Gefühlsruhe ihre Weisheit, von oben herab, in schönen Worten und schöner Form auf den Leser niedersinken lassen. Das besondere an Schillers Gedankengedichten ist, dass diese wirkliche Gedichte sind, weil sie die emotionale Bewegung, den kraftvollen Gedankenkampf, der mit der Erkenntnis der Idee notwendig einhergeht, zum Ausdruck bringen. Sie sind keine Beschreibung philosophischer Ideen an sich, sondern eine Folge mitreißender Metaphern, die dem Leser helfen, diese Ideen zu begreifen. Das schönste und tiefste dieser Gedankengedichte ist meiner Meinung nach 'Das Ideal und das Leben'. Schade, dass Schiller das im Brief erwähnte Idyll nicht mehr verwirklichen konnte.

Viele Grüße
Thomas

Stimme der Zeit
14.05.2011, 22:03
Gotthold Ephraim Lessing

Die Küsse


Der Neid, o Kind,
Zählt unsre Küsse:
Drum küss' geschwind
Ein Tausend Küsse;
Geschwind du mich,
Geschwind ich dich!
Geschwind, geschwind,
O Laura, küsse
Manch Tausend Küsse:
Damit er sich
Verzählen müsse.


Mir gefällt die fröhliche Unbeschwertheit dieses kleinen Werkes. :)

Stimme der Zeit
27.05.2011, 16:46
Das kannte ich noch gar nicht, aber ich finde es großartig, ironisch-bissig und tiefsinnig, der "feinsinnige" Humor Morgensterns gefällt mir einfach.

Christian Morgenstern:

Ballade

Auf der Teichwies' waren heut'
sonderbare Brüder,
sangen, sprangen um die Wett'
zu 'nes Alten Fiedel:
Goldfuchs, rund und blank, juchhe!
Schürze, zart und weiß wie Schnee,
Flasche grau wie Asche.


Sang der Goldfuchs: Alles dreht
sich um mich früh und spät!
Rum-didl-dum,
rum-didl-dautz,
bum bum bum bautz.


Sang die Schürze: Alles dreht
sich um mich früh und spät!
Rum-didl-dum,
rum-didl-dautz,
bum bum bum bautz.


Sang die Flasche: Alles dreht
sich um mich früh und spät!
Rum-didl-dum,
rum-didl-dautz,
bum bum bum bautz.


Warf der Alt' die Fiedel weg,
kriegt den Fuchs zu fassen,
schickt' ihn wie 'nen Schlitterstein
weit hinaus aufs Wasser,
griff die Schürze, steckt sie ein
zwischen Ripp' und Gürtel,
warf die leere Flasch' zu Boden,
dass sie gell zerklirrte;
wandte sich, das Buschwerk schlug
hinter ihm zusammen:
aber lang noch hört man ihn
fernher brummen: Alles dreht
sich um mich früh und spät!
Rum-didl-dum,
rum-didl-dautz,
bum bum bum bautz.

Der Mensch: Geld, Sex und Alkohol ... ;)

Chavali
27.05.2011, 17:16
Theodor Storm


Die Nachtigall


Das macht, es hat die Nachtigall
Die ganze Nacht gesungen;
Da sind von ihrem süßen Schall,
Da sind in Hall und Widerhall
Die Rosen aufgesprungen.


Sie war doch sonst ein wildes Blut;
Nun geht sie tief in Sinnen,
Trägt in der Hand den Sommerhut
Und duldet still der Sonne Glut
Und weiß nicht, was beginnen.


Das macht, es hat die Nachtigall
Die ganze Nacht gesungen;
Da sind von ihrem süßen Schall,
Da sind in Hall und Widerhall
Die Rosen aufgesprungen.


DAS hätte ich gern schreiben wollen ;)

a.c.larin
01.06.2011, 05:40
hallo chavali,

ein feines gedicht!
doch ich wette, wenn storm das heutzutage so in ein lyrik-forum eingestellt hätte, dann gäbe es bestimmt auch harsche kritik:

du fängst mehrere zeilen mit "und" an....
die fängst mehrmals mit "da" und "die" an - wie eintönig!
an manchen stellen ist die syntax ist verwirrend....

was ich damit sagen will?
wir heutigen dichter haben es ungleich schwerer, irgendwelchen ansprüchen zu genügen - weil wir beständig auf dem podium der ganzen welt auftreten und uns rechtfertigen müssen.

in manche dingen war "die gute alte zeit" wirklich besser.
unserer digitale welt ermöglicht einen viel rascheren gedankenaustausch -
das ist einerseits nützlich und geradezu phänomenal,
andererseits aber auch verheerend, weil sich unausgegorenes dadurch genau so rasch verbreitet.
die "klimaerwärmung" schreitet also auch mental voran - allein schon durch das tempo , das wir allesamt drauf haben.

vielleicht ist es ja das, was wir in diesen altengedichten (noch) finden :

they are cooled down!

ihre innere ruhe fasziniert uns. :)
aber anders sind "hall und widerhall" eben auch nicht wahrnehmbar.

liebe grüße,
larin

ginTon
01.06.2011, 22:39
.
Mondbeglänzte Zaubernacht,
Die den Sinn gefangen hält,
Wundervolle Märchenwelt,
Steig auf in der alten Pracht.

(Ludwig Tieck, 1773-1853)



ein Gedicht aus der Romantik darf nie fehlen :)...


eine anmerkung noch @larin, dass ist ein thread ausschließlich
für Gedichte oder habe ich da jetzt was falsch verstanden :confused:...

Stimme der Zeit
23.06.2011, 19:25
Otto Erich Hartleben, (1864–1905)

Liebe und Lyrik

Der Liebe Lust in Liedern auszuklagen,
scheint heutzutag dem Dichter fast verwehrt.
Was könnt er Neues auch den Leuten sagen:
so mancher hat uns schon sein Glück beschert.
Glaubt einer gar der Liebe Leid zu tragen,
lässt er uns sicherlich nicht unversehrt:
Herz reimt noch stets auf Schmerz, auf Liebe Triebe –
ich reimte mit Genuss auf beide – Hiebe!

So weiss denn selbst der traurigste Philister:
die Liebe sei so eine Himmelsmacht;
in illustrierten Wochenblättern liest er,
dass man sich oft sogar drum umgebracht.
Ein Kenner aller Leidenschaften ist er,
wer ihm nichts Neues bringt, wird ausgelacht:
kurz, was die Lieb angeht – er ist au fait:
es lässt sich nichts mehr machen drin. O weh!

Und ist man nun aus purem Pech ein Dichter,
dems schlecht behagt, den andern nachzutreten,
dems nicht genügt, nur manchmal neue Lichter
zu pflanzen vor ein Bild, zu dem sie beten –
so wird man fluchen auf das Reimgelichter,
das auch den schönsten Brei schon breitgetreten,
und wird, obwohl die Sache etwas schwierig,
die Liebe gänzlich streichen aus der Lyrik.

Wie hass ich jene, die naiv wie Thiere
ihr Lieben schmatzend beichten – ekelhaft!
Unreinem Ohre bei unechtem Biere!
Doch ist nicht schlimmer noch die Leidenschaft,
auf unverhülltem, feilem Druckpapiere
schamlos zu künden, was uns Freuden schafft?
Drum Heil dem Dichter, der mit sich gerungen
und als ein Held zum schweigen sich bezwungen!

___________________
(Ich habe eine Schwäche für humorvolle Werke ...;):))

Dana
24.06.2011, 20:50
Gemartert

Ein gutes Tier
Ist das Klavier,
Still, friedlich und bescheiden,
Und muß dabei
Doch vielerlei
Erdulden und erleiden.
Der Virtuos
Stürzt darauf los
Mit hochgesträubter Mähne.
Er öffnet ihm
Voll Ungestüm
Den Leib, gleich der Hyäne.
Und rasend wild,
Das Herz erfüllt
Von mörderlicher Freude,
Durchwühlt er dann,
Soweit er kann,
Des Opfers Eingeweide.
Wie es da schrie,
Das arme Vieh,
Und unter Angstgewimmer
Bald hoch, bald tief
Um Hilfe rief
Vergess' ich nie und nimmer.

(Wilhelm Busch, 1832 - 1908)

Chavali
05.07.2011, 08:26
Hallo zusammen,


zunächst ein Wort an larin:ein feines gedicht!
doch ich wette, wenn storm das heutzutage so in ein lyrik-forum eingestellt hätte, dann gäbe es bestimmt auch harsche kritik:

du fängst mehrere zeilen mit "und" an....
die fängst mehrmals mit "da" und "die" an - wie eintönig!
an manchen stellen ist die syntax ist verwirrend....

was ich damit sagen will?
wir heutigen dichter haben es ungleich schwerer, irgendwelchen ansprüchen zu genügen - weil wir beständig auf dem podium der ganzen welt auftreten und uns rechtfertigen müssen.Sehr gut gesagt!
Von daher denke ich, dass wir sehr gut (mnachmal jedenfalls:D) mithalten können...!

nun ein Wort an ginnie:eine anmerkung noch @larin, dass ist ein thread ausschließlich
für Gedichte oder habe ich da jetzt was falsch verstanden :confused:.So war es natürlich gedacht, aber wer will dem anderen verwehren, eine Meinung zu äußern?
Das kann doch nur willkommen sein, solange sie sich im Thema bewegt.

Also alles gut :)


LG Chavali

P.S.
Im nächsten Post findet ihr ein weiteres Lieblingsgedicht :)

Chavali
05.07.2011, 08:28
Meeresstrand



von Theodor Storm
Ans Haff nun fliegt die Möwe,
Und Dämmrung bricht herein;
Über die feuchten Watten
Spiegelt der Abendschein.

Graues Geflügel huschet
Neben dem Wasser her;
Wie Träume liegen die Inseln
Im Nebel auf dem Meer.

Ich höre des gärenden Schlammes
Geheimnisvollen Ton,
Einsames Vogelrufen -
So war es immer schon.

Noch einmal schauert leise
Und schweiget dann der Wind;
Vernehmlich werden die Stimmen,
Die über der Tiefe sind.

Stimme der Zeit
26.07.2011, 06:09
Friedrich von Hagedorn
(* 23.04.1708 , † 28.10.1754)


Aurelius und Beelzebub

Es wird Aurel, der nichts, als Armuth, scheut,
Zum Mammonsknecht, zum Harpax unsrer Zeit.
Ihm ist der Klang von vielen todten Schätzen
Ein Saitenspiel, das Zählen ein Ergötzen.
Oft schläft der Thor, noch hungrig und mit Pein,
Vom Hüten matt, auf vollen Säcken ein;
Denn Geld und Geiz nimmt täglich bei ihm zu;
Geld ist sein Trost, sein Leben, seine Ruh′,
Sein Herr, sein Gott. Stets nagt ein scharfer Neid
Sein blutend Herz. Jüngst mehrt′ ein vielfach Leid
Des Wuchrers Qual und Unzufriedenheit.

Der Wittwen Fluch? Beraubter Waisen Ach?
Die Reue? Nein. Dergleichen Kleinigkeit
Gibt Reichen jetzt kein großes Ungemach.
Was wichtigers: Zu spät erfolgte Renten,
Ein drohender Protest, zu wenige Procenten,
Ein viel zu mildes Jahr, der zu fürwitz′ge Zoll.
Dies alles füllt sein Herz mit Unmuth, Zorn und Groll.
Er wird zuletzt verzweiflungsvoll.

Als er so großer Noth zu peinlich nachgedacht,
Ruft der Unsinnige sogar in einer Nacht
Den Satan an, und Satan schickt ihm gleich
Den größten Herrn aus seinem Reich,
Der jetzt, den Alten zu berücken,
In einer neuen Tracht erschien,
Wol zehnmal schöner, als wir ihn
In den Gemälden oft erblicken,
Wo ihm die Augen funkelnd glühn,
Und Hörner seine Stirne schmücken.
Er hatte weder Schweif noch Klauen,
Der Hölle zaubernde Gewalt
Gab ihm die menschliche Gestalt,
Und keinem durfte vor ihm grauen.
Er überkam, nach unsrer Stutzer Art,
Ein schönes leeres Haubt, ein wohl gepudert Haar,
Wobei zugleich dem Kinnchen ohne Bart
Ein Flügelwerk von Band, anstatt des Schattens, war.
Er selbst, wie seine Pracht, war ohne Fehl und Tadel,
Und Herr und Kleid von gleichem Adel.

Nur ließ man ihm (so lautet der Bericht)
Den einen Pferdefuß. Warum? Das weiß ich nicht.
Er war ja sonst, ohn′ allen Zweifel,
Ein hübscher, recht galanter Teufel.

Bald fand der karge Greis den längst gesuchten Rath,
Als dieser Cavalier zu ihm ins Zimmer trat.

Mein Herr, wie heißen Sie? ... Beelzebub ... Willkommen!
Der Oberste der Teufel? ... Ja ...
Ich hatt′ es nicht in Acht genommen,
Weil ich noch nicht auf dero Füße sah.
Sie setzen sich ... Wie geht es in der Höllen? ...
Wie lebt mein reicher Oheim da? ...
Recht wie ein Fürst.. Und wie befindet sich
Der Lucifer? ... Ich bitte dich,
Die Complimente einzustellen.
Dich reich zu machen, komm′ ich hier.
Ich bin dein Retter. Folge mir.

Sein Führer bringet ihn in einen öden Wald
Von heiligen bemoosten alten Eichen,
Den Sitz des Czernebocks, der Gnomen Aufenthalt,
Die Schlachtbank vieler Opferleichen.
Hier herrscht, fast tausend Jahr′, ein schwarzer wilder Schrecken
In grauser Finsterniß. Den unwirthbaren Sitz
Verklärt, doch selten nur, ein rother schneller Blitz.
Hier sollte sich der Trost Aurels entdecken.
Hier blieb der Fliegenfürst und sein Gefährte stehn.
Er stampft dreimal: dreimal erbebt der Grund:
Es öffnet sich ein lichter, tiefer Schlund,
Und läßt im Augenblick so große Baarschaft sehn,
Als würde fast der Reichthum aller Welt,
Hier an Geschmeid′ und Gold, den Augen dargestellt.
Sieh′, spricht der Höllengeist, auf diesem Platz
Liegt ein Geschenk für dich, der Schatz.

Wie wird der Filz durch dieses Wort entzückt!
Kein ird′sches Paradies scheint ihm so schön geschmückt,
So reich an innerm Werth. Kein Thumherr, kein Prälat,
Der seiner Pfründe Zins in Rheinwein vor sich hat,
Kein Bischof, der erfreut, an einem Kirchweihfest,
Das erste Glas besieht, das er sich reichen läßt,
Weiß mit so merklichem, doch wohlbefugtem, Sehnen
Sein fromm und fett Gesicht durch Lächeln auszudehnen.
Er streckt frohlockend aus die hoffnungsreiche Hand.
Wiewol, o harter Zwang! Glück voller Unbestand!
Halt, ruft Beelzebub, dies ist dir zwar gegeben,
Allein vor morgen nicht zu heben.

Der Schatz versinkt auf dieses Donnerwort.
Gestrenger Herr! wie kurz ist meine Freude!
Betrogener Aurel! wie findest du den Ort?
Den Busch? die Kluft? den Schatz? ... Er ist und bleibet dein.
Betrogen! Was? Ich ein Betrüger? ... Nein ....
Sei klug, und laß ein Zeichen dort,
Und nimm dir, wann es tagt, das Gold und das Geschmeide.

Gleich setzt er tiefgebückt sich und ein Zeichen hin.
Er jauchzt mit neuvergnügtem Sinn,
Und sagt aufs zierlichste mit vielen Worten Dank.
Beelzebub verschwand, standsmäßig mit Gestank.
Es springt Aurel um den bemerkten Platz,
Als ob er seinen Fund schon hätte;
Doch stößt er sich an einen Baum.
Aurel erwacht, (denn alles war ein Traum)
Und von dem vorgestellten Schatz
Bleibt nur das Zeichen in dem Bette.

Es ist der Geiz der Teufel vieler Alten,
Und der Beelzebub, der lockend sie bethört.
Ihr ungebrauchter Schatz ist aber nicht mehr werth,
Als was Aurel allhier erhalten.

.

Stimme der Zeit
07.09.2011, 13:06
Ich halte die Stellung;), diesmal mit Kurt Tucholsky (1928):



Ehekrach

»Ja –!«

»Nein –!«

»Wer ist schuld?

Du!«

»Himmeldonnerwetter, laß mich in Ruh!« –

»Du hast Tante Klara vorgeschlagen!

Du läßt dir von keinem Menschen was sagen!

Du hast immer solche Rosinen!

Du willst bloß, ich soll verdienen, verdienen –

Du hörst nie. Ich red dir gut zu ...

Wer ist schuld –?

Du.«

»Ja.«

»Nein.«



– »Wer hat den Kindern das Rodeln verboten?

Wer schimpft den ganzen Tag nach Noten?

Wessen Hemden muß ich stopfen und plätten?

Wem passen wieder nicht die Betten?

Wen muß man vorn und hinten bedienen?

Wer dreht sich um nach allen Blondinen?

Du –!«



»Nein.«

»Ja.«

»Wem ich das erzähle ... !

Ob mir das einer glaubt –!«

»Und überhaupt –!«

»Und überhaupt –!«

»Und überhaupt –!«



Ihr meint kein Wort von dem, was ihr sagt:

Ihr wißt nicht, was euch beide plagt.

Was ist der Nagel jeder Ehe?

Zu langes Zusammensein und zu große Nähe.



Menschen sind einsam. Suchen den andern.

Prallen zurück, wollen weiter wandern ...

Bleiben schließlich ... Diese Resignation:

Das ist die Ehe. Wird sie euch monoton?

Zankt euch nicht und versöhnt euch nicht:

Zeigt euch ein Kameradschaftsgesicht

und macht das Gesicht für den bösen Streit

lieber, wenn ihr alleine seid.



Gebt Ruhe, ihr Guten! Haltet still.

Jahre binden, auch wenn man nicht will.

Das ist schwer: ein Leben zu zwein.

Nur eins ist noch schwerer: einsam sein.
.

Odiumediae
09.09.2011, 09:40
Späte Sonnen
Wolf Graf von Kalckreuth (1887–1906)

Der Puls des Lebens ist der Nachmittag,
Wann sich die Sonnenlichter seltsam färben
Und wir betäubt in gelber Glut ersterben
Im schweren Gold, dem unser Herz erlag.

Ein spätes Flimmern ruht auf Laub und Hag,
Die langsam uns verzehren und verderben.
Und wie ein edler Wein aus dunklen Scherben
Rinnt unser Blut, das nichts mehr hemmen mag.

O laß den Schlummer nicht die Lider schließen,
Daß nicht der trunknen Klarheit stummes Fließen
Dein Herz durchdringt, das fremde Wunder schaut!

Die Strahlen brennen und ihr Gift ist tödlich:
O harre aus, bis dämmerhaft und rötlich
Der Abend auf die blassen Bäume taut.

Erich Kykal
09.09.2011, 10:30
Stiller Freund der vielen Fernen, fühle,
wie dein Atem noch den Raum vermehrt.
Im Gebälk der finstern Glockenstühle
lass dich läuten. Das, was an dir zehrt,

wird ein Starkes über dieser Nahrung.
Geh in der Verwandlung aus und ein.
Was ist deine leidenste Erfahrung?
Ist dir Trinken bitter, werde Wein.

Sei in dieser Nacht aus Übermaß
Zauberkraft am Kreuzweg deiner Sinne,
ihrer seltsamen Begegnung Sinn.

Und wenn dich das Irdische vergaß,
zu der stillen Erde sag: Ich rinne.
Zu dem raschen Wasser sprich: Ich bin.

Dana
10.09.2011, 21:00
Und noch ein Schönes: :)


Herbsttag

Herr: es ist Zeit. Der Sommer war sehr groß.
Leg deinen Schatten auf die Sonnenuhren,
und auf den Fluren laß die Winde los.

Befiehl den letzten Früchten voll zu sein;
gieb ihnen noch zwei südlichere Tage,
dränge sie zur Vollendung hin und jage
die letzte Süße in den schweren Wein.

Wer jetzt kein Haus hat, baut sich keines mehr.
Wer jetzt allein ist, wird es lange bleiben,
wird wachen, lesen, lange Briefe schreiben
und wird in den Alleen hin und her
unruhig wandern, wenn die Blätter treiben.

Rainer Maria Rilke

Stimme der Zeit
11.09.2011, 16:43
.
Heinrich Heine (1797-1856)

Die Wanderratten

Es gibt zwei Sorten Ratten:
Die hungrigen und satten.
Die satten bleiben vergnügt zu Haus,
Die hungrigen aber wandern aus.

Sie wandern viel tausend Meilen,
Ganz ohne Rasten und Weilen,
Gradaus in ihrem grimmigen Lauf,
Nicht Wind noch Wetter hält sie auf.

Sie klimmen wohl über die Höhen,
Sie schwimmen wohl durch die Seen;
Gar manche ersäuft oder bricht das Genick,
Die lebenden lassen die toten zurück.

Es haben diese Käuze
Gar fürchterliche Schnäuze;
Sie tragen die Köpfe geschoren egal,
Ganz radikal, ganz rattenkahl.

Die radikale Rotte
Weiß nichts von einem Gotte.
Sie lassen nicht taufen ihre Brut,
Die Weiber sind Gemeindegut.

Der sinnliche Rattenhaufen,
Er will nur fressen und saufen,
Er denkt nicht, während er säuft und frißt,
Daß unsre Seele unsterblich ist.

So eine wilde Ratze,
Die fürchtet nicht Hölle, nicht Katze;
Sie hat kein Gut, sie hat kein Geld
Und wünscht aufs neue zu teilen die Welt.

Die Wanderratten, o wehe!
Sie sind schon in der Nähe.
Sie rücken heran, ich höre schon
Ihr Pfeifen - die Zahl ist Legion.

O wehe! wir sind verloren,
Sie sind schon vor den Toren!
Der Bürgermeister und Senat,
Sie schütteln die Köpfe, und keiner weiß Rat.

Die Bürgerschaft greift zu den Waffen,
Die Glocken läuten die Pfaffen.
Gefährdet ist das Palladium
Des sittlichen Staats, das Eigentum.

Nicht Glockengeläute, nicht Pfaffengebete,
Nicht hochwohlweise Senatsdekrete,
Auch nicht Kanonen, viel Hundertpfünder,
Sie helfen euch heute, ihr lieben Kinder!

Heut helfen euch nicht die Wortgespinste
Der abgelebten Redekünste.
Man fängt nicht Ratten mit Syllogismen,
Sie springen über die feinsten Sophismen.

Im hungrigen Magen Eingang finden
Nur Suppenlogik mit Knödelgründen,
Nur Argumente von Rinderbraten,
Begleitet mit Göttinger Wurstzitaten.

Ein schweigender Stockfisch, in Butter gesotten,
Behaget den radikalen Rotten
Viel besser als ein Mirabeau
Und alle Redner seit Cicero.
.

Erich Kykal
07.10.2011, 21:07
Ohne Sorgfalt, was die Nächsten dächten,
die er müde nichtmehr fragen hieß,
ging er wieder fort, verlor, verließ -.
Denn er hing an solchen Reisenächten
anders als an jeder Liebesnacht.
Wunderbare hatte er durchwacht,
die mit starken Sternen überzogen
enge Fernen auseinanderbogen
und sich wandelten wie eine Schlacht;

andre, die mit in den Mond gestreuten
Dörfern, wie mit hingehaltnen Beuten,
sich ergaben, oder durch geschonte
Parke graue Edelsitze zeigten,
die er gerne in dem hingeneigten
Haupte einen Augenblick bewohnte,
tiefer wissend, daß man nirgends bleibt;
und schon sah er bei dem nächsten Biegen
wieder Wege, Brücken, Länder liegen
bis an Städte, die man übertreibt.

Und dies alles immer unbegehrend
hinzulassen, schien ihm mehr als seines
Lebens Lust, Besitz und Ruhm.
Doch auf fremden Plätzen war ihm eines
täglich ausgetretnen Brunnensteines
Mulde manchmal wie ein Eigentum.

Stimme der Zeit
08.10.2011, 20:57
J. W. Goethe, Sonette, II:

Freundliches Begegnen

Im weiten Mantel bis an's Kinn verhüllet,
Ging ich den Felsenweg, den schroffen, grauen,
Hernieder dann zu winterhaften Auen,
Unruh'gen Sinns, zur nahen Flucht gewillet.

Auf einmal schien der neue Tag enthüllet:
Ein Mädchen kam, ein Himmel anzuschauen,
So musterhaft wie jene lieben Frauen
Der Dichterwelt: Mein Sehnen war gestillet.

Doch wandt' ich mich hinweg und ließ sie gehen
Und wickelte mich enger in die Falten,
Als wollt' ich trutzend in mir selbst erwarmen;

Und folgt ihr doch. Sie stand. Da war's geschehen!
In meiner Hülle konnt' ich mich nicht halten;
Die warf ich weg, sie lag in meinen Armen.

Chavali
09.10.2011, 13:15
THEODOR STORM





Oktoberlied

Der Nebel steigt, es fällt das Laub;
Schenk ein den Wein, den holden!
Wir wollen uns den grauen Tag
Vergolden, ja vergolden!
Und geht es draußen noch so toll,
Unchristlich oder christlich,
Ist doch die Welt, die schöne Welt,
So gänzlich unverwüstlich!
Und wimmert auch einmal das Herz -
Stoß an und laß es klingen!
Wir wissen's doch, ein rechtes Herz
Ist gar nicht umzubringen.
Der Nebel steigt, es fällt das Laub;
Schenk ein den Wein, den holden!
Wir wollen uns den grauen Tag
Vergolden, ja vergolden!
Wohl ist es Herbst; doch warte nur,
Doch warte nur ein Weilchen!
Der Frühling kommt, der Himmel lacht,
Es steht die Welt in Veilchen.
Die blauen Tage brechen an,
Und ehe sie verfließen,
Wir wollen sie, mein wackrer Freund,
Genießen, ja genießen!

Erich Kykal
09.10.2011, 14:28
Wie hab ich das gefühlt, was Abschied heißt.
Wie weiß ich's noch: ein dunkles unverwundnes
grausames Etwas, das ein Schönverbundnes
noch einmal zeigt und hinhält und zerreißt.

Wie war ich ohne Wehr, dem zuzuschauen,
das, da es mich, mich rufend, gehen ließ,
zurückblieb, so als wären's alle Frauen
und dennoch klein und weiß und nichts als dies:

Ein Winken, schon nicht mehr auf mich bezogen,
ein leise Weiterwinkendes - , schon kaum
erklärbar mehr: vielleicht ein Pflaumenbaum,
von dem ein Kuckuck hastig abgeflogen.

Chavali
10.10.2011, 09:33
Heinrich Heine

In der Fremde



Es treibt dich fort von Ort zu Ort,
Du weißt nicht mal warum;
Im Winde klingt ein sanftes Wort,
Schaust dich verwundert um.

Die Liebe, die dahinten blieb,
Sie ruft dich sanft zurück:
O komm zurück, ich hab dich lieb,
Du bist mein einz'ges Glück!

Doch weiter, weiter, sonder Rast,
Du darfst nicht stillestehn;
Was du so sehr geliebet hast,
Sollst du nicht wiedersehn.

2

Du bist ja heut so grambefangen,
Wie ich dich lange nicht geschaut!
Es perlet still von deinen Wangen,
Und deine Seufzer werden laue.

Denkst du der Heimat, die so ferne,
So nebelferne dir verschwand?
Gestehe mir's, du wärest gerne
Manchmal im teuren Vaterland.

Denkst du der Dame, die so niedlich
Mit kleinem Zürnen dich ergötzt?
Oft zürntest du, dann ward sie friedlich,
Und immer lachtet ihr zuletzt.

Denkst du der Freunde, die da sanken
An deine Brust, in großer Stund'?
Im Herzen stürmten die Gedanken,
Jedoch verschwiegen blieb der Mund.

Denkst du der Mutter und der Schwester?
Mit beiden standest du ja gut.
Ich glaube gar, es schmilzt, mein Bester,
In deiner Brust der wilde Mut!

Denkst du der Vögel und der Bäume
Des schönen Gartens, wo du oft
Geträumt der Liebe junge Träume,
Wo du gezagt, wo du gehofft?

Es ist schon spät. Die Nacht ist helle,
Trübhell gefärbt vom feuchten Schnee.
Ankleiden muß ich mich nun schnelle
Und in Gesellschaft gehn. O weh!

3

Ich hatte einst ein schönes Vaterland.
Der Eichenbaum
Wuchs dort so hoch, die Veilchen nickten sanft.
Es war ein Traum.

Das küßte mich auf deutsch, und sprach auf deutsch
(Man glaubt es kaum,
Wie gut es klang) das Wort: »Ich liebe dich!«
Es war ein Traum.

Stimme der Zeit
13.10.2011, 20:36
Novalis - Georg Friedrich Philipp Freiherr von Hardenberg
* 2. Mai 1772; † 25. März 1801


Der Teufel

Ein loser Schalk, in dessen Beutel
Es just nicht allzu richtig stand,
Und der den Spruch, dass leider alles eitel
Auf unserm Runde ist, nur zu bestätigt fand,
Zog einst voll Spekulationen
In eine Stadt en migniatur,
Und schlug an jedes Tor und an die Rathaustür
Ein Avertissement mit vielen Worten schier,
Er werde heut in den Drei Kronen
Um fünf Uhr nachmittags den Teufel jedermann
Vom Ratsherrn bis zum Bettelmann
Für zwanzig Kreuzer präsentieren
Und ohne ihn bevor erst herzukommandieren.
Was Beine hatte, lief zum großen Wundermann,
Und überall war eine Weihnachtsfreude;
Der Bürgermeister schrieb mit Kreide
Den Tag an seiner Türe an,
Und jeder Ratsherr kam mit einem Galakleide
Und einer knotigen Perücke angetan,
Und will das Wunder sehn; auch mancher Handwerksmann
Kam hübsch bedächtlich angeschlichen
Und gab die Kreuzer hin, die er den Tag gewann.
Ein Schneider nur ging nicht zum Wundersmann
Und sprach: "Ich seh umsonst den Teufel alle Tage
In meiner jungen Frau zu meiner größten Plage,
Und der ist toller fürwahr als der beim Wundersmann."
Als endlich männiglichen
Der Held sich mit dem leeren Beutel zeigt
Und erst mit wichtger Miene schweigt
Und dann geheimnisvoll nur wenig Worte saget
Und seine Auditoren fraget,
Ob auch kein Atheist in der Versammlung sei,
Erstieg die Trunkenheit der blöden Phantasei
Den Gipfel, und der Schalk beginnt die Gaukelei.
Nach manchem hocus-pocus ziehet
Der Schalk den Beutel auf und jeglicher bemühet
Sich sehr den Leidigen zu sehn, doch jeder siehet
Nichts auf der Welt–; ein junger Taugenichts,
Der näher stand, ein bel esprit, voll Zweifel
Wie mancher Kandidat, beginnt: "Ich seh ja nichts."
"Das eben", rief der Schalk, "das eben ist der Teufel."
.

Erich Kykal
14.10.2011, 20:00
Die Einsamkeit ist wie ein Regen.
Sie steigt vom Meer den Abenden entgegen;
von Ebenen, die fern sind und entlegen,
geht sie zum Himmel, der sie immer hat.
Und erst vom Himmel fällt sie auf die Stadt.

Regnet hernieder in den Zwitterstunden,
wenn sich nach Morgen wenden alle Gassen
und wenn die Leiber, welche nichts gefunden,
enttäuscht und traurig voneinander lassen;
und wenn die Menschen, die einander hassen,
in einem Bett zusammen schlafen müssen:

dann geht die Einsamkeit mit den Flüssen...

Stimme der Zeit
18.10.2011, 06:35
Rochus Otto Manderup Heinrich zu Lynar

Alma - IV. Missverständnis

Ich bin enttäuscht! Der Schleier ist geschwunden. —
So wie nach einer sturmbewegten Nacht
Der frühe Tag ein grausam' Licht gebracht,
Dem Scheiternden sein Unglück zu bekunden:

So ist in wenig grauenvollen Stunden
Mein höchstes Gut, das ich mir treu gedacht,
Verloren, Hölle, mir durch deine Macht
Und aufgelöst, was Liebe jüngst verbunden.

So nimm mein Glück, so nimm mein ganzes Hoffen!
Ja, damals sah ich wohl den Himmel offen,
Als Liebe mir die Himmelsweihe gab:

Nun aber, da erloschen meine Sterne,
Irr' ich dahin zum Ziel' in dunkler Ferne?
Lebendig-tot durch dieses Erdengrab. —

Stimme der Zeit
23.10.2011, 21:21
Hans Aßmann von Abschatz
(1646–1699)


[Thorheit ists/ daß unsre Zeit soll in Furcht und Angst verflüssen]

Thorheit ists/ daß unsre Zeit soll in Furcht und Angst verflüssen/
Besser ists in Freud und Lust der bestimmten Frist genüssen/
Nimm die Stunden willig an/
Die dir Gott und Glücke schencken/
Warum soll dich heute kräncken
Was sich morgen ändern kan?

Laß das ernste Sauersehn/ laß die eingezogne Stirne/
Laß den ausgehangnen Mund/ laß die Grillen im Gehirne/
Laß die Mucken um das Haubt
Biß ins Alter seyn verschoben/
Biß sich allgemach von oben
Kopff und Hals zum Grabe schraubt.

Laß der alten Weisen Schaar frey und ohnbewegt erscheinen/
Laß den tollen Heraclit gantze Thränen-Ströme weinen.
Menschen die empfindlich seyn
Halten mehr von Schertz und Lachen;
Sich vergebens traurig machen
Gehet ja wohl bitter ein.

Wir an Beutel/ Weib und Ort/ Zeit und Zustand ungebunden/
Brauchen billig/ weil es geht/ unsrer Jugend freye Stunden/
Was bringts einem Kargen ein/
Wenn er noch so reich an Schätzen:
Also/ was kan ohn Ergötzen
Unser bestes Leben seyn?

Rosen/ die der Sommer giebt/ kan man nicht im Winter pflücken/
Freude/ so die Jugend hegt/ kan das Alter nicht erquicken/
Wenn des siechen Leibes Hauß
Sich zum schnellen Falle neiget/
Wenn der Lebens-Strom verseiget/
Glutt und Hitze dämpffen aus.

Drum laßt uns den edlen Schatz der erlaubten Zeit gebrauchen
Eh die Kräffte noch in uns/ eh noch Marck und Blutt verrauchen.
Last uns dieses Tages Schein/
Der sich offte noch soll finden/
Dich mit Freuden anzubinden/
Frey und froh und freudig seyn.

Unter Freunden eine Lust kan uns kein Gesetze wehren/
Wer weiß/ was das Glücke noch ein- und andern kan bescheren.
Ey so geht es Sorgen-bloß
Auff die unverzehrten Gütter
Unsrer lieben Schwieger-Mütter/
Bruder/ im Vertrauen loß.

Chavali
24.10.2011, 15:35
Theodor Fontane (http://www.literaturwelt.com/autoren/fontane.html)

(http://www.literaturwelt.com/autoren/fontane.html)
Die Brücke am Tay


"Wann treffen wir drei wieder zusamm'?"
"Um die siebente Stund', am Brückendamm."
"Am Mittelpfeiler."
"Ich lösch die Flamm'."
"Ich mit."
"Ich komme vom Norden her."
"Und ich vom Süden."
"Und ich vom Meer."

"Hei, das gibt ein Ringelreihn,
und die Brücke muß in den Grund hinein."
"Und der Zug, der in die Brücke tritt
um die siebente Stund'?"
"Ei, der muß mit."
"Muß mit."
"Tand, Tand
ist das Gebild von Menschenhand."

Auf der Norderseite, das Brückenhaus -
alle Fenster sehen nach Süden aus,
und die Brücknersleut', ohne Rast und Ruh
und in Bangen sehen nach Süden zu,
sehen und warten, ob nicht ein Licht
übers Wasser hin "ich komme" spricht,
"ich komme, trotz Nacht und Sturmesflug,
ich, der Edinburger Zug."

Und der Brückner jetzt: "Ich seh einen Schein
am andern Ufer. Das muß er sein.
Nun, Mutter, weg mit dem bangen Traum,
unser Johnie kommt und will seinen Baum,
und was noch am Baume von Lichtern ist,
zünd alles an wie zum heiligen Christ,
der will heuer zweimal mit uns sein, -
und in elf Minuten ist er herein."

Und es war der Zug. Am Süderturm
keucht er vorbei jetzt gegen den Sturm,
und Johnie spricht: "Die Brücke noch!
Aber was tut es, wir zwingen es doch.
Ein fester Kessel, ein doppelter Dampf,
die bleiben Sieger in solchem Kampf,
und wie's auch rast und ringt und rennt,
wir kriegen es unter: das Element.

Und unser Stolz ist unsre Brück';
ich lache, denk ich an früher zurück,
an all den Jammer und all die Not
mit dem elend alten Schifferboot;
wie manche liebe Christfestnacht
hab ich im Fährhaus zugebracht
und sah unsrer Fenster lichten Schein
und zählte und konnte nicht drüben sein."

Auf der Norderseite, das Brückenhaus -
alle Fenster sehen nach Süden aus,
und die Brücknersleut' ohne Rast und Ruh
und in Bangen sehen nach Süden zu;
denn wütender wurde der Winde Spiel,
und jetzt, als ob Feuer vom Himmel fiel,
erglüht es in niederschießender Pracht
überm Wasser unten... Und wieder ist Nacht.

"Wann treffen wir drei wieder zusamm'?"
"Um Mitternacht, am Bergeskamm."
"Auf dem hohen Moor, am Erlenstamm."
"Ich komme."
"Ich mit."
"Ich nenn euch die Zahl."
"Und ich die Namen."
"Und ich die Qual."
"Hei!
Wie Splitter brach das Gebälk entzwei."
"Tand, Tand
ist das Gebilde von Menschenhand."

Stimme der Zeit
24.10.2011, 19:36
Liebe Chavi,

ich wollte nur anmerken, dass ich diese Ballade auch gut kenne. Die dichterische Umsetzung des realen Zugunglückes in der poetischen Verbindung mit den drei Hexen (als Kritik am technischen Fortschritt) hat mich beim Lesen immer wieder fasziniert.

Nur ein kurzes Feedback und ein Danke fürs Einstellen! :)

Liebe Grüße

Stimme http://www.smilies.4-user.de/include/Teufel/smilie_devil_006.gif

Stimme der Zeit
30.10.2011, 21:18
.
Barthold Hinrich Brockes
(1680-1747)

Die Welt ist allezeit schön

Im Frühling prangt die schöne Welt
In einem fast smaragdnen Schein.
Im Sommer glänzt das reife Feld
Und scheint dem Golde gleich zu sein.

Im Herbste sieht man als Opalen
Der Bäume bunte Blätter strahlen.

Im Winter schmückt ein Schein, wie Diamant
Und reines Silber, Flut und Land.

Ja kurz, wenn wir die Welt aufmerksam sehn,
Ist sie zu allen Zeiten schön.
.

Chavali
08.11.2011, 14:12
Liebe Stimme,

DEN Dichter hab ich jetzt mal gegogelt :)
Ein Literat, der nicht allgemein bekannt ist - oder hab ich da eine Bildungslücke?
Wie dem auch sei - seine Naturdichtung gefällt mir.


Hier mal noch eines meiner Lieblinge:

Theodor Fontane


Alles still!

Alles still! Es tanzt den Reigen
Mondenstrahl in Wald und Flur,
Und darüber thront das Schweigen
Und der Winterhimmel nur.

Alles still! Vergeblich lauschet
Man der Krähe heisrem Schrei.
Keiner Fichte Wipfel rauschet,
Und kein Bächlein summt vorbei.

Alles still! Die Dorfeshütten
Sind wie Gräber anzusehn,
Die, von Schnee (http://www.gedichte.levrai.de/wintergedichte.htm) bedeckt, inmitten
Eines weiten Friedhofs stehn.

Alles still! Nichts hör ich klopfen
Als mein Herze (http://www.gedichte.levrai.de/Herz_Gedichte.htm) durch die Nacht (http://www.gedichte.levrai.de/dunkle_gedichte_nachtgedichte.htm)
Heiße Tränen niedertropfen
Auf die kalte Winterpracht.


(kopiert aus http://www.gedichte.levrai.de/gedichte_von/fontane_theodor_fontane_gedichte.htm )



Und nun sagt:
Lesen wir nicht von unseren Gegewartsdichtern nicht auch Ähnliches...? ;)

Stimme der Zeit
08.11.2011, 18:44
Nein, liebe Chavi,

du hast keine "Bildungslücke", sonst hätte ich auch eine. ;) Über Gedicht (und Dichter) bin ich, ehrlich gesagt, "zufällig gestolpert". Aber ich finde, auch die "Unbekannteren" haben durchaus etwas zu bieten - mir gefiel der Vergleich der Natur und ihrer Farben mit Edelsteinen und Edelmetallen. Denn Natur ist eine Kostbarkeit! :)

Was dein Gedicht von Theodor Fontane betrifft:

Und nun sagt:
Lesen wir nicht von unseren Gegewartsdichtern nicht auch Ähnliches...? ;)

Wo du recht hast, hast du recht. :)

Liebe Grüße

Stimme http://www.smilies.4-user.de/include/Teufel/smilie_devil_006.gif

Stimme der Zeit
09.11.2011, 18:40
Johann Christoph Friedrich von Schiller (* 10. November 1759 in Marbach am Neckar, Württemberg; † 9. Mai 1805 in Weimar, Sachsen-Weimar)

Anlässlich seines Geburtstages möchte ich heute eines seiner Werke hier einstellen:


Die Macht des Gesanges

Ein Regenstrom aus Felsenrissen,
Er kommt mit Donners Ungestüm,
Bergtrümmer folgen seinen Güssen,
Und Eichen stürzen unter ihm;
Erstaunt mit wolllustvollem Grausen,
Hört ihn der Wanderer und lauscht,
Er hört die Flut vom Felsen brausen,
Doch weiß er nicht, woher sie rauscht:
So strömen des Gesanges Wellen
Hervor aus nie entdeckten Quellen.

Verbündet mit den furchtbarn Wesen,
Die still des Lebens Faden drehn,
Wer kann des Sängers Zauber lösen,
Wer seinen Tönen widerstehn?
Wie mit dem Stab des Götterboten
Beherrscht er das bewegte Herz,
Er taucht es in das Reich der Todten,
Er hebt es staunend himmelwärts,
Und wiegt es zwischen Ernst und Spiele
Auf schwanker Leiter der Gefühle.

Wie wenn auf einmal in die Kreise
Der Freude, mit Gigantenschritt,
Geheimnißvoll nach Geisterweise,
Ein ungeheures Schicksal tritt;
Da beugt sich jede Erdengröße
Dem Fremdling aus der andern Welt,
Des Jubels nichtiges Getöse
Verstummt, und jede Larve fällt,
Und vor der Wahrheit mächt’gem Siege
Verschwindet jedes Werk der Lüge:

So rafft von jeder eiteln Bürde,
Wenn des Gesanges Ruf erschallt,
Der Mensch sich auf zur Geisterwürde
Und tritt in heilige Gewalt;
Den hohen Göttern ist er eigen,
Ihm darf nichts Irdisches sich nahn,
Und jede andre Macht muß schweigen,
Und kein Verhängnis fällt ihn an;
Es schwinden jedes Kummers Falten,
Solang des Liedes Zauber walten.

Und wie nach hoffnungslosem Sehnen,
Nach langer Trennung bitterm Schmerz,
Ein Kind mit heißen Reuethränen
Sich stürzt an seiner Mutter Herz:
So führt zu seiner Jugend Hütten,
Zu seiner Unschuld reinem Glück,
Vom fernen Ausland fremder Sitten
Den Flüchtling der Gesang zurück,
In der Natur getreuen Armen
Von kalten Regeln zu erwarmen.


(Das Bild wurde zur Verfügung gestellt von: w w w.altebilder.net/ (Leerzeichen entfernen). Der Betreiber bat lediglich darum, dem Bild einen Hinweis auf die Quelle hinzuzufügen.)

Friedhelm Götz
17.11.2011, 08:07
Christian Morgenstern gehört schon seit meiner Jugendzeit zu meinen Lieblingsautoren, und ich habe schon damals mit grotesken Gedichten versucht, auf Morgensterns Pfaden zu wandeln. Daraus entstand dann auch mal eine Rundfunksendung im damaligen Süddeutschen Rundfunk mit dem Titel "Flöhezimt und Morgenstern", gesprochen von Hanns Dieter Hüsch.

Hier nun als besonderes Schmankerl die wenig bekannte Legende "Das Vermächtnis" von Christian Morgenstern, gesprochen von Hanns Dieter Hüsch:

Das Vermächtnis - eine Legende von Christian Morgenstern (http://www.friedhelmgoetz.de/hdh/Legende-01.mp3)

Wer nur oder auch lesen will:

Das Vermächtnis
eine Legende von Christian Morgenstern

Es war um die Zeit, da der Affe zum Menschen wurde. Und am Vorabend seiner Menschwerdung versammelte der Affe noch einmal alle Tiere der Erde um sich, um von ihnen Abschied zu nehmen. "Morgen will ich Mensch werden, sprach er wehmütig zu ihnen, und ihr werdet mich alle verlassen und meiden, und ein Kampf wird entstehen zwischen meinem Samen und eurem Samen."

"Jawoll, ein Kampf!" brüllte der Löwe.
"Du willst mehr werden als wir!" brummte das Nashorn.
"Das wirst du büßen müssen!" wiederholte giftig der Floh.
"Lassen wir das!" sagte mit einem Anflug unbeschreiblicher Müdigkeit der Affe,
und feiern wir heute noch ein Fest des Friedens und der Freude miteinander.
"So sei es!" riefen die Tiere und drängten sich gutmütig und wohlwollend um den scheidenden Bruder und fragten ihn, ob sie ihm nicht noch etwas Liebes tun oder mitgeben könnten.
Da ward dem Affen noch trübseliger zumute, und er setzte sich unter eine Palme und fing jämmerlich an zu schluchzen. Ein tiefes Mitleid ging durch die weichen Tierherzen.
"Wir wollen den Armen trösten", begann endlich das Schaf und schritt allen voran auf den Weinenden zu.
Lange sah das Schaf dem Affen in die Augen, und dann sprach es: "Trage mein Bild stets in deinem Herzen, so wird es sein, als ob ich mit und in dir weiterlebte."
Dem Schaf folgte das Kamel, sah dem Affen tief in die Augen und sagte das gleiche zu ihm.
Und herzu traten der Ochs, der Esel, das Schwein, der Pfau, die Gans, der Tiger, der Wolf, die Hyäne und viele andere Tiere, und jedes sah dem Affen tief in die Augen und sprach feierlich zu ihm: "Trage mein Bild stets in deiner Seele, so wird es sein, als ob ich mit dir weiterlebte."
Die letzen, die herantraten, waren der Löwe, der Adler und die Schlange.

Der Affe konnte vor Abgespanntheit kaum mehr aus den Augen schauen, und als die Schlange sich verabschiedet hatte, sank er sofort in tiefen Schlaf. Aber wirre und schreckliche Träume ängstigten ihn, und gegen Morgengrauen erhob er sich im Halbschlummer von seinem Lager und tastete sich zur nahen Quelle.
Mit Augen, deren Schleier klares Bewusstsein noch nicht zu zerreißen vermochte, blickte er in den Wasserspiegel, der, leicht bewegt, sein Bild wiedergab.
Wie sah er aus! Da schwamm auf zitternden Wellen das Bild des einfältigen Schafes - oder - nein! Es war das hässliche Kamel, das mit arroganten Zügen aus den Wogen ihn anstarrte. Mit einem Male schien es der blutrünstige Tiger, als den er sich in den Fluten sah, und kaum, dass er genauer hingespäht, war es ein Pfau, der ihm sein eitles Rad entgegenschlug.
Endlich brach ein Sonnenstrahl durch die Bäume, und der Affe erwachte aus seinem traumhaften Zustande. Verwundert rieb er sich die Augen und wollte sogleich den nächsten Baumriesen empor, als sein Blick von ungefähr in die Quelle fiel. Da erkannte er, dass er über Nacht Mensch geworden war. Und Adam zog aus, bis dass er Eva fand und verbreitete sein Geschlecht über die ganze Erde.

Chavali
21.11.2011, 08:42
NAIVE ROMANTIK?





Ich und Du





Wir träumten voneinander
und sind davon erwacht.
Wir leben, um uns zu lieben,
und sinken in die Nacht.

Du tratst aus meinem Traume,
aus deinem trat ich hervor.
Wir sterben, wenn sich eines
im anderen ganz verlor.

Auf einer Lilie zittern
zwei Tropfen, rein und rund.
Zerfließen in eins und rollen
hinab in des Kelches Grund







- Friedrich Hebbel-




************************************************** *

Stimme der Zeit
23.11.2011, 19:12
Kurt Tucholsky (1919)


Einkäufe

Was schenke ich dem kleinen Michel
zu diesem kalten Weihnachtsfest?
Den Kullerball? Den Sabberpichel?
Ein Gummikissen, das nicht näßt?
...............Ein kleines Seifensiederlicht?
...............Das hat er noch nicht. Das hat er noch nicht!

Wähl ich den Wiederaufbaukasten?
Schenk ich ihm noch mehr Schreibpapier?
Ein Ding mit schwarzweißroten Tasten;
ein patriotisches Klavier?
...............Ein objektives Kriegsgericht?
...............Das hat er noch nicht. Das hat er noch nicht!

Schenk ich den Nachttopf ihm auf Rollen?
Schenk ich ein Moratorium?
Ein Sparschwein, kugelig geschwollen?
Ein Puppenkrematorium?
...............Ein neues gescheites Reichsgericht?
...............Das hat er noch nicht. Das hat er noch nicht!

Ach, liebe Basen, Onkels, Tanten –
Schenkt ihr ihm was. Ich find es kaum.
Ihr seid die Fixen und Gewandten,
hängt ihrs ihm untern Tannenbaum.
...............Doch schenkt ihm keine Reaktion!
...............Die hat er schon. Die hat er schon!

Stimme der Zeit
29.12.2011, 12:13
.
Zum 85. Todestag von Rainer Maria Rilke:



Der Tod des Dichters

Er lag. Sein aufgestelltes Antlitz war
bleich und verweigernd in den steilen Kissen,
seitdem die Welt und dieses von ihr Wissen,
von seinen Sinnen abgerissen,
zurückfiel an das teilnahmslose Jahr.

Die, so ihn leben sahen, wußten nicht,
wie sehr er eines war mit allem diesen,
denn dieses: diese Tiefen, diese Wiesen
und diese Wasser waren sein Gesicht.

O sein Gesicht war diese ganze Weite,
die jetzt noch zu ihm will und um ihn wirbt;
und seine Maske, die nun bang verstirbt,
ist zart und offen wie die Innenseite
von einer Frucht, die an der Luft verdirbt.
.

Chavali
30.12.2011, 08:05
Theodor Fontane
(1819 - 1898)

192. Geburtstag am 30.12.





Alles still!



Alles still! Es tanzt den Reigen
Mondenstrahl in Wald und Flur,
Und darüber thront das Schweigen
Und der Winterhimmel nur.


Alles still! Vergeblich lauschet
Man der Krähe heisrem Schrei.
Keiner Fichte Wipfel rauschet,
Und kein Bächlein summt vorbei.


Alles still! Die Dorfeshütten
Sind wie Gräber anzusehn,
Die, von Schnee bedeckt, inmitten
Eines weiten Friedhofs stehn.


Alles still! Nichts hör ich klopfen
Als mein Herze durch die Nacht
Heiße Tränen niedertropfen
Auf die kalte Winterpracht.




************************************************** *****************

Ein neues Buch, ein neues Jahr
was werden die Tage bringen?
Wirds werden, wie es immer war,
halb scheitern, halb gelingen?
Ich möchte leben, bis all dies Glühn
rücklässt einen leuchtenden Funken.
Und nicht vergeht, wie die Flamm im Kamin,
die eben zu Asche gesunken.


************************************************** ******************************

Chavali
03.01.2012, 09:33
Theodor Storm

Weihnachtabend 1852

Die fremde Stadt durchschritt ich sorgenvoll,
Der Kinder denkend, die ich ließ zu Haus.
Weihnachten war's; durch alle Gassen scholl
Der Kinderjubel und des Markts Gebraus.

Und wie der Menschenstrom mich fortgespült,
Drang mir ein heiser Stimmlein in das Ohr:
»Kauft, lieber Herr!« Ein magres Händchen hielt
Feilbietend mir ein ärmlich Spielzeug vor.


Ich schrak empor, und beim Laternenschein
Sah ich ein bleiches Kinderangesicht;
Wes Alters und Geschlechts es mochte sein,
Erkannt ich im Vorübertreiben nicht.


Nur von dem Treppenstein, darauf es saß,
Noch immer hört ich, mühsam, wie es schien:
»Kauft, lieber Herr!« den Ruf ohn Unterlaß;
Doch hat wohl keiner ihm Gehör verliehn.


Und ich? - War's Ungeschick, war es die Scham,
Am Weg zu handeln mit dem Bettelkind?
Eh meine Hand zu meiner Börse kam,
Verscholl das Stimmlein hinter mir im Wind.


Doch als ich endlich war mit mir allein,
Erfaßte mich die Angst im Herzen so,
Als säß mein eigen Kind auf jenem Stein
Und schrie nach Brot, indessen ich entfloh.






~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~


Bei diesem Gedicht habe ich schon als Kind bittere Tränen vergossen :(


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Stimme der Zeit
21.01.2012, 21:40
Heute hatte ich ein wenig "Balsam" nötig, daher ein Gedicht von Eduard Mörike, das mich immer wieder zum Schmunzeln bringt:


Lose Ware

»Tinte! Tinte, wer braucht? Schön schwarze Tinte verkauf ich!«
Rief ein Büblein gar hell Straßen hinauf und hinab.
Lachend traf sein feuriger Blick mich oben im Fenster,
Eh ich michs irgend versah, huscht er ins Zimmer herein.
Knabe, dich rief niemand! – »Herr, meine Ware versucht nur!«
Und sein Fäßchen behend schwang er vom Rücken herum.
Da verschob sich das halbzerissene Jäckchen ein wenig
An der Schulter und hell schimmert ein Flügel hervor.
Ei, laß sehen, mein Sohn, du führst auch Federn im Handel?
Amor, verkleideter Schelm! soll ich dich rupfen sogleich?
Und er lächelt, entlarvt, und legt auf die Lippen den Finger:
»Stille! Sie sind nicht verzollt – stört die Geschäfte mir nicht!
Gebt das Gefäß, ich füll es umsonst, und bleiben wir Freunde!«
Dies gesagt und getan, schlüpft er zur Türe hinaus. –
Angeführt hat er mich doch: denn will ich was Nützliches schreiben,
Gleich wird ein Liebesbrief, gleich ein Erotikon draus.

(1837)

Chavali
02.02.2012, 18:56
Der Bau der Marienkirche zu Lübeck



Theodor Storm 1817 - 1888

Eine Sage

Im alten heiligen Lübeck
Ward eine Kirche gebaut
Zu Ehren der Jungfrau Maria,
Der hohen Himmelsbraut.

Doch als man den Bau begonnen,
Da hatt es der Teufel gesehn;
Der glaubte, an selbiger Stelle
Ein Weinhaus würde erstehn.

Draus hat er manch arme Seele
Sich abzuholen gedacht
Und drum das Werk gefördert
Ohn Rasten Tag und Nacht.

Die Maurer und der Teufel,
Die haben zusammen gebaut;
Doch hat ihn bei der Arbeit
Kein menschlich Aug geschaut.

Drum, wie sich die Kellen rührten,
Es mochte keiner verstehn,
Daß in so kurzen Tagen
So großes Werk geschehn.

Und als sich die Fenster wölben,
Der Teufel grinset und lacht,
Daß man in einer Schenke
So Tausende Scheiben macht.

Doch als sich die Bogen wölben,
Da hat es der Teufel durchschaut,
Daß man zu Gottes Ehren
Eine Kirche hier erbaut.

Da riß er in seinem Grimme
Einen Fels von Bergeswand
Und schwingt sich hoch in Lüften,
Von männiglich erkannt.

Schon holt er aus zum Wurfe
Aufs heilige Prachtgebäu; -
Da tritt ein Maurergeselle
Hervor getrost und frei:

»Herr Teufel, wollt nichts Dummes
Begehen in der Hast!
Man hat ja sonst vernommen,
Daß Ihr Euch handeln laßt!«

»So bauet«, schrie der Teufel,
»Ein Weinhaus nebenan,
Daß ich mein Werken und Mühen
Nicht schier umsonst getan.« -

Und als sie's ihm gelobet,
So schleudert er den Stein,
Auf daß sie dran gedächten,
Hart in den Grund hinein. -

Drauf, als der Teufel entfahren,
Ward manches liebe Jahr
Gebaut noch, bis die Kirche
Der Jungfrau fertig war.

Dann ist dem Teufel zu Willen
Der Ratsweinkeller erbaut,
Wie man ihn noch heutzutage
Dicht neben der Kirche schaut.

So stehen Kirch und Keller
In traulichem Verein;
Die frommen Herrn zu Lübeck,
Die gehen aus und ein.

Sie beten wohl da droben,
Da drunten trinken sie,
Und für des Himmels Gaben
Da droben danken sie.

Und trinken sie da drunten,
Sie denken wohl dabei:
Dem selbst der Teufel dienet,
Wer fröhlich, fromm und frei.


;););)

eva
10.06.2012, 17:30
ich steure mal meins bei:


Mondnacht

Es war, als hätt' der Himmel
Die Erde still geküsst,
Dass sie im Blütenschimmer
Von ihm nun träumen müsst'.

Die Luft ging durch die Felder,
Die Ähren wogten sacht,
Es rauschten leis' die Wälder,
So sternklar war die Nacht.

Und meine Seele spannte
Weit ihre Flügel aus,
Flog durch die stillen Lande,
Als flöge sie nach Haus.



Joseph von Eichendorff

Chavali
09.10.2012, 19:06
Am Birkenbaum

Ferdinand Freiligrath






Der junge Jäger am Waldrand saß,
am Waldrand auf der Haar.
Wie Blut schon die Blätter, gebleicht das Gras,
doch der Himmel sonnig und klar.
Er sprach: Die Bracken ziehn sich zur Möhne!
Vergebens mich auf den Fuchs gefreut!
Fern, immer ferner des Hornes Töne –
Kein Schuß mehr fällt auf dem Brandholz heut!
Ob ich nach nur schlendre? Den Teufel auch!
Ich lob mir im Sonnenschein
das Eckchen hier am Wacholderstrauch
und den grauen, moosigen Stein!
Drauf streck ich mich aus, den nehm ich zum Polster,
an die Buche lehn ich mein Doppelgewehr!
Und nun aus dem Dichterwinkel der Holster,
mein Jagdgenosse, mein Byron, komm her! –
Und er nimmt seinen Weidsack und langt sie herfür,
die ihn öfters begleitete schon,
die höchst unwürd'ge auf Löschpapier,
die Zwickauer Edition.
Den Mazeppa hat er sich aufgeschlagen:
Muß sehn, ob ich's deutsch nur reimen kann!
Mögen immer die andern lachen und sagen:
Ha, ha, der lateinische Jägersmann!
Er liest – er sinnt – nun schreibt er sich's auf;
nun scheint er so recht im Fluß –
Da nimmt er vor Freuden den Doppellauf
und tut in die Luft einen Schuß.
So hat er es lange Stunden getrieben,
ein närrischer Kauz, ein Stück Poet,
bis ihm, mit Bleistift flott geschrieben,
ein saubrer Anfang im Taschenbuch steht.
Er reibt sich die Hände – Und nun nach Haus!
Zwei Stunden noch hab ich zu gehn;
nur ein einzig Mal noch hinab und hinaus
in die Ebene will ich spähn;
will mir Schimmer und Duft in die Seele saugen,
daß sie Freude noch und zu zehren hat,
wenn mir wieder die fernedurstigen Augen
auf Wochen einengt die graue Stadt.
Da liegt sie finster mit Türmen und Wall,
die mich lehren soll den Erwerb,
die mich grämlich sperrt in der Prosa Stall,
und Dichten heißt Zeitverderb!
Wenn ich manchmal nicht auf den Rappen müßte,
hätt ich manchmal nicht einen Jagdtag frei,
einen Tag wie heut – Schwerenot, ich wüßte
keinen Rat meiner heimlichen Reimerei!
Da liegt sie – herbstlicher Duft ihr Kleid –
in der Abendsonne Brand!
Und hinter ihr, endlos, meilenweit,
das leuchtende Münsterland!
Ein Blitz wie Silber – das ist die Lippe!
Links hier des Hellwegs goldene Au!
Und dort zur Rechten, überm Gestrüppe,
das ist meines Osnings dämmerndes Blau!
Eine Fläche das! So, denk ich mir, war
die Flur, die Mazeppa durchsprengt!
Oder jene, drauf der russische Zar
den schwedischen Karl gedrängt!
Zwar – milder und üppiger ist die Börde,
doch wir haben auch Heidegrund und Moor
und wilden Busch auf der roten Erde –
Ob auch hier schon wer eine Schlacht verlor?
- So denkt er, und hat es laut wohl gesagt;
da tritt ein Mann auf ihn zu:
Ein Bauer – und wenn ihr mehr noch fragt:
Der Hüter einer Kuh.
Die langen Glieder umhüllt ein schlichter
Leinrock, das bläuliche Auge sticht,
die Lippe zuckt – so tritt er zum Dichter,
so lächelt er seltsamlich und spricht:
2

Guten Abend, Herr! Ob man Schlachten schlug
in der Ebene dort – fürwahr,
ich hab's nicht erfahren! Lest nach im Buch!
Mich kümmert wenig, was war!
Ich schaue nur aus nach den künftigen Tagen –
So spricht vom Haarstrang der alte Hirt:
Eine Schlacht wohl sah ich dort unten schlagen,
doch eine, die man erst schlagen wird!
Ich habe sie dreimal mit angesehn!
Oh, öd ist die Haar bei Nacht!
Ich aber muß auf vom Bette stehn –
Dann hat es mich hergebracht!
Just, Herr, wo Ihr steht – just hier auf den Felsen,
da hat es mich Sträubenden hingestellt!
Und hätt ich gewandt mich mit hundert Hälsen,
doch hätt ich hinabschaun müssen ins Feld!
Und ich sah hinab und ich sah genau –
da schwammen Äcker in Blut!
Da hing's an den Ähren wie roter Tau,
und der Himmel war eine Glut!
Um die Höfe sah ich die Flamme wehen,
und die Dörfer brannten wie dürres Gras:
Es war, als hätt ich die Welt gesehen
durch Höhrauch oder durch farbig Glas!
Und zwei Heere, zahllos wie Blätter im Busch,
hieben wild aufeinander ein;
das eine, mit hellem Trompetentusch,
zog heran in der Richtung vom Rhein.
Das waren die Völker des Westens, die Freien!
Bis zum Haarweg scholl ihrer Pferde Gewiehr,
und voraus flog ihren unendlichen Reihen
im Rauche des Pulvers ein rot Panier!
Rot, Rot, Rot! Das einige Rot!
Kein prunkendes Wappen drauf!
Das trieb sie hinein in den jauchzenden Tod,
das band sie, das hielt sie zuhauf!
Das warf sie entgegen den Sklaven aus Osten,
die, das Banner bestickt mit wildem Getier,
unabsehbar über die Fläche tosten
auf das dröhnende, zitternde Kampfrevier.
Und ich wußte – doch hat es mir keiner gesagt! –,
das ist die letzte Schlacht,
die der Osten gegen den Westen wagt
um den Sieg und um die Macht!
Das ist der Knechtschaft letztes Verenden!
Das ist, wie nie noch ein Würfel fiel
aus der Könige kalten, bebenden Händen,
der letzte Wurf in dem alten Spiel!
Denn dies ist die Schlacht um den Birkenbaum! –
Und ich sah seinen weißen Stamm,
und er stand und regte die Blätter kaum,
denn sie waren schwer und klamm!
Waren klamm von Blut, das der blutige Reigen
an die zitternden wild in die Höhe gespritzt;
und so stand er mit traurig hangenden Zweigen,
von Kartätschen und springenden Bomben umblitzt.
Auf einmal hub er zu säuseln an,
und ein Licht flog über die Haar –
Und den Osten sah ich geworfen dann
von des Westens drängender Schar.
Die Zäume verhängt und die Fahnen zertreten
und die Führer zermalmt von der Hufe Wucht
und im Nacken der Freiheit Gerichtstrompeten –
so von dannen jagte die rasende Flucht.
Da! zu uns auch herauf! – Da seht ihr sie nicht?
Durch den Hohlweg und über den Stein!
Da! – - zum vierten Mal nun das gleiche Gesicht
und der gleiche lodernde Schein! –
Da! – tretet beiseit, daß kein fliegender Zügel,
daß kein sausender Dolman den Arm euch streift!
noch des Mannes Haupt, den, hangend im Bügel,
eben jetzt sein Pferd durch den Ginster schleift!
Da! – es stürzt! – das edelste dieser Schlacht! –
Der Geschleifte liegt tot im Farn!
Und über ihn weg nun die wilde Jagd,
die Lafetten, die Pulverkarrn! –
Wer denkt noch an den? Wer unter den Wagen
risse den noch hervor? Was Bahre, was Sarg!
Hört, Herr – doch dürft ihr es keinem sagen! –,
so stirbt in Europa der letzte Monarch!
3

Dem jungen Jäger schwirrt es im Kopf,
und er tat einen langen Satz,
und er fluchte: Vermaledeiter Tropf
und vermaledeiter Platz!
Doch der Alte, kühl wie ein Seher eben,
sah ihm ruhig nach von des Holzes Saum:
Ja, flucht nur, Herr Junge! Könnt's doch noch erleben!
Seid ja siebenzehn oder achtzehn kaum!
Dann pfiff er und zog übers Stoppelfeld –
Noch hat sich das Wort nicht erfüllt!
Doch der Birkenbaum steht ungefällt,
und zwei Lager heute zerklüften die Welt,
und ein Hüben, ein Drüben nur gilt!
Schon gab es Geplänkel: doch dauernd schlichten
wird ein Schlag nur, wie jener, den wachsenden Strauß –
Und dem Jäger kommen die alten Geschichten,
und er denkt: Schlüge dennoch das Volk in Gesichten
seines nahenden Welttags Siege voraus?






Interessant - oder? ;):);)

Cebrail
28.10.2012, 21:16
So nun mal eines meiner Lieblingsgedichte.



Beim Schlafen gehen

Nun der Tag mich müd gemacht,
Soll mein sehnliches Verlangen
Freundlich die gestirnte Nacht
Wie ein müdes Kind empfangen.

Hände, lasst von allem Tun,
Stirn, vergiss du alles Denken,
Alle meine Sinne nun
Wollen sich in Schlummer senken.

Und die Seele, unbewacht,
Will in freien Flügen schweben,
Um im Zauberkreis der Nacht
Tief und tausendfach zu Leben.


Hermann Hesse (1911)


Hesse schrieb es im Jahr 1911 und veröffentlichte es 1914 in seiner Gedichtsammlung "Musik des Einsamen".
Thematisch wird diese Gedicht den Abendliedern zugeordnet, für mich
ist es aber weitaus mehr, da hier der Schlaf durchaus als Metapher für den
Tod gesehen werden kann.
Besonders die dritte Strophe hat es mir angetan.

Cebrail
18.11.2012, 19:20
Hier nun ein Gedicht von Wolf Graf von Kalckreuth, ein Dichter der, meiner Meinung nach, zu sehr in Vergessenheit geraten ist.

Den Titel kenne ich leider nicht, aber schaut selber.





Wolf Graf von Kalckrath


Und alles ist unsagbar kalt und schön:

Des müdgeweihten Tages blasse Gluten,

Der Mittagsglanz metallner Meeresfluten,

Das junge Grün der frühlingszarten Höhn.



Die freudge Furcht, das leise Schmerzgestöhn,

Das stumme, glühende Begehren ruhten.

Die Seele hört in purpurnem Verbluten

Durch tiefe Dämmerung ein mild Getön.



Es ist des Flusses mondbeglänztes Fließen,

Die Müdigkeit nach liebendem Genießen,

Ein kühles Licht im starrkristallnen Sinn. –



Mir ist, als tage eine bleiche Frühe,

Wo seltsam eine neue Welt erblühe ...

Ich fühle kaum, daß ich gestorben bin.

Chavali
25.11.2012, 21:30
Hier mal ein Werk von Georg Trakl.
Ein Sonett.
Melancholisch, düster.
Ganz so, wie ich gern Gedichte lesen mag.



Verfall (1913) - Georg Trakl

Am Abend, wenn die Glocken Frieden läuten,
Folg ich der Vögel wundervollen Flügen,
Die lang geschart, gleich frommen Pilgerzügen,
Entschwinden in den herbstlich klaren Weiten.

Hinwandelnd durch den dämmervollen Garten
Träum ich nach ihren helleren Geschicken
Und fühl der Stunden Weiser kaum mehr rücken.
So folg ich über Wolken ihren Fahrten.

Da macht ein Hauch mich von Verfall erzittern.
Die Amsel klagt in den entlaubten Zweigen.
Es schwankt der rote Wein an rostigen Gittern,

Indes wie blasser Kinder Todesreigen
Um dunkle Brunnenränder, die verwittern,
Im Wind sich fröstelnd blaue Astern neigen.

Falderwald
26.11.2012, 20:56
Fresko-Sonett (an Christian S.) Nr. IX


Die Welt war mir nur eine Marterkammer,
Wo man mich bei den Füßen aufgehangen
Und mir gezwickt den Leib mit glühnden Zangen
Und eingeklemmt in enger Eisenklammer.

Wild schrie ich auf vor namenlosem Jammer,
Blutströme mir aus Mund und Augen sprangen, -
Da gab ein Mägdlein, das vorbeigegangen,
Mir schnell den Gnadenstoß mit goldnem Hammer.

Neugierig sieht sie zu, wie mir im Krampfe
Die Glieder zuckten, wie im Todeskampfe
Die Zung’ aus blut’gem Munde hängt und lechzet.

Neugierig horcht sie, wie mein Herz noch ächzet,
Musik ist ihr mein letztes Todesröcheln,
Und spottend steht sie da mit kaltem Lächeln.


Heinrich Heine

Falderwald
27.11.2012, 20:42
Es färbte sich die Wiese grün...


Es färbte sich die Wiese grün
Und um die Hecken sah ich blühn,
Tagtäglich sah ich neue Kräuter,
Mild war die Luft, der Himmel heiter.
Ich wußte nicht, wie mir geschah,
Und wie das wurde, was ich sah.

Und immer dunkler ward der Wald
Auch bunter Sänger Aufenthalt,
Es drang mir bald auf allen Wegen
Ihr Klang in süßen Duft entgegen.
Ich wußte nicht, wie mir geschah,
Und wie das wurde, was ich sah.

Es quoll und trieb nun überall
Mit Leben, Farben, Duft und Schall,
Sie schienen gern sich zu vereinen,
Daß alles möchte lieblich scheinen.
Ich wußte nicht, wie mir geschah,
Und wie das wurde, was ich sah.

So dacht ich: ist ein Geist erwacht,
Der alles so lebendig macht
Und der mit tausend schönen Waren
Und Blüten sich will offenbaren?
Ich wußte nicht, wie mir geschah,
Und wie das wurde, was ich sah.

Vielleicht beginnt ein neues Reich –
Der lockre Staub wird zum Gesträuch
Der Baum nimmt tierische Gebärden
Das Tier soll gar zum Menschen werden.
Ich wußte nicht, wie mir geschah,
Und wie das wurde, was ich sah.

Wie ich so stand und bei mir sann,
Ein mächtger Trieb in mir begann.
Ein freundlich Mädchen kam gegangen
Und nahm mir jeden Sinn gefangen.
Ich wußte nicht, wie mir geschah,
Und wie das wurde, was ich sah.

Sie ging vorbei, ich grüßte sie,
Sie dankte, das vergeß ich nie –
Ich mußte ihre Hand erfassen
Und Sie schien gern sie mir zu lassen.
Ich wußte nicht, wie mir geschah,
Und wie das wurde, was ich sah.

Uns barg der Wald vor Sonnenschein
Das ist der Frühling fiel mir ein.
Kurzum, ich sah, daß jetzt auf Erden
Die Menschen sollten Götter werden.
Nun wußt ich wohl, wie mir geschah,
Und wie das wurde, was ich sah.


Novalis

Erich Kykal
31.12.2012, 08:12
Denn sieh: sie werden leben und sich mehren
und nicht bezwungen werden von der Zeit,
und werden wachsen wie des Waldes Beeren,
den Boden bergend unter Süßigkeit.

Denn selig sind, die niemals sich entfernten
und still im Regen standen ohne Dach;
zu ihnen werden kommen alle Ernten,
und ihre Frucht wird voll sein tausendfach.

Sie werden dauern über jedes Ende
und über Reiche, deren Sinn verrint,
und werden sich wie ausgeruhte Hände
erheben, wenn die Hände aller Stände
und aller Völker müde sind.

Erich Kykal
31.12.2012, 08:29
Die armen Worte, die im Alltag darben,
die unscheinbaren Worte, lieb ich so.
Aus meinen Festen schenk ich ihnen Farben,
da lächeln sie und werden langsam froh.

Ihr Wesen, das sie bang in sich bezwangen,
erneut sich deutlich, dass es jeder sieht;
sie sind noch niemals im Gesang gegangen
und schauernd schreiten sie in meinem Lied.




Ich bin zu Hause zwischen Tag und Traum.
Dort wo die Kinder schläfern, heiß vom Hetzen,
dort wo die Alten sich zu Abend setzen,
und Herde glühn und hellen ihren Raum.

Ich bin zu Hause zwischen Tag und Traum.
Dort wo die Abendglocken klar verklangen
und Mädchen, vom Verhallenden befangen,
sich müde stützen auf den Brunnensaum.

Und eine Linde ist mein Lieblingsbaum;
und alle Sommer, welche in ihr schweigen,
rühren sich wieder in den tausend Zweigen
und wachen wieder zwischen Tag und Traum.



Du musst das Leben nicht verstehen,
dann wird es werden wie ein Fest.
Und lass dir jeden Tag geschehen
so wie ein Kind im Weitergehen
von jedem Wehen
sich viele Blüten schenken lässt.

Sie aufzusammeln und zu sparen,
das kommt dem Kind nicht in den Sinn.
Es löst sie leise aus den Haaren,
drin sie so gern gefangen waren,
und hält den lieben jungen Jahren
nach neuen seine Hände hin.



Vor lauter Lauschen und Staunen sei still,
du mein tieftiefes Leben;
dass du weißt, was der Wind dir will,
eh noch die Birken beben.

Und wenn dir einmal das Schweigen sprach,
lass deine Sinne besiegen.
Jedem Hauche gieb dich, gieb nach,
er wird dich lieben und wiegen.

Und dann meine Seele sei weit, sei weit,
dass dir das Leben gelinge,
breite dich wie ein Feierkleid
über die sinnenden Dinge.



Schau, wie die Zypressen schwärzer werden
in den Wiesengründen, und auf wen
in den unbetretbaren Alleen
die Gestalten mit den Steingebärden
weiterwarten, die uns übersehn.

Solchen stillen Bildern will ich gleichen
und gelassen aus den Rosen reichen,
welche wiederkommen und vergehn;
immerzu wie einer von den Teichen
dunkle Spiegel immergrüner Eichen
in mir halten, und die großen Zeichen
ungezählter Nächte näher sehn.



Ich war ein Kind und träumte viel
und hatte noch nicht Mai;
da trug ein Mann sein Saitenspiel
an unserm Hof vorbei.
Da hab ich bange aufgeschaut:
"Oh Mutter, lass mich frei..."
Bei seiner Laute erstem Laut
brach etwas mir entzwei.

Ich wusste, eh sein Sang begann:
Es wird mein Leben sein.
Sing nicht, sing nicht, du fremder Mann:
Es wird mein Leben sein.
Du singst mein Glück und meine Müh,
mein Lied singst du und dann:
Mein Schicksal singst du viel zu früh,
so dass ich, wie ich blüh und blüh, -
es nie mehr leben kann.

Er sang. Und dann verklang sein Schritt, -
er musste weiterziehn;
und sang mein Leid, das ich nie litt,
und sang mein Glück, das mir entglitt,
und nahm mich mit und nahm mich mit -
und keiner weiß wohin...




Es ist noch Tag auf der Terasse.
Da fühle ich ein neues Freuen:
wenn ich jetzt in den Abend fasse,
ich könnte Gold in jede Gasse
aus meiner Stille niederstreuen.

Ich bin jetzt von der Welt so weit.
Mit ihrem späten Glanz verbräme
ich meine ernste Einsamkeit.

Mir ist, als ob mir irgendwer
jetzt leise meinen Namen nähme,
so zärtlich, dass ich mich nicht schäme
und weiß: ich brauche keinen mehr.



Der Abend ist mein Buch. Ihm prangen
die Deckel purpurn in Damast;
ich löse seine goldnen Spangen
mit kühlen Händen, ohne Hast.

Und lese seine erste Seite,
beglückt durch den vertrauten Ton, -
und lese leiser seine zweite,
und seine dritte träum ich schon.



Ich fürchte mich so vor der Menschen Wort.
Sie sprechen alles so deutlich aus:
Und dieses heißt Hund und jenes heißt Haus,
und hier ist Beginn und das Ende ist dort.

Mich bangt auch ihr Sinn, ihr Spiel mit dem Spott,
sie wissen alles, was wird und war;
kein Berg ist ihnen mehr wunderbar;
ihr Garten und Gut grenzt grade an Gott.

Ich will immer warnen und wehren: Bleibt fern.
Die Dinge singen hör ich so gern.
Ihr rührt sie an: sie sind starr und stumm.
Ihr bringt mir alle die Dinge um.



Nenn ich dich Aufgang oder Untergang?
Denn manchmal bin ich vor dem Morgen bang
und greife scheu nach seiner Rosen Röte -
und ahne ein Angst in seiner Flöte
vor Tagen, welche liedlos sind und lang.

Aber die Abende sind mild und mein,
von meinem Schauen sind sie still beschienen;
in meinen Armen schlafen Wälder ein, -
und ich bin selbst das Klingen über ihnen,
und mit dem Dunkel in den Violinen
verwandt durch all mein Dunkelsein.



Die Nacht ist wie eine schwarze Stadt,
wo nach stummen Gesetzen
sich die Gassen mit Gassen vernetzen
und sich Plätze fügen zu Plätzen,
und die bald an die tausend Türme hat.

Aber die Häuser der schwarzen Stadt, -
du weißt nicht, wer darin siedelt.

In ihrer Gärten schweigendem Glanz
reihen sich reigende Träume zum Tanz, -
und du weißt nicht, wer ihnen fiedelt...



Das ist die Sehnsucht: wohnen im Gewoge
und keine Heimat haben in der Zeit.
Und das sind Wünsche: leise Dialoge
täglicher Stunden mit der Ewigkeit.

Und das ist Leben. Bis aus einem Gestern
die einsamste von allen Stunden steigt,
die, anders lächelnd als die andern Schwestern,
dem Ewigen entgegenschweigt.

Chavali
01.06.2013, 16:01
Hier habe ich ein tolles Gedicht entdeckt:

Trutz, Blanke Hans

Detlev von Liliencron

Heut bin ich über Rungholt gefahren,
Die Stadt ging unter vor sechshundert Jahren.
Noch schlagen die Wellen da wild und empört,
Wie damals, als sie die Marschen zerstört.
Die Maschine des Dampfers schütterte, stöhnte,
Aus den Wassern rief es unheimlich und höhnte:
Trutz, Blanke Hans.

Von der Nordsee, der Mordsee, vom Festland geschieden,
Liegen die friesischen Inseln im Frieden.
Und Zeugen weltenvernichtender Wut,
Taucht Hallig auf Hallig aus fliehender Flut.
Die Möwe zankt schon auf wachsenden Watten,
Der Seehund sonnt sich auf sandigen Platten.
Trutz, Blanke Hans.


Mitten im Ozean schläft bis zur Stunde
Ein Ungeheuer, tief auf dem Grunde.
Sein Haupt ruht dicht vor Englands Strand,
Die Schwanzflosse spielt bei Brasiliens Sand.
Es zieht, sechs Stunden, den Atem nach innen
Und treibt ihn, sechs Stunden, wieder von hinnen.
Trutz, Blanke Hans.

Doch einmal in jedem Jahrhundert entlassen
Die Kiemen gewaltige Wassermassen.
Dann holt das Untier tief Atem ein,
Und peitscht die Wellen und schläft wieder ein.
Viel tausend Menschen im Nordland ertrinken,
Viel reiche Länder und Städte versinken.
Trutz, Blanke Hans.

Rungholt ist reich und wird immer reicher,
Kein Korn mehr faßt der größeste Speicher.
Wie zur Blütezeit im alten Rom,
Staut hier täglich der Menschenstrom.
Die Sänften tragen Syrer und Mohren,
Mit Goldblech und Flitter in Nasen und Ohren.Trutz, Blanke Hans.

Auf allen Märkten, auf allen Gassen
Lärmende Leute, betrunkene Massen.
Sie ziehn am Abend hinaus auf den Deich:
Wir trotzen dir, blanker Hans, Nordseeteich!
Und wie sie drohend die Fäuste ballen,
Zieht leis aus dem Schlamm der Krake die Krallen.
Trutz, Blanke Hans.

Die Wasser ebben, die Vögel ruhen,
Der liebe Gott geht auf leisesten Schuhen.
Der Mond zieht am Himmel gelassen die Bahn,
Belächelt der protzigen Rungholter Wahn.
Von Brasilien glänzt bis zu Norwegs Riffen
Das Meer wie schlafender Stahl, der geschliffen.
Trutz, Blanke Hans.


Und überall Friede, im Meer, in den Landen.
Plötzlich wie Ruf eines Raubtiers in Banden:
Das Scheusal wälzte sich, atmete tief,
Und schloß die Augen wieder und schlief.
Und rauschende, schwarze, langmähnige Wogen
Kommen wie rasende Rosse geflogen.

Trutz, Blanke Hans.

Ein einziger Schrei – die Stadt ist versunken,
Und Hunderttausende sind ertrunken.
Wo gestern noch Lärm und lustiger Tisch,
Schwamm andern Tags der stumme Fisch.
Heut bin ich über Rungholt gefahren,
Die Stadt ging unter vor sechshundert Jahren.

Trutz, Blanke Hans?






Es geht hier um die die Rungholtsage (http://de.wikipedia.org/wiki/Rungholt), nach der die reiche, aber gottlose Stadt Rungholt

durch eine Sturmflut (http://de.wikipedia.org/wiki/Sturmflut) vernichtet wurde.
In der zweiten Strophe wird die Nordsee als Mordsee bezeichnet.






LG Chavali

Dana
03.07.2013, 20:01
Das Lied vom Dichter (Heinrich Seidel)

Was ein gerechter Dichter ist,
Macht Verse fast zu jeder Frist,
Er reitet seinen Pegasum
Und dichtet Alles um und um.

Darum wird er auch selten fett,
Denn morgens früh in seinem Bett,
Bevor ein Andrer kaum erwacht,
Hat er schon ein Sonett gemacht.

Terzinen werden eingestippt,
Wenn er den Blümchen-Kaffee nippt;
Verzehrt zum Frühstück er sein Ei,
Macht er ein Triolett dabei.

Und wenn er seine Suppe isst,
Er löffelweis' die Jamben misst,
Und wenn er seinen Braten kaut,
Im Geiste er Trochäen baut!

Thut weiter nichts in dieser Welt,
Darum hat er auch nie kein Geld!
Dies kümmert ihn zu keiner Frist,
Weil's auch ein Stoff zum Dichten ist.

Hat er kein Bett, hat er kein Haus,
So macht er ein Gedicht daraus!
Hat er ein Loch im Rock, im Schuh
So stopft er es mit Strophen zu!

Nichts ist zu gross, nichts ist zu klein:
Er sperrt's in seine Verse ein.
Nur was man nicht besingen kann,
Das sieht er als ein Neutrum an.

Der Frosch, der auf der Wiese hüpft,
Die Maus, die in ihr Löchlein schlüpft,
Der Käfer, der im Teich ersoff,
Sind alle miteinander "Stoff".

Was kühn noch in die Lüfte strebt,
Was schon die Erde umgebebt,
Ob heil und ganz, ob kurz und klein -
In seinen Vers muss es hinein!

So zählt er seine Silben ab
Vergnügt bis an sein kühles Grab,
Und unter seinen letzten Band
Schreibt "finis" hin des Todes Hand.

Was ein gerechter Dichter ist,
Benutzet auch die letzte Frist,
Macht eine Grabschrift noch zuvor
Und legt sich auf sein Dichterohr.

Die Leute stehen trauervoll
Dann um sein Grab und schauervoll.
Ein Jeder denkt sich, was er will,
Doch meist: "Gottlob, nun ist er still!"

Es wächst dann in der Jahre lauf
Dort eine Zitterpappel auf;
Und ob der Wind schläft oder wacht:
Die Blätter flüstern Tag und Nacht!

Chavali
14.04.2014, 21:24
Sehr schön, Dana :)

Lange haben wir kein Lieblingsgedicht mehr eingestellt.
Mir fiel neulich dieses in die Hände bzw. vor Augen:

Tod der Armen


Es ist der Tod, der Trost und Leben schenkt;
Er ist das Ziel, das einzig Hoffnung macht,
Ein Elixier, das uns berauschend tränkt,
Und Mut gibt, durchzuhalten bis zur Nacht,

Durch Sturm und Schnee ist er das schwache Licht,
Für uns am dunklen Horizont entzündet;
Ist jene Bleibe, die das Buch verspricht,
wo man zur Rast ein Mahl und Schlummer findet,

Ein Engel, dessen Finger lockend zeigen
Den Schlaf und Träume, die uns übersteigen;
Armen und Nackten er ein Bett bereitet;

Der Götter Ruhm, der Speicher, der nie leer,
Der Armen Beutel, Heimat von jeher,
Das Tor, das uns zu fremden Himmeln leitet!


Charles Baudelaire



*

Falderwald
15.04.2014, 17:25
Sonett


Die lange Winternacht will nimmer enden,
Als käm’ sie nimmermehr, die Sonne, weilet;
Der Sturm mit Eulen um die Wette heulet;
Die Waffen klirren an den morschen Wänden.

Und off’ne Gräber ihre Geister senden:
Sie wollen, um mich her im Kreis vertheilet,
Die Seele schrecken, daß sie nimmer heilet; -
Doch will ich nicht auf sie die Blicke wenden.

Den Tag, den Tag, ich will ihn laut verkünden!
Nacht und Gespenster werden vor ihm fliehen:
Gemeldet ist er schon vom Morgensterne.

Bald wird es licht, auch in den tiefsten Gründen:
Die Welt wird Glanz und Farbe überziehen,
Ein tiefes Blau die unbegränzte Ferne.

Weimar 1808.

Arthur Schopenhauer, 1788-1860

Chavali
07.05.2014, 15:54
Einer meiner Lieblingsdichter: Theodor Storm



Gedenkst du noch?


Gedenkst du noch, wenn in der Frühlingsnacht
Aus unserm Kammerfenster wir hernieder
Zum Garten schauten, wo geheimnisvoll
Im Dunkel dufteten Jasmin und Flieder?
Der Sternenhimmel über uns so weit,
Und du so jung; unmerklich geht die Zeit.

Wie still die Luft! Des Regenpfeifers Schrei
Scholl klar herüber von dem Meeresstrande;
Und über unsrer Bäume Wipfel sahn
Wir schweigend in die dämmerigen Lande.
Nun wird es wieder Frühling um uns her,
Nur eine Heimat haben wir nicht mehr.

Nun horch ich oft, schlaflos in tiefer Nacht,
Ob nicht der Wind zur Rückfahrt möge wehen.
Wer in der Heimat erst sein Haus gebaut,
Der sollte nicht mehr in die Fremde gehen!
Nach drüben ist sein Auge stets gewandt:
Doch eines blieb - wir gehen Hand in Hand.

Lailany
03.07.2014, 05:32
Mechtildis unter der Buche (Ludwig Strauss)

Auszug:

Als sie seufzte, wurden Geister
Wach in Bäumen, letzten Blumen,
Schwebten auf und schwebten nieder,
Webten fein ein glänzend Leinen,
Nahmen ihr die schlichten Kleider,
Hüllten sie ins Sterbeleinen
Tauchten in die künftigen Tage,
Griffen in die künftigen Sommer,
Wählten Rosen, sie zu schmücken,
Weiße Rosen für die Stirne,
Rote Rosen für die Brust.
Als die Bilder in den Augen
Der Mechtildis sanft erloschen,
Füllte ihren Blick ein zarter,
Innrer Schimmer grünen Laubs.

Chavali
08.07.2014, 18:19
Das Feuerschiff

(Ballade)


von Heidedichter Hermann Löns


Hermann Löns (* 29. August (http://de.wikipedia.org/wiki/29._August) 1866 (http://de.wikipedia.org/wiki/1866) in Culm (http://de.wikipedia.org/wiki/Che%C5%82mno_nad_Wis%C5%82%C4%85) bei Bromberg (http://de.wikipedia.org/wiki/Bydgoszcz) in Westpreußen (http://de.wikipedia.org/wiki/Westpreu%C3%9Fen); † 26. September (http://de.wikipedia.org/wiki/26._September) 1914 (http://de.wikipedia.org/wiki/1914)
bei Loivre[1] (http://de.wikipedia.org/wiki/Hermann_L%C3%B6ns#cite_note-1) in der Nähe von Reims (http://de.wikipedia.org/wiki/Reims), Frankreich (http://de.wikipedia.org/wiki/Frankreich))
war ein deutscher Journalist und Schriftsteller (http://de.wikipedia.org/wiki/Schriftsteller).
Schon zu Lebzeiten ist Löns, dessen Landschaftsideal die Heide (http://de.wikipedia.org/wiki/Heide_%28Landschaft%29) war, als Jäger,
Natur- und Heimatdichter sowie als Naturforscher und -schützer zum Mythos (http://de.wikipedia.org/wiki/Mythos) geworden.



Von Ehrgeiz, Habsucht, Liebe, Haß, von Hoffnung und von Furcht ist leer
Die Brust, das Wrack liegt morsch und mürb verfaulend in dem Hafen;
Und was sie fünfzig Jahre hetzte, spornte, peitschte hin und her
Ist stumm, verloschen, ausgebrannt und endlich eingeschlafen.

Und ist das Herz auch kalt und tot; sie starren gierig in die Flut
Schon stundenlang; kein Fischlein will an ihren Angeln beißen;
Manch halbvergeßner Fluch erschallt voll Ungeduld und wilder Wut,
Das Meer ist geizig und es läßt sich heute nichts entreißen.

Und ist auch lange abgeräumt des Lebens reichgedeckter Tisch,
Und kalt das Herz, dem Freuden, Schmerzen, Angst und Hoffnung mangeln,
So bleibt als heiß ersehntes Ziel ein spannenlanger Fisch,
Nach dem sie stieren Auges täglich angeln, angeln, angeln.

Lailany
13.07.2014, 05:11
Aus
"Hugdietrichs Brautfahrt" von Wilhelm Hertz.

Dieser Auszug fasziniert mich deshalb so sehr, weil er eindrucksvoll die Kraft der Bildersprache demonstriert.
Aus der schier überwältigenden Fülle der hier in 28 Kurzzeilen geschilderten Eindrücke und Einzelheiten ließe sich ein exquisites Gemälde schaffen. In solchen Momenten wünsche ich mir nichts sehnlicher, als malen zu können.

Sie trug ihn am Gestad entlang
Und glitt durch einen Felsengang.
Der mündete nach kurzer Zeit
In eine Grotte hoch und weit.
Still kreist die Fluth mit dichtem Schaum,
Und grüne Dämm'rung füllt den Raum;
Nur durch der Wölbung Ritzen bricht
In Streifen goldnes Tageslicht.
Doch durch die Pfeilerhallen,
Da geht ein seltsam Schallen,
Ein Klimpern und ein Klirren,
Ein Schnurren und ein Schwirren:
Es sitzt mit schilfdurchflocht'nem Haar
Am Webstuhl rings der Nixen Schar.
Die Stühle sind von schlankem Bau,
Korallenroth und veilchenblau,
Die Muschelschifflein hüpfen,
Die Perlenfäden schlüpfen,
Und von des Meersterns Spule rollt
Melodisch das geschmeid'ge Gold.
Sie weben Schleier und Gewand,
Zu fein der feinsten Menschenhand.
Sie weben Mäntel ohne Gleichen,
Unschätzbar in der Erde Reichen,
Mit lichten Wappenschildern
Und wundersamen Bildern
Aus uralt dunkeln Sagen
Von längst vergess'nen Tagen.

Chavali
13.07.2014, 09:51
Liebe Kiwi :Kuss

das ist wirklich fantastisch.
Zu meiner Schande muss ich gestehen, diesen Dichter nicht zu kennen.
Aber jetzt doch, dank Wikipedia ;)

Diese bildgewaltige, aber doch geschmeidige und fast zärtliche Sprache gefält mir auch sehr!
Bei Gelegenheit werde ich mir das ganze Werk googeln!

Danke - wieder was gelernt :Blume:

Liebe Grüße ins sturmgeschüttelte oversea land :o
Chavi

Lailany
13.07.2014, 14:22
Liebe Chavi,
ich kannte Wilhelm Hertz auch nicht. Hatte nicht mal den Namen vorher gehört.
Durch Ferdi bin ich auf ihn aufmerksam geworden.
Übrigens:
Hier im Faden darf ja auch diskutiert werden, oder? Wenn nicht, dann lösch bitte meinen Beitrag einfach, Chavi.

Du, das Werk 'Hugdietrichs Brautfahrt' ist supertoll! Aber halt episch. :)
Mir macht das nix aus, ich lieeeeeebe lange Werke.
Du findest das ganze Stück Online.
Ich mag Hertz wegen seines unterhaltsamen Schreibstils. :)

LG von Ev

Chavali
15.07.2014, 16:06
Liebe Kiwi,
Hier im Faden darf ja auch diskutiert werden, oder?ja, aber gerne doch können wir hier kommentieren und diskutieren, ja, das ist sogar erwünscht ;)

Für eine neues Lieblingsgedicht fiel mir Edgar Allan Poe ein, die viele düster-mysteriöse Gedichte
und Geschichten schrieb.
Bevor ich das zum Lesen einstelle, schick ich dir noch eine Tasse heißen Kiwi-Tee, weil du es kalt hast :o

Liebe Grüße, katzi https://encrypted-tbn3.gstatic.com/images?q=tbn:ANd9GcSTAzAJ2eOKxoA_X_eD1OA_GcEM9mqFN anxcuUJ1yUPGPloJV5ChQ


Das Geisterschloß

Edgar Allan Poe


In der Täler grünstem Tale
Hat, von Engeln einst bewohnt,
Gleich des Himmels Kathedrale
Golddurchstrahlt ein Schloß gethront.
Rings auf Erden diesem Schlosse
Keines glich;
Herrschte dort mit reichem Trosse
Der Gedanke – königlich.

Gelber Fahnen Faltenschlagen
Floß wie Sonnengold im Wind -
Ach, es war in alten Tagen,
Die nun längst vergangen sind! –
Damals kosten süße Lüfte
Lind den Ort,
Zogen als beschwingte Düfte
Von des Schlosses Wällen fort.

Wandrer in dem Tale schauten
Durch der Fenster lichten Glanz
Genien, die zum Sang der Lauten
Schritten in gemeßnem Tanz
Um den Thron, auf dem erhaben,
Marmorschön,
Würdig solcher Weihegaben,
War des Reiches Herr zu sehn.

Perlen- und rubinenglutend
War des stolzen Schlosses Tor,
Ihm entschwebten flutend, flutend
Süße Echos, die im Chor,
Weithinklingend, froh besegen
– Süße Pflicht! –
Ihres Königs hehres Prangen
In der Weisheit Himmelslicht.

Doch Dämonen, schwarze Sorgen,
Stürzten roh des Königs Thron. –
Trauert, Freunde, denn kein Morgen
Wird ein Schloß wie dies umlohn!
Was da blühte, was da glühte
– Herrlichkeit! –
Eine welke Märchenblüte
Ist's aus längst begrabner Zeit.

Und durch glutenrote Fenster
Werden heute Wandrer sehn
Ungeheure Wahngespenster
Grauenhaft im Tanz sich drehn;
Aus dem Tor in wildem Wellen,
Wie ein Meer,
Lachend ekle Geister quellen –
Weh! sie lächeln niemals mehr!

Cebrail
16.07.2014, 20:44
He, dann darf ich auch einmal ;-).
Ich liebe Poes Gedichte und auch manche seiner Geschichten.

Besonders Annabel Lee.

Ich setze es mal im Original hier rein und dahinter die Übersetzung,
welche ich aber nicht wirklich gelungen finde.


Anabel Lee (E.A. Poe)

It was many and many a year ago,
In a kingdom by the sea,
That a maiden there lived whom you may know
By the name of Annabel Lee;
And this maiden she lived with no other thought
Than to love and be loved by me.

I was a child and she was a child,
In this kingdom by the sea:
But we loved with a love that was more than love -
I and my Annabel Lee;
With a love that the winged seraphs of heaven
Coveted her and me.

And this was the reason that, long ago,
In this kingdom by the sea,
A wind blew out of a cloud, chilling
My beautiful Annabel Lee;
So that her high-born kinsmen came
And bore her away from me,
To shut her up in a sepulchre
In this kingdom by the sea.

The angels, not half so happy in heaven,
Went envying her and me -
Yes! that was the reason (as all men know,
In this kingdom by the sea)
That the wind came out of the cloud one night,
Chilling and killing my Annabel Lee.

But our love it was stronger by far than the love
Of those who were older than we -
Of many far wiser than we -
And neither the angels in heaven above,
Nor the demons down under the sea,
Can ever dissever my soul from the soul
Of the beautiful Annabel Lee;

For the moon never beams without bringing me dreams
Of the beautiful Annabel Lee;
And the stars never rise but I feel the bright eyes
Of the beautiful Annabel Lee;
And so, all the night-tide, I lie down by the side
Of my darling -my darling -my life and my bride,
In the sepulchre there by the sea -
In her tomb by the sounding sea.



Übersetzung

Es war vor vielen, vielen Jahren,
In einem Königreich nahe dem Meer,
Dort lebte ein Mädelein, von dem du vielleicht weißt
Mit Namen Annabel Lee.
Und dieses Mädelein, sie lebte ohne and'ren Gedanken,
Als mich zu lieben und von mir geliebt zu sein.

Ich war ein Kind und sie war ein Kind,
In diesem Königreich nahe dem Meer;
Und wir liebten eine Liebe, gar mehr als eine Liebe
Ich und meine Annabel Lee;
Mit einer Liebe, die die Engel darob
Begehrten, ihre und meine.

Und dies war der Grund, lange bevor,
In diesem Königreich nahe dem Meer,
Ein Sturm blies aus den Wolken, stahl
Meine schöne Annabel Lee;
Sodass ihr hochgeborener Verwandter kam
Und nahm sie fort von mir,
Um sie einzusperren in ein Grab
In diesem Königreich nahe dem Meer.

Die Engel, nicht halb so glücklich im Himmel,
Beneideten sie und mich-
Ja!- Dies war der Grund, wie die Männer wissen,
In diesem Königreich nahe dem Meer.
Als der Wind aus den Wolken sprang bei Nacht,
Kühlte und mordete meine Annabel Lee.

Doch uns're Liebe war stärker bei weitem als die Liebe
Von den Älteren,
Von weit Weiseren als wir-
Und weder die Engel oben im Himmel,
Noch die Dämonen tief unten im Meer,
Können jemals trennen meine Seele und die
Der schönen Annabel Lee.

Der Mond niemals strahlt, ohne mir Träume zu bringen
Von der schönen Annabel Lee.
Und die Sterne niemals steigen, doch ich fühle ihre Augen
Der schönen Annabel Lee.
Und so, jede flutende Nacht, liege ich an der Seite
Meines Liebling- mein Liebling- mein Leben und meine Braut,
Im Grab dort nah dem Meer,
In ihrer Grabesstätte nahe dem tosenden Meer.


Gruß
C.

Lailany
17.07.2014, 01:14
Hallo Cebrail,
Poes Werke sind wunderbar. Seinen Raben jedoch konnte er mM nach nie toppen. :)
Die 7 Jahre, die er angeblich daran gearbeitet hat, machen sich bezahlt für die Ewigkeit. :)

Dass die Übersetzung dieses Werkes nicht gelungen ist, hast Du sehr milde ausgedrückt.
Sie ist schlicht und einfach schauderhaft.
Darf man erfahren, wer Annabel Lee so geschändet hat?:o

LG von Lai :)

Sidgrani
17.07.2014, 08:44
Nun möchte ich auch eins von den Gedichten einstellen, die mich faszinieren. Nicht zuletzt hat mich Achim Reichel mit seiner Liedversion entsprechend beeinflusst.


Regenballade (Ina Seidel)

Ich kam von meinem Wege ab, weil es so nebeldunstig war.
Der Wald war feuchtkalt wie ein Grab und Finger griffen in mein Haar.
Ein Vogel rief so hoch und hohl, wie wenn ein Kind im Schlummer klagt
und mir war kalt, ich wusste wohl, was man von diesem Walde sagt!

Dann setzt’ ich wieder Bein vor Bein und komme so gemach vom Fleck
und quutsch’ im letzen Abendschein schwer vorwärts durch Morast und Dreck.
Es nebelte, es nieselte, es roch nach Schlamm, verfault und nass,
es raschelte und rieselte und kroch und sprang im hohen Gras.

Auf einmal, eh ich’s mich versehn, bin ich am Strom, im Wasser schier.
Am Rand bleib ich erschrocken steh’n, fast netzt die Flut die Sohle mir.
Das Röhricht zieht sich bis zum Tann und wiegt und wogt soweit man blickt
und flüstert böse ab und an, wenn es im feuchten Windhauch nickt.

Das saß ein Kerl! Weiß Gott, mein Herz stand still, als ich ihn sitzen sah!
Ich sah ihn nur von hinterwärts, und er saß klein und ruhig da.
Saß in der Abenddämmerung, die Angelrute ausgestreckt,
als ob ein toter Weidenstrunk den dürren Ast gespenstisch reckt.

"He, Alter!" ruf ich, "beißt es gut?" Und sieh, der Baumstamm dreht sich um
und wackelt mit dem runden Hut und grinst mit spitzen Zähnen stumm.
Und spricht, doch nicht nach Landesart, wie Entenschnattern, schnell und breit,
kommt’s aus dem algengrünen Bart: "Wenn’s regnet, hab’ ich gute Zeit!"

"So scheint es", sag ich und ich schau in seinen Bottich neben ihn.
Da wimmelt’s blank und silbergrau und müht sich mit zerfetzem Kiem’,
Aale, die Flossen zart wie Flaum, glotzäugig Karpfen. Mittendrin,
ich traue meinen Augen kaum, wälzt eine Natter sich darin!

"Ein selt’nes Fischlein, Alter, traun!" Da springt er froschbehend empor.
"Die Knorpel sind so gut zu kau’n" schnattert listig er hervor.
"Gewiss seid ihr zur Nacht mein Gast! Wo wollt ihr heute auch noch hin?
Nur zu, den Bottich angefasst! Genug ist für uns beide drin!"

Und richtig watschelt er voraus, patsch, patsch am Uferrand entlang.
Und wie im Traume heb ich auf und schleppe hinterdrein den Fang.
Und krieche durch den Weidenhag, der eng den Rasenhang umschmiegt,
wo, tief verborgen selbst am Tag, die schilfgebaute Hütte liegt.

Da drinnen ist nicht Stuhl, nicht Tisch, der Alte sitzt am Boden platt,
es riecht nach Aas und totem Fisch, mir wird vom bloßem Atmen satt.
Er aber greift frisch in den Topf und frisst die Fische kalt und roh,
packt sie beim Schwanz, beißt ab den Kopf und knirscht und schmatzt im Dunkeln froh.

"Ihr esst ja nicht! Das ist nicht recht!" Die Schwimmhand klatscht mich fett aufs Knie.
"Ihr seid vom trockenen Geschlecht, ich weiß, die Kerle essen nie!
Ihr seid bekümmert? Sprecht doch aus, womit ich Euch erfreuen kann!"
"Ja", klappre ich: "Ich will nach Haus, aus dem verfluchten Schnatermann."

Da hebt der Kerl ein Lachen an, es klang nicht gut, mir wurde kalt.
"Was wisst denn Ihr vom Schnatermann?" "Ja", sag ich stur," so heißt der Wald."
"So heißt der Wald?" Nun geht es los, er grinst mich grün und phosphorn an:
"Du dürrer Narr, was weißt du bloß vom Schnater-Schnater-Schnatermann?!"

Und schnater-schnater, klitsch und klatsch, der Regen peitscht mir ins Gesicht.
Quatsch’ durch den Sumpf, hoch spritzt der Matsch, ein Stiefel fehlt - ich acht es nicht.
Und schnater-schnater um mich her, und Enten- ,Unken-, Froschgetöhn.
Möwengelächter irr und leer und tief ein hohles Windgestöhn...

Des andern Tags saß ich allein, nicht weit vom prasselnden Kamin
und ließ mein schwer gekränkt’ Gebein wohlig von heißem Grog durchziehn.
Wie golden war der Trank, wie klar, wie edel war sein starker Duft!
Ich blickte nach dem Wald - es war noch sehr viel Regen in der Luft...

Cebrail
17.07.2014, 23:08
Hallo Lai,
"Quoth the raven, `Nevermore.'" ;-)
Das habe ich mit Absicht nicht eingestellt, sollte ja eigentlich jeder kennen.
Denke ich zumindest.

... und die Überversetzung unter dem Gedicht ist ein Wikipediading, ich kann allerdings keinen Autor dazu finden.

Vielleicht machst du uns ja mal eine Translation. ;-)

Ich bin darin nicht wirklich gut muss ich zugeben, klar schreie ich dass eine Übersetzung besser sein könnte, hänge aber selber schon seit zwei Monaten an einer Verdeutschung für "In the Ghetto", von daher, wer bin ich, dass ich mit Steinen werfe.

Einen lieben Gruß
C.

Lailany
18.07.2014, 07:21
Hallo Cebrail,
ja, ich könnte mich wohl wirklich mal an eine Übersetzung wagen.
Zu übertragen, wie 'Unbekannt' es mit Annabel Lee gemacht hat, da ist nix dabei.
Mir jedoch gefiele die Herausforderung, es gereimt zu versuchen. ;)
Ich werd mich mal dahinterklemmen und schauen, wie ich vorankomme.

Da Du ein Poe-Fan bist, möchte ich Dir ans Herz legen, die Übersetzung / Nachdichtung des Rabens von unserem Forumkollegen Thomas zu lesen. Die ist mM nach um Längen besser als alle, die ich bisher gelesen habe, einschließlich die wohl bekannteste von Wollschläger, die von manchen Quellen auch als die beste bezeichnet wird. Für mich ist sie im Vergleich zu Thomas' schwach.

Ich muß gleich nachgucken, ob Thomas' Werk hier am Eiland eingestellt ist.
Fündig geworden. :)

www.gedichte-eiland.de/showthread.php?t=8884

LG von Lai :)

Lieber Sid,
DAS ist ja ein tolles Werk! Der Name Ina Seidel ist mir völlig unbekannt.
Bizarr, surreal und dabei witzig. Ganz super! Danke fürs Vorstellen. :)

Erich Kykal
25.09.2014, 00:43
Rainer Maria Rilke


DER BLINDE KNABE

An allen Türen blieb der blinde Knabe,
auf den der Mutter bleiche Schönheit schien,
und sang das Lied, das ihm sein Leid verliehn:
"Oh hab mich lieb, weil ich den Himmel habe."
Und alle weinten über ihn.

An allen Türen blieb der blinde Knabe.

Die Mutter aber zog ihn leise mit;
weil sie die andern alle weinen schaute.
Er aber, der nicht wusste, wie sie litt,
und nur noch tiefer seinem Dunkel traute,
sang: "Alles Leben ist in meiner Laute."

Die Mutter aber zog ihn leise mit.

So trug er seine Lieder durch das Land.
Und als ein Greis ihn fragte, was sie deuten,
da schwieg er, und auf seiner Stirne stand:
Es sind die Funken, die die Stürme streuten,
doch einmal werd ich breit sein wie ein Brand.

So trug er seine Lieder durch das Land.

Und allen Kindern kam ein Traurigsein.
Sie mussten immer an den Blinden denken
und wollten etwas seiner Armut weihn;
er nahm sie lächelnd an den Handgelenken
und sang: "Ich selbst bin kommen euch beschenken."

Und allen Kindern kam ein Traurigsein.

Und alle Mädchen wurden blass und bang.
Und waren wie die Mutter dieses Knaben,
der immer noch in ihren Nächten sang.
Und fürchteten: wir werden Kinder haben, -
und alle Mütter waren krank . .

Da wurden ihre Wünsche wie ein Wort
und flatterten wie Schwalben um die Eine,
die mit dem Blinden zog von Ort zu Ort:
"Maria, du Reine,
sieh, wie ich weine.
Und es ist seine
Schuld. In die Haine
führe ihn fort!"

Bei allen Bäumen blieb der blinde Knabe,
auf den der Mutter müde Schönheit schien,
und sang das Lied, das ihm sein Leid verliehn:
"Oh hab mich lieb, weil ich den Himmel habe -"
Und alle blühten über ihm.


DER SCHAUENDE

Ich sehe den Bäumen die Stürme an,
die aus laugewordenen Tagen
an meine ängstlichen Fenster schlagen,
und höre die Fernen Dinge sagen,
die ich nicht ohne Freund ertragen,
nicht ohne Schwester lieben kann.

Da geht der Sturm, ein Umgestalter,
geht durch den Wald und durch die Zeit,
und alles ist wie ohne Alter:
die Landschaft, wie ein Vers im Psalter,
ist Ernst und Wucht und Ewigkeit.

Wie ist das klein, womit wir ringen,
was mit und ringt, wie ist das groß;
ließen wir, ähnlicher den Dingen,
uns so vom großen Sturm bezwingen, -
wir würden weit und namenlos.

Was wir besiegen, ist das Kleine,
und der Erfolg selbst macht uns klein.
Das Ewige und Ungemeine
will nicht von uns gebogen sein.
Das ist der Engel, der den Ringern
des Alten Testaments erschien:
wenn seiner Widersacher Sehnen
im Kampfe sich metallen dehnen,
fühlt er sie unter seinen Fingern
wie Saiten tiefer Melodien.

Wen dieser Engel überwand,
welcher so oft auf Kampf verzichtet,
der geht gerecht und aufgerichtet
und groß aus jener harten Hand,
die sich, wie formend, an ihn schmiegte.
Die Siege laden ihn nicht ein.
Sein Wachstum ist: der Tiefbesiegte
von immer Größerem zu sein.


DER APFELGARTEN

Komm gleich nach dem Sonnenuntergange,
sieh das Abendgrün des Rasengrunds;
ist es nicht, als hätten wir es lange
angesammelt und erspart in uns,

um es jetzt aus Fühlen und Erinnern,
neuer Hoffnung, halbvergeßnem Freun,
noch vermischt mit Dunkel aus dem Innern,
in Gedanken vor uns hinzustreun

unter Bäume wie von Dürer, die
das Gewicht von hundert Arbeitstagen
in den überfüllten Früchten tragen,
dienend, voll Geduld, versuchend, wie

das, was alle Maße übersteigt,
noch zu heben ist und hinzugeben,
wenn man willig, durch ein ganzes Leben
nur das Eine will und wächst und schweigt.


DER FREMDE

Ohne Sorgfalt, was die Nächsten dächten,
die er müde nichtmehr fragen hieß,
ging er wieder fort, verlor, verließ - .
Denn er hing an solchen Reisenächten
anders als an jeder Liebesnacht.
Wunderbare hatte er durchwacht,
die mit starken Sternen überzogen
enge Fernen auseinanderbogen
und sich wandelten wie eine Schlacht;

andre, die mit in den Mond gestreuten
Dörfern, wie mit hingehaltnen Beuten;
sich ergaben, oder durch geschonte
Parke graue Edelsitze zeigten,
die er gerne in dem hingeneigten
Haupte einen Augenblick bewohnte,
tiefer wissend, dass man nirgends bleibt;
und schon sah er bei dem nächsten Biegen
wieder Wege, Brücken, Länder liegen
bis an Städte, die man übertreibt.

Und dies alles immer unbegehrend
hinzulassen, schien ihm mehr als seines
Lebens Lust, Besitz und Ruhm.
Doch auf fremden Plätzen war ihm eines
täglich ausgetretnen Brunnensteines
Mulde manchmal wie ein Eigentum.


RÖMISCHE FONTÄNE

Zwei Becken, eins das andre übersteigend
aus einem alten runden Marmorrand,
und aus dem oberen Wasser leis sich neigend
zum Wasser, welches unten wartend stand,

dem leise redenden entgegenschweigend
und heimlich, gleichsam in der hohlen Hand,
ihm Himmel hinter Grün und Dunkel zeigend
wie einen unbekannten Gegenstand;

sich selber ruhig in der schönen Schale
verbreitend ohne Heimweh, Kreis aus Kreis,
nur manchmal träumerisch und tropfenweis

sich niederlassend an den Moosbehängen
zum letzten Spiegel, der sein Becken leis
von unten lächeln macht mit Übergängen.


SONETT XXIX (aus dem 2. Teil der Sonette an Orpheus)

Stiller Freund der vielen Fernen, fühle,
wie dein Atmen noch den Raum vermehrt.
Im Gebälk der finstern Glockenstühle
laß dich läuten. Das, was an dir zehrt,

wird ein Starkes über dieser Nahrung.
Geh in der Verwandlung aus und ein.
Was ist deine leidenste Erfahrung?
Ist dir Trinken bitter, werde Wein.

Sei in dieser Nacht aus Übermaß
Zauberkraft am Kreuzweg deiner Sinne,
ihrer seltsamen Begegnung Sinn.

Und wenn dich das Irdische vergaß,
zu der stillen Erde sag: Ich rinne.
Zu dem raschen Wasser sprich: Ich bin.


DER BALL

Du Runder, der das Warme aus zwei Händen
im Fliegen, oben, fortgibt, sorglos wie
sein eigenes; was in den Gegenständen
nicht bleiben kann, zu unbeschwert für sie,

zu wenig Ding und doch noch Ding genug,
um nicht aus allem draußen Aufgereihten
unsichtbar plötzlich in uns einzugleiten:
das glitt in dich, du zwischen Fall und Flug

noch Unentschlossener: der, wenn er steigt,
als hätte er ihn mit hinaufgehoben,
den Wurf entführt und freiläßt - , und sich neigt
und einhält und den Spielenden von oben
auf einmal eine neue Stelle zeigt,
sie ordnend wie zu einer Tanzfigur,

um dann, erwartet und erwünscht von allen,
rasch, einfach, kunstlos, ganz Natur,
dem Becher hoher Hände zuzufallen.


DIE GAZELLE (Gazella Dorcas)

Verzauberte: Wie kann der Einklang zweier
erwählter Worte je den Reim erreichen,
der in dir kommt und geht, wie auf ein Zeichen.
Aus deiner Stirne steigen Laub und Leier,

und alles Deine geht schon im Vergleich
durch Liebeslieder, deren Worte, weich
wie Rosenblätter, dem, der nicht mehr liest,
sich auf die Augen legen, die er schließt:

um dich zu sehen: hingetragen, als
wäre mit Sprüngen jeder Lauf geladen
und schösse nur nicht ab, solang der Hals

das Haupt ins Horchen hält: wie wenn beim Baden
im Wald die Badende sich unterbricht:
den Waldsee im gewendeten Gesicht.


DER SCHWAN

Diese Mühsal, durch noch Ungetanes
schwer und wie gebunden hinzugehn,
gleicht dem ungeschaffnen Gang des Schwanes.

Und das Sterben, dieses Nichtmehrfassen
jenes Grunds, auf dem wir täglich stehn,
seinem ängstlichen Sich-Niederlassen - :

in die Wasser, die ihn sanft empfangen
und die sich, wie glücklich und vergangen,
unter ihm zurückziehn, Flut um Flut;
während er unendlich still und heiter
immer mündiger und königlicher
und gelassener zu ziehn geruht.


DIE HEILIGE

Das Volk war durstig; also ging das eine
durstlose Mädchen, ging die Steine
um Wasser anflehn für ein ganzes Volk.
Doch ohne Zeichen blieb der Zweig der Weide,
und sie ermattete am langen Gehn
und dachte endlich nur, dass einer leide,
(ein kranker Knabe, und sie hatten beide
sich einmal abends ahnend angesehn).
Da neigte sich die junge Weidenrute
in ihren Händen dürstend wie ein Tier:
jetzt ging sie blühend über ihrem Blute,
und rauschend ging ihr Blut tief unter ihr.


EINSAMKEIT

Die Einsamkeit ist wie ein Regen.
Sie steigt vom Meer den Abenden entgegen;
von Ebenen, die fern sind und entlegen,
geht sie zum Himmel, der sie immer hat.
Und erst vom Himmel fällt sie auf die Stadt.

Regnet hernieder in den Zwitterstunden,
wenn sich nach Morgen wenden alle Gassen
und wenn die Leiber, welche nichts gefunden,
enttäuscht und traurig voneinander lassen;
und wenn die Menschen, die einander hassen,
in einem Bett zusammen schlafen müssen:

dann geht die Einsamkeit mit den Flüssen . . .


WELCHE WIESEN . .

Welche Wiesen duften deine Hände?
Fühlst du wie auf deine Widerstände
stärker sich der Duft von draußen stützt.
Drüber stehn die Sterne schon in Bildern.
Gib mir, Liebe, deinen Mund zu mildern;
ach, dein ganzes Haar ist unbenützt.

Sieh, ich will dich mit dir selbst umgeben
und die welkende Erwartung heben
von dem Rande deiner Augenbraun;
wie mit lauter Liderinnenseiten
will ich dir mit meinen Zärtlichkeiten
alle Stellen schließen, welche schaun.


DER TOD DER GELIEBTEN

Er wusste nur vom Tod was alle wissen:
dass er uns nimmt und in das Stumme stößt.
Als aber sie, nicht von ihm fortgerissen,
nein, leis aus seinen Augen ausgelöst,

hinüberglitt zu unbekannten Schatten,
und als er fühlte, dass sie drüben nun
wie einen Mond ihr Mädchenlächeln hatten
und ihre Weise wohlzutun:

da wurden ihm die Toten so bekannt,
als wäre er durch sie mit einem jeden
ganz nah verwandt; er ließ die andern reden

und glaubte nicht und nannte jenes Land
das gutgelegene, das immersüße -
und tastete es ab für ihre Füße.


DER BLINDE (Paris)

Sieh, er geht und unterbricht die Stadt,
die nicht ist auf seiner dunkeln Stelle,
wie ein dunkler Sprung durch eine helle
Tasse geht. Und wie auf einem Blatt

ist auf ihm der Widerschein der Dinge
aufgemalt; er nimmt ihn nicht hinein.
Nur sein Fühlen rührt sich, so als finge
es die Welt in kleinen Wellen ein:

eine Stille, einen Widerstand - ,
und dann scheint er wartend wen zu wählen:
hingegeben hebt er seine Hand,
festlich fast, wie um sich zu vermählen.


EINE WELKE

Leicht, wie nach ihrem Tode
trägt sie die Handschuh, das Tuch.
Ein Duft aus ihrer Kommode
verdrängte den lieben Geruch,

an dem sie sich früher erkannte.
Jetzt fragte sie lange nicht, wer
sie sei (: eine ferne Verwandte),
und geht in Gedanken umher

und sorgt für ein ängstliches Zimmer,
das sie ordnet und schont,
weil es vielleicht noch immer
dasselbe Mädchen bewohnt.


DER BALKON

Von der Enge, oben, des Balkones
angeordnet wie von einem Maler
und gebunden wie zu einem Strauß
alternder Gesichter und ovaler,
klar im Abend, sehn sie idealer,
rührender und wie für immer aus.

Dieses aneinander angelehnten
Schwestern, die, als ob sie sich von weit
ohne Aussicht nacheinander sehnten,
lehnen, Einsamkeit an Einsamkeit;

und der Bruder mit dem feierlichen
Schweigen, zugeschlossen, voll Geschick,
doch von einem sanften Augenblick
mit der Mutter unbemerkt verglichen;

und dazwischen, abgelebt und länglich,
längst mit keinem mehr verwandt,
einer Greisin Maske, unzugänglich,
wie im Fallen von der einen Hand
aufgehalten, während eine zweite
welkere, als ob sie weitergleite,
unten von den Kleidern hängt zur Seite

von dem Kinderangesicht,
das das Letzte ist, versucht, verblichen,
von den Stäben wieder durchgestrichen
wie noch unbestimmbar, wie noch nicht.


DON JUANS KINDHEIT

In seiner Schlankheit war, schon fast entscheidend,
der Bogen, der an Frauen nicht zerbricht;
und manchmal, seine Stirne nicht mehr meidend,
ging eine Neigung durch sein Angesicht

zu einer die vorüberkam, zu einer
die ihm ein fremdes altes Bild verschloss:
er lächelte. Er war nicht mehr der Weiner,
der sich ins Dunkel trug und sich vergoß.

Und während ein ganz neues Selbstvertrauen
ihn öfter tröstete und fast verzog,
ertrug er ernst den ganzen Blick der Frauen,
der ihn bewunderte und ihn bewog.


DAME VOR DEM SPIEGEL

Wie in einem Schlaftrunk Spezerein
löst sie leise in dem flüssigklaren
Spiegel ihr ermüdetes Gebaren;
und sie tut ihr Lächeln ganz hinein.

Und sie wartet, dass die Flüssigkeit
davon steigt; dann gießt sie ihre Haare
in den Spiegel, und, die wunderbare
Schulter hebend aus dem Abendkleid,

trinkt sie still aus ihrem Bild. Sie trinkt,
wie ein Liebender im Taumel tränke,
prüfend, voller Mißtraun; und sie winkt

erst der Zofe, wenn sie auf dem Grunde
ihres Spiegels Lichter findet, Schränke
und das Trübe einer späten Stunde.


DIE FLAMINGOS

In Spiegelbildern wie von Fragonard
ist doch von ihrem Weiß und ihrer Röte
nicht mehr gegeben, als dir einer böte,
wenn er von seiner Freundin sagt: sie war

noch sanft von Schlaf. Denn steigen sie ins Grüne
und stehn, auf rosa Stielen leicht gedreht,
beisammen, blühend, wie in einem Beet,
verführen sie verführender als Phryne

sich selber; bis sie ihres Auges Bleiche
hinhalsend bergen in der eignen Weiche,
in welcher Schwarz und Fruchtrot sich versteckt.

Auf einmal kreischt ein Neid durch die Volière;
sie aber haben sich erstaunt gereckt
und schreiten einzeln ins Imaginäre.


DER PAVILLON

Aber selbst noch durch die Flügeltüren
mit dem grünen regentrüben Glas
ist ein Spiegeln lächelnder Allüren
und ein Glanz von jenem Glück zu spüren,
das sich dort, wohin sie nicht mehr führen,
einst verbarg, verklärte und vergaß.

Aber selbst noch in den Steingirlanden
über der nicht mehr berührten Tür
ist ein Hang zur Heimlichkeit vorhanden
und ein stilles Mitgefühl dafür - ,

und sie schauern manchmal, wie gespiegelt,
wenn ein Wind sie schattig überlief;
auch das Wappen, wie auf einem Brief
viel zu glücklich, überstürzt gesiegelt,

redet noch. Wie wenig man verscheuchte:
alles weiß noch, weint noch, tut noch weh - ,
Und im Fortgehn durch die tränenfeuchte
abgelegene Allee

fühlt man lang noch auf dem Rand des Dachs
jene Urnen stehen, kalt, zerspalten:
doch entschlossen, noch zusammzuhalten
um die Asche alter Achs.

Chavali
30.09.2014, 16:03
Abschied an den Leser

Spruchgedicht von Gotthold Ephraim Lessing

Wenn du von allem dem, was diese Blätter füllt,
Mein Leser, nichts des Dankes wert gefunden:
So sei mir wenigstens für das verbunden,
Was ich zurück behielt.






:):D:)

Lailany
01.10.2014, 01:48
Seufz und schmelz... Der Pavillon, Eky
so schön, dass es weh tut. Jetzt sind es ein paar ACH's mehr.

Chavi, Lessings Winzling ist auch nicht ohne. Schmunzel.

Terrapin
13.11.2014, 00:04
Freiheit

Das ganze halbverweste Sein durchbrochen!
Die Klage, die um niedre Leiden stöhnt,
die Freude, die den Schmerz der Seele höhnt:
an's ehrne Tor des Todes anzupochen.

Der Geist zerreibt sich, und die Sinne kochen,
an Schmutz und Tollheit jahrelang gewöhnt...
doch wo die Mahnung zur Vernichtung tönt,
ist jedem Mann der Rettungsweg versprochen.

Nun raffe ich die halberloschnen Flammen
zu letztem, heldenhaftem Tun zusammen,
die Riegel sprengend meiner Kerkerhaft.

Mit meinem Blut den Frieden zu erwerben,
die Freiheit mit des Lebens fliehnder Kraft,
die nirgend ich erblicke denn im Sterben.

Stuttgart, 13. März 1905

Wolf von Kalckreuth

...

.


Der Kreislauf der erblichnen Stunden
drückt dich mit schwerer Müdigkeit;
mit Ketten ist dein Fuß gebunden,
die dich umschließen allezeit,
bis sie mit leiser Traurigkeit
die Stärke deines selbst vernichten:
die Hand sinkt lahm, der Blick wird weit;
denn sehend werden heißt verzichten.

Der Ton, den andere gefunden,
dem deine Seele Leben leiht,
blüht in der Öde deiner Wunden
mit seltsam fahler Farbigkeit.
Er gibt dir flüsternd das Geleit,
wohin sich deine Schritte richten.
Du fühlst nur fremdes Glück und Leid;
denn sehend werden heißt verzichten.

Du denkst der Zeiten, die entschwunden,
verlorner Tage Herrlichkeit.
Doch fehlt die Kraft dir zu gesunden,
es flammt kein Strahl, der dich befreit.
Die Liebe, der du einst geweiht,
dünkt dir ein lästiges Verpflichten -
ein Schauspiel voller Seltsamkeit -
denn sehend werden heißt verzichten.

Ihr Glücklichen, sei euch geweiht
mein traurig Sinnen und mein Dichten...
lebt fort in blinder Seligkeit -
denn sehend werde heißt verzichten.

Wolf von Kalckreuth

...

.

Die Gärten in dem Schoß der großen Wüste,
weit hinter fahlem Sand und Wellenblauen,
wo Sommerwolken duftig niedertauen:
Sie sind die Heimat meiner Sehnsucht, Süßte.

Die Schar der Träume, die mich leuchtend grüßte,
wann ich entschlief im leisen Abendgrauen,
sie ließen jenes holde Land mich schauen
und Sonnenlicht – das zärtlichste und frühste.

Durch den Jasmin verrieseln klare Quellen,
und blaue Winden spiegeln in den Wellen,
die um die Lauben rinnen lautern Scheins.

Und wie die Liebe sorglich uns geleitet,
stand im Gefild ich, das sich prangend breitet –
und du und jene Gärten waren eins.

Wolf von Kalckreuth

Terrapin
05.12.2014, 20:35
Dies ist wohl eines der schönsten deutschen Gedichte. Ein Meisterwerk, das der junge Kalckreuth schon in solch zartem Alter schrieb.
Man staune wie er diese sehr sehr fordernde Form beherrschte und trotz der vielen gleichen Reime nie die Aussage vernachlässigte. Grandios und unübertroffen.



Der Abendhorizont vergangner Stunden,
der zitternd mein ermüdet Auge bannt,
rankt seine weißen Blüten, zartgewunden,
aufhellend, um das traumbetaute Land.
Und liliengleich sprießt alles, was entschwand,
als ob ein fremder Hauch es aufwärts triebe -
und zitternd flimmern durch die Nebelwand
der Stern der Sehnsucht und der blassen Liebe.

Wie Weihrauchduft durch fern Gewölb empfunden
hat sich ein Schleier über ihn gespannt,
das fast dem weiten Äther er entschwunden,
in dem er leise knisternd aufgebrannt.
Es ist, als ob auf lieblichem Gewand
gestreifter Blumen Goldstaub haften bliebe.
So hingeweht perlt er am Himmelsrand,
der Stern der Sehnsucht und der blassen Liebe.

Ein Dunkel ohne Morgen deckt die Wunden,
die ich betastet mit entweihter Hand,
und deren Schmerz so köstlich ich erfunden,
so oft die Sterne scheidend sich gewandt.
Doch wie ein silbern, windentwehtes Band
hält mich der Strahl, ob alles auch zerstiebe,
und zaubert über Flut und weißen Strand
den Stern der Sehnsucht und der blassen Liebe.

Du, Liebste, hast allein mein Herz gekannt;
und wann der Zukunft Machtwort es zerriebe,
stets strahlt mir, ein entwichner Diamant,
der Stern der Sehnsucht und der blassen Liebe.

Wolf von Kalckreuth

Lailany
07.12.2014, 08:21
Das ist wirklich atemberaubend schön! Terrapin, DANKE fürs Einstellen, ich kannte Kalckreuth bisher nur dem Namen nach. Jetzt aber will ich mehr von ihm lesen, seine Poesie begeistert mich.
HG von Lai:Blume:

Terrapin
09.12.2014, 21:50
Hallo Lailany!

Klackreuth ist in der Tat ein beeindruckender und ergreifender Dichter. Ein Ausnahmetalent wie Arthur Rimbaud. Als ich vor Jahren durch Zufall eines seiner Sonette gelesen habe erlag ich sofort seinem Zauber und verschlang alles von ihm. Es war diese schwingende Leichtigkeit in seinen Versen vereint mit köstlich treffender Aussage. Die Silben und Worte fließen so vorbestimmt und erhaben.
Leider ist es mitunter recht mühsam an seine Werke zu gelangen. Doch wiegt der Klang der Lieder die Anstrengungen weitüber auf.

Um ehrlich zu sein sind viele seiner Gedichte meine Lieblinge. In jedem einzelnen liegt der flammende Hauch eines hehren Geistes und die gewaltige Sehnsucht nach dem Tod.

Ach, ich könnte schon wieder unnütz in aller Leidenschaft gefangen, haltlos Schwärmen.


Hier ein Link, wo ich einen Teil seines Werkes für die interessierte Öffentlichkeit zugänglich gemacht habe, das er mir nicht irgendwann gänzlich vergessen wird. (Ich hoffe das das gestattet ist.)

link entfernt - siehe nutzungsbedingungen
chavali/mod


Ich will auch gleich das erste Sonett, das ich von ihm las, beilegen.


Die Lüfte werden seltsam kalt und leicht,
denn alle Hoffnung ist im Sand bestattet,
und selbst die Macht der Schwermut ist ermattet,
die ich geliebt, wie alles, was entweicht.

Nun ist der Pfad der blassen Nacht erreicht,
den ihr im Leben längst vergessen hattet.
Er ist so zart, so wundersam beschattet,
das kein Gefilde ihm an Wehmut gleicht.

Der Pfad auf weißem, schleierhaftem Moose,
der Pfad ins Niebetretne, Wesenlose. -
Und wenig nehme ich dahin von hier.

Doch eh die Sinne sich in Nacht versenken,
schenkt mir ein leises, zitterndes Gedenken,
schenkt die Erinnrung toter Sehnsucht mir.

Um Weihnachten 1905


Liebe Grüße, Terrapin.

Lailany
06.03.2016, 04:28
Der schöne Faden liegt schon viel zu lange brach, drum möchte ich ihn wieder aufleben lassen mit einem Werk von R.M.Rilke.

Der Panther

Sein Blick ist vom Vorübergehn der Stäbe
so müd geworden, daß er nichts mehr hält.
Ihm ist, als ob es tausend Stäbe gäbe
und hinter tausend Stäben keine Welt.

Der weiche Gang geschmeidig starker Schritte,
der sich im allerkleinsten Kreise dreht,
ist wie ein Tanz von Kraft um eine Mitte,
in der betäubt ein großer Wille steht.

Nur manchmal schiebt der Vorhang der Pupille
sich lautlos auf - dann geht ein Bild hinein,
geht durch der Glieder angespannte Stille -
und hört im Herzen auf zu sein.

Wer bei einem Gedicht noch nie geweint hat, der lasse die letzte Zeile ins Gemüt einsinken.
So schlicht, so banal die Wortführung und dennoch beinhaltet sie die stumme Trauer und das Leid aller gequälten Kreaturen dieser Welt.
Dieses Werk von Rilke kannte ich noch nicht, hab es eben erst entdeckt und gleich bei meinen Lieblingsgedichten eingereiht.

Chavali
06.03.2016, 19:31
Ja, Lai, *Der Panther* ist auch eines meiner Lieblingsgedichte :)


Wie findet ihr das:

Orphische Hymnos (https://de.wikipedia.org/wiki/Orphische_Hymnen)

„An Nemesis“ deutlich:


Ich rufe Dich, Nemesis!
Höchste!
Göttlich waltende Königin!
Allsehende, Du überschaust
Der vielstämmigen Sterblichen Leben.
Ewige, Heilige, Deine Freude
Sind allein die Gerechten.
Aber Du hassest der Rede Glast,
Den bunt schillernden, immer wankenden,
Den die Menschen scheuen,
die dem drückenden Joch
Ihren Nacken gebeugt.
Aller Menschen Meinung kennst Du,
Und nimmer entzieht sich Dir die Seele
Hochmütig und stolz
Auf den verschwommenen Schwall der Worte.
In alles schaust Du hinein,
Allem lauschend, alles entscheidend.
Dein ist der Menschen Gericht.

Agneta
07.03.2016, 13:44
ein schöner Faden,:) in dem ich gerne mal wieder schnuppern werde.
Der Panther ist auch mein Lieblingsgedicht, ich hätte ihn auch eingestellt.
Sehr schön finde ich auch die Gedichte von Kalkreuth. da muss ich noch mal stöbern! und natürlich alles von Rilke, was Erich eingestellt hat.
LG von Agneta

Falderwald
07.03.2016, 16:23
Fresko Sonett an Christian S. von Heinrich Heine

II.

Gib her die Larv', ich will mich jetzt maskieren
In einen Lumpenkerl, damit Halunken,
Die prächtig in Charaktermasken prunken,
Nicht wähnen, ich sei einer von den Ihren.

Gib her gemeine Worte und Manieren,
Ich zeige mich in Pöbelart versunken,
Verleugne all die schönen Geistesfunken,
Womit jetzt fade Schlingel kokettieren.

So tanz ich auf dem großen Maskenballe,
Umschwärme von deutschen Rittern, Mönchen, Kön'gen,
Von Harlekin gegrüßt, erkannt von wen'gen.

Mit ihrem Holzschwert prügeln sie mich alle.
Das ist der Spaß. Denn wollt ich mich entmummen,
So müßte all das Galgenpack verstummen.

Agneta
07.03.2016, 23:20
Da ich neben Rilke immer auch schon eine Schwäche für satirische Humoristen hatte, mochte ich immer auch Eugen Roth .
Hier eines meiner Lieblinge von ihm:

"Immer höflich - von Eugen Roth

Ein Mensch grüßt, als ein Mann von Welt,
wenn man ihm einmal vorgestellt.
Er trifft denselben äußerst spärlich,
wenn´s hochkommt, drei- bis viermal jährlich

und man begrinst sich, hohl und heiter,
und geht dann seines Weges weiter.
Doch einmal kommt ein schlechter Tag,
wo just der Mensch nicht grinsen mag.

Und er geht stumm und starr vorbei,
als ob er ganz wer andrer sei.
Doch solche Unart rächt sich kläglich:
Von Stund an trifft er jenen täglich!
-------

Terrapin
13.04.2016, 08:45
Caspar Hauser singt

Als schlichter Waise, reich genug
an meiner Augen stillem Scheine,
kam ich zur Stadt, fremd und alleine,
die Männer fanden mich nicht klug.

Mit zwanzig Jahren wurde ich
im Feuer der verliebten Sinne
der Weiber süßer Schönheit inne:
doch freilich schön fand keine mich.

Wenn auch in keines Königs Sold,
ich Heimatloser Ruhm erworben,
wär' gern ich doch im Krieg gestorben,
doch hat der Tod mich nicht gewollt.

Kam ich zu früh, kam ich zu spät
in diese Welt voll herber Trauer?
Was soll mir, ach, des Lebens Dauer?
Denkt an mich Armen im Gebet!

Paul Verlaine

Übertragung von Wolf von Kalckreuth



La Chanson de Gaspard Hauser

Je suis venu, calme orphelin,
Riche de mes seuls yeux tranquilles,
Vers les hommes des grandes villes :
Ils ne m’ont pas trouvé malin.

À vingt ans un trouble nouveau
Sous le nom d’amoureuses flammes
M’a fait trouver belles les femmes :
Elles ne m’ont pas trouvé beau.

Bien que sans patrie et sans roi
Et très brave ne l’étant guère,
J’ai voulu mourir à la guerre :
La mort n’a pas voulu de moi.

Suis-je né trop tôt ou trop tard ?
Qu’est-ce que je fais en ce monde ?
Ô vous tous, ma peine est profonde :
Priez pour le pauvre Gaspard !

vedena
13.04.2016, 10:47
Danke @Lailany - Der Panther ist auch mein großer Favorit.

Falls jemandem gerade romantisch zumute ist, mir gefällt auch das hier:

Der Asra

Täglich ging die wunderschöne
Sultanstocher auf und nieder
Um die Abendzeit am Springbrunn,
Wo die weißen Wasser plätschern.

Täglich stand der junge Sklave
Um die Abendzeit am Springbrunn,
Wo die weißen Wasser plätschern;
Täglich ward er bleich und bleicher.

Eines Abends trat die Fürstin
Auf ihn zu mit raschen Worten:
Deinen Namen will ich wissen,
Deine Heimat, deine Sippschaft!

Und der Sklave sprach: Ich heiße
Mohamet, ich bin aus Yemmen,
Und mein Stamm sind jene Asra,
Welche sterben, wenn sie lieben.

Heinrich Heine

Chavali
18.02.2017, 16:02
Hier etwas Passendes zur Jahreszeit:



(Emmanuel Geibel 1815-1884)

Und dräut der Winter noch so sehr
Mit trotzigen Gebärden,
Und streut er Eis und Schnee umher,
Es muß doch Frühling werden.

Und drängen Nebel noch so dicht
Sich vor den Blick der Sonne,
Sie wecket doch mit ihrem Licht
Einmal die Welt zur Wonne.

Blast nur ihr Stürme, blast mit Macht,
Mir soll darob nicht bangen,
Auf leisen Sohlen über Nacht,
Kommt doch der Lenz gegangen.

Da wacht die Erde grünend auf,
Weiß nicht, wie ihr geschehen,
Und lacht in den sonnigen Himmel hinauf,
Und möcht vor Lust vergehen.

Sie flicht sich blühende Kränze ins Haar
Und schmückt sich mit Rosen und Ähren,
Und läßt die Brünnlein rieseln klar,
Als wären es Freudenzähren!

Drum still, und wie es frieren mag,
O Herz, gib dich zufrieden,
Es ist ein großer Maientag
Der ganzen Welt beschieden.

Und wenn dir oft auch bangt und graut,
Als sei die Höll' auf Erden:
Nur unverzagt auf Gott gebaut,
Es muß doch Frühling werden.




Schaut mal genau hin:

Lesen wir diese Gedichte-Schreibart nicht auch
desöfteren auch heutzutage und hier? ;)

Chavali
01.08.2017, 15:57
DAS kam mir heute zufällig unter die Augen, in denen ich am Ende Tränen hatte:

Weihnachtabend 1852


(Theodor Storm)



Die fremde Stadt durchschritt ich sorgenvoll,
der Kinder denkend, die ich ließ zu Haus.
Weihnachten war's; durch alle Gassen schwoll
der Kinder Jubel und des Markts Gebraus.

Und wie der Menschenstrom mich fortgespült,
drang mir ein heiser Stimmlein in das Ohr
"Kauft, lieber Herr!" Ein magres Händchen hielt
feilbietend mir ein ärmlich Spielzeug vor.

Ich schrak empor, und beim Laternenschein
sah ich ein bleiches Kinderangesicht;
wes Alters und Geschlechts es mochte sein,
erkannt ich im Vorübertreiben nicht.

Nur von dem Treppenstein, darauf es saß,
noch immer hört ich, mühsam, wie es schien,
"Kauft, lieber Herr!" den Ruf ohn Unterlaß;
doch hat wohl keiner ihm Gehör verliehn.

Und ich? - War's Ungeschick, war es die Scham,
am Weg zu handeln mit dem Bettelkind?
Eh meine Hand zu meiner Börse kam,
verscholl das Stimmlein hinter mir im Wind.

Doch als ich endlich war mit mir allein,
erfaßte mich die Angst im Herzen so,
als säß mein eigen Kind auf jenem Stein
und schrie' nach Brot, indessen ich entfloh.





:(:(:(

Terrapin
30.10.2017, 13:47
Paul Verlaine

Übersetzungen: Wolf von Kalckreuth


Wundersame Dämmerung

Erinnerung in Dämmerlicht verglühend
Zittert und loht am fernen Himmelsrand
Der Hoffnung, die geheimnisvoll bald fliehend
Bald wachsend flammt, wie eine Scheidewand.
Wie mancher Blume farbenbunt Gewand,
Wie Dalie, Tulpe, Lilie erblühend,
Ein Gitter rings umrankend und umziehend
Mit gift'gem Hauch, der all mein Wesen bannt;
Voll schweren Wohlgeruchs, der zu mir fand,
Aus Dalie, Tulpe, Lilie erblühend,
Ertränkend Seele, Sinne und Verstand,
Bis mich mit schwerer Ohnmacht übermannt
Erinnerung in Dämmerlicht verglühend.



Abendsonnen

Blass giesst im Verrinnen
Auf Felder und Rain
Schwermütiges Sinnen
Der scheidende Schein.
Schwermütiges Sinnen
Wiegt flüsternd mich ein,
Mein Herz zu umspinnen
Im scheidenden Schein.

Und fremde Träume
Ziehn sonnengleich
Über Heiden und Bäume,
Rotflimmernd und weich,
Endlos durch die Räume
Ziehn sonnengleich
Sie über das Reich
Der Heiden und Bäume.



Herbstlied

Den Herbst durchzieht
Das Sehnsuchtslied
Der Geigen
Und zwingt mein Herz
In bangem Schmerz
Zu schweigen.

Bleich und voll Leid,
Dass die letzte Zeit
Erscheine,
Gedenk' ich zurück
An fernes Glück,
Und ich weine.

Und so muss ich gehn
Im Herbsteswehn
Und Wetter,
Bald hier, bald dort,
Verweht und verdorrt
Wie die Blätter.





Vom Mondenschein ist
Der Wald so blass.
Im ganzen Hain ist
Ein Flüstern, das
Vom Laubdach tönte:

O Vielersehnte!

Im tiefen Teiche
Bespiegeln lind
Sich schwarze Sträuche,
Es weint der Wind
In Weidenbäumen ...

Zeit ist zu träumen.

Ein zartes Schweigen
Scheint sanft und rein
Herabzusteigen
Vom Dämmerschein
Der Sternenrunde ...

Das ist die Stunde.



Weinlese

Die Dinge, die in uns singen,
Wann unser Bewusstsein ruhte,
Sie tönen in unserem Blute,
O fernes, verschwiegenes Klingen!

Horcht! Unser Blut ist's, das leidet,
Wann unsere Seele entflohn ist,
Wie so fremd und seltsam sein Ton ist,
Der bald im Schweigen verscheidet.

O Blut der rosigen Traube,
O Wein der schwärzlichen Venen,
Wein und Blut, verklärender Glaube.

Singt! Löst unsre Seele in Tränen,
Und bis in die Tiefen hernieder
Durchbebt unsre armen Glieder.


Dies sind wirklich die besten Verlaineübersetzungen in Versform
und kommen dem musikalischen Ton des Original am nächsten.

mallarme
01.11.2017, 22:13
Also ich hätte drei Lieblingsgedichte beizusteuern und wenn ich
mich nicht vertan habe sind sie auch noch nicht gekommen.

Das ist zum ersten von Rilke, der ja durchaus gut vertreten ist:

Nachthimmel und Sternenfall

Der Himmel, groß, voll herrlicher Verhaltung,
ein Vorrat Raum, ein Übermaß von Welt.
Und wir, zu ferne für die Angestaltung,
zu nahe für die Abkehr hingestellt.

Da fällt ein Stern! Und unser Wunsch an ihn,
bestürzten Aufblicks, dringend angeschlossen:
Was ist begonnen, und was ist verflossen?
Was ist verschuldet? Und was ist verziehn?


Dann etwas ganz Gegensätzliches von meinem "Freund" Trakl:

Untergang

Über den weißen Weiher
Sind die wilden Vögel fortgezogen.
Am Abend weht von unseren Sternen ein eisiger Wind.

Über unsere Gräber
Beugt sich die zerbrochene Stirne der Nacht.
Unter Eichen schaukeln wir auf einem silbernen Kahn.

Immer klingen die weißen Mauern der Stadt.
Unter Dornenbogen
O mein Bruder klimmen wir blinde Zeiger gen Mitternacht.


Und zum Schluss eine neue Entdeckung für mich und ganz begeisternd,
hatte es auch schon mal in anderem Zusammenhang erwähnt,
ein Gedicht von Wolfenstein:

Städter

Dicht wie Löcher eines Siebes stehn
Fenster beieinander, drängend fassen
Häuser sich so dicht an, daß die Straßen
Grau geschwollen wie Gewürgte stehn.

Ineinander dicht hineingehakt
Sitzen in den Trams die zwei Fassaden
Leute, wo die Blicke eng ausladen
Und Begierde ineinander ragt.

Unsre Wände sind so dünn wie Haut,
Daß ein jeder teilnimmt, wenn ich weine.
Flüstern dringt hinüber wie Gegröhle:

Und wie stumm in abgeschlossner Höhle
Unberührt und ungeschaut
Steht doch jeder fern und fühlt: alleine.


Gibt natürlich noch mehr Texte die mich begeistern, aber das sind
schon ganz wichtige die mich immer wieder begleiten.

Terrapin
12.12.2017, 10:48
Wie rafft ich mich auf in der Nacht, in der Nacht,
Und fühlte mich fürder gezogen,
Die Gassen verließ ich, vom Wächter bewacht,
Durchwandelte sacht
In der Nacht, in der Nacht,
Das Tor mit dem gotischen Bogen.

Der Mühlbach rauschte durch felsigen Schacht,
Ich lehnte mich über die Brücke,
Tief unter mir nahm ich der Wogen in Acht,
Die wallten so sacht
In der Nacht, in der Nacht,
Doch wallte nicht Eine zurücke.

Es drehte sich oben, unzählig entfacht,
Melodischer Wandel der Sterne,
Mit ihnen der Mond in beruhigter Pracht,
Sie funkelten sacht
In der Nacht, in der Nacht,
Durch täuschend entlegene Ferne.

Ich blickte hinauf in der Nacht, in der Nacht,
Ich blickte hinunter aufs neue:
O wehe, wie hast du die Tage verbracht!
Nun stille du sacht
In der Nacht, in der Nacht,
Im pochenden Herzen die Reue!

August Graf von Platen


Tolles Gedicht.

Laie
20.02.2018, 12:33
Drei meiner Lieblingsgedichte:

Ernst Goll (1887-1912)


Heimweg

Die Sonne schied – ein letztes Leuchten blieb
noch hängen in den herbstgoldroten Zweigen.
Ein dunkler Knabe führt sein blondes Lieb
den Waldpfad heim. Die dunklen Lippen schweigen.

Doch wo der Weg in Vorstadtgärten mündet,
reicht er dem Mädchen seine kühle Hand
und fühlt erschreckend, wie die Liebe schwindet,
die ihre Seelen aneinanderband.


Unter eines Tages Summe

Unter eines Tages Summe
ist der schwarze Strich gemacht,
und wir reichen uns die stumme
Hand zum Abschied: "Gute Nacht!"

Schien die Sonne uns vergebens?
Oh, wir sagen lächelnd: "Nein!"
Und ins goldne Buch des Lebens
schreiben wir: Beisammensein.


Abschied

Meine armen Wege gehen
wieder ferne von den deinen,
vor dem dunklen Fenster stehen
wir, und unsre Seelen weinen.

Jahr und Tag und Stunden schwinden,
meine Gärten stehn verlassen –
weiß nur, dass ich Liebe finden
wollte auf den dunklen Straßen.

Felix
20.02.2018, 23:08
An die Parzen (Hölderlin)

Nur Einen Sommer gönnt, ihr Gewaltigen!

Und einen Herbst zu reifem Gesange mir,

Daß williger mein Herz, vom süßen

Spiele gesättiget, dann mir sterbe.



Die Seele, der im Leben ihr göttlich Recht

Nicht ward, sie ruht auch drunten im Orkus nicht;

Doch ist mir einst das Heilge, das am

Herzen mir liegt, das Gedicht, gelungen,



Willkommen dann, o Stille der Schattenwelt!

Zufrieden bin ich, wenn auch mein Saitenspiel

Mich nicht hinab geleitet; Einmal

Lebt ich, wie Götter, und mehr bedarfs nicht.

Chavali
28.02.2018, 21:05
Es war, als hätt der Himmel
Die Erde still geküsst,
Dass sie im Blütenschimmer
Von ihm nun träumen müsst.


Die Luft ging durch die Felder,
Die Ähren wogten sacht,
Es rauschten leis die Wälder,
So sternklar war die Nacht.


Und meine Seele spannte
Weit ihre Flügel aus,
Flog durch die stillen Lande,
Als flöge sie nach Haus.


...so einfach die Sprache, so wunderbar gefühlvoll...


Joseph (Karl Benedikt) Freiherr von Eichendorff

geboren
am 10.3.1788 auf Schloß Lubowitz bei Ratibor/Oberschlesien
gestorben
am 26.11.1857 Neisse/Schlesien

Felix
02.03.2018, 20:33
Goethe Johann Wolfgang von

Westöstlicher Divan
Moganni Nameh - Buch des Sängers

Selige Sehnsucht

Sagt es niemand, nur den Weisen,
Weil die Menge gleich verhöhnet,
Das Lebend'ge will ich preisen,
Das nach Flammentod sich sehnet.

In der Liebesnächte Kühlung,
Die dich zeugte, wo du zeugtest,
Überfällt dich fremde Fühlung,
Wenn die stille Kerze leuchtet.

Nicht mehr bleibest du umfangen
In der Finsternis Beschattung,
Und dich reißet neu Verlangen
Auf zu höherer Begattung.

Keine Ferne macht dich schwierig,
Kommst geflogen und gebannt,
Und zuletzt, des Lichts begierig,
Bist du, Schmetterling, verbrannt.

Und solang du das nicht hast,
Dieses: Stirb und werde!
Bist du nur ein trüber Gast
Auf der dunklen Erde.

Tut ein Schilf sich doch hervor,
Welten zu versüßen!
Möge meinem Schreibe-Rohr
Liebliches entfließen!

Felix
04.03.2018, 16:40
Nänie

Auch das Schöne muß sterben! Das Menschen und Götter bezwinget,
Nicht die eherne Brust rührt es des stygischen Zeus.
Einmal nur erweichte die Liebe den Schattenbeherrscher,
Und an der Schwelle noch, streng, rief er zurück sein Geschenk.
Nicht stillt Aphrodite dem schönen Knaben die Wunde,
Die in den zierlichen Leib grausam der Eber geritzt.
Nicht errettet den göttlichen Held die unsterbliche Mutter,
Wann er, am skäischen Tor fallend, sein Schicksal erfüllt.
Aber sie steigt aus dem Meer mit allen Töchtern des Nereus,
Und die Klage hebt an um den verherrlichten Sohn.
Siehe! Da weinen die Götter, es weinen die Göttinnen alle,
Daß das Schöne vergeht, daß das Vollkommene stirbt.
Auch ein Klaglied zu sein im Mund der Geliebten ist herrlich;
Denn das Gemeine geht klanglos zum Orkus hinab.

Felix
09.03.2018, 00:03
Johann Wolfgang von Goethe

Indische Legende

Mahadöh, der Herr der Erde,
Kommt herab zum sechsten Mal,
Dass er unsersgleichen werde,
Mitzufühlen Freud und Qual.

Er bequemt sich, hier zu wohnen,
Lässt sich alles selbst geschehn.
Soll er strafen oder schonen,
Muss er Menschen menschlich sehn.

Und hat er die Stadt sich als Wandrer betrachtet,
Die Großen belauert, auf Kleine geachtet,
Verlässt er sie abends, um weiter zu gehn.

Als er nun hinausgegangen,
Wo die letzten Häuser sind,
Sieht er, mit gemalten Wangen,
Ein verlornes schönes Kind.

"Grüß' dich, Jungfrau!" - "Dank der Ehre!
Wart, ich komme gleich hinaus."
"Und wer bist du?" - "Bajadere,
Und dies ist der Liebe Haus."

Sie rührt sich, die Cymbeln zum Tanze zu schlagen;
Sie weiß sich so lieblich im Kreise zu tragen,
Sie neigt sich und biegt sich und reicht ihm den Strauß.
Schmeichelnd zieht sie ihn zur Schwelle,
Lebhaft ihn ins Haus hinein.
"Schöner Fremdling, lampenhelle
Soll sogleich die Hütte sein.
Bist du müd, ich will dich laben,
Lindern deiner Füße Schmerz.
Was du willst, das sollst du haben,
Ruhe, Freuden oder Scherz."

Sie lindert geschäftig geheuchelte Leiden.
Der Göttliche lächelt; er siehet mit Freuden
Durch tiefes Verderben ein menschliches Herz.

Und er fordert Sklavendienste;
Immer heitrer wird sie nur,
Und des Mädchens frühe Künste
Werden nach und nach Natur.

Und so stellet auf die Blüte
Bald und bald die Frucht sich ein;
Ist Gehorsam im Gemüte,
Wird nicht fern die Liebe sein.

Aber sie schärfer und schärfer zu prüfen,
Wählet der Kenner der Höhen und Tiefen
Lust und Entsetzen und grimmige Pein.

Und er küsst die bunten Wangen,
Und sie fühlt der Liebe Qual,
Und das Mädchen steht gefangen,
Und sie weint zum erstenmal;
Sinkt zu seinen Füßen nieder,
Nicht um Wollust noch Gewinst,
Ach! und die gelenken Glieder,
Sie versagen allen Dienst.

Und so zu des Lagers vergnüglicher Feier
Bereiten den dunklen, behaglichen Schleier
Die nächtlichen Stunden, das schöne Gespinst.

Spät entschlummert unter Scherzen,
Früh erwacht nach kurzer Rast,
Findet sie an ihrem Herzen
Tot den vielgeliebten Gast.

Schreiend stürzt sie auf ihn nieder;
Aber nicht erweckt sie ihn,
Und man trägt die starren Glieder
Bald zur Flammengrube hin.

Sie höret die Priester, die Totengesänge,
Sie raset und rennet und teilet die Menge:
"Wer bist du? was drängt zu der Grube dich hin?"

Bei der Bahre stürzt sie nieder,
Ihr Geschrei durchdringt die Luft:
"Meinen Gatten will ich wieder!
Und ich such ihn in der Gruft.
Soll zu Asche mir zerfallen
Dieser Glieder Götterpracht?
Mein! er war es, mein vor allen!
Ach, nur eine süße Nacht"

Es singen die Priester: "Wir tragen die Alten,
Nach langem Ermatten und spätem Erkalten,
Wir tragen die Jugend, noch eh sie's gedacht.

"Höre deiner Priester Lehre:
Dieser war dein Gatte nicht.
Lebst du doch als Bajadere,
Und so hast du keine Pflicht.
Nur dem Körper folgt der Schatten
In das stille Totenreich;
Nur die Gattin folgt dem Gatten:
Das ist Pflicht und Ruhm zugleich.

Ertöne, Drommete, zu heiliger Klage!
O nehmet, ihr Götter! die Zierde der Tage,
O nehmet den Jüngling in Flammen zu euch!"

So das Chor, das ohn Erbarmen
Mehret ihres Herzens Not;
Und mit ausgestreckten Armen
Springt sie in den heißen Tod.

Doch der Götterjüngling hebet
Aus der Flamme sich empor,
Und in seinen Armen schwebet
Die Geliebte mit hervor.

Es freut sich die Gottheit der reuigen Sünder;
Unsterbliche heben verlorene Kinder
Mit feurigen Armen zum Himmel empor.

Felix
11.03.2018, 21:53
Von wem ich es habe, das sag ich euch nicht,
das Kind in meinem Leib.
„Pfui!“ speit ihr aus: „die Hure da!“
Bin doch ein ehrlich Weib.

Mit wem ich mich traute, das sag ich euch nicht.
Mein Schatz ist lieb und gut,
trägt er eine goldene Kett am Hals,
trägt er einen strohernen Hut.

Soll Spott und Hohn getragen sein,
trag’ ich allein den Hohn.
Ich kenn ihn wohl, er kennt mich wohl,
und Gott weiß auch davon.

Herr Pfarrer und Herr Amtmann ihr,
Ich bitte, lasst mich in Ruh!
Es ist mein Kind, es bleibt mein Kind;
ihr gebt mir ja nichts dazu.


Goethe schrieb dieses Gedicht als 26-jähriger während seiner Sturm-und-Drang-Zeit. Es war in dem Jahr, in dem er erstmals nach Weimar kam (im November 1775), aber auch noch in Frankfurt eine Anwaltskanzlei führte.

Eisenvorhang
14.03.2018, 07:36
H. Hesse

Gestutzte Eiche, Juli 1919

Wie haben sie dich, Baum, verschnitten
Wie stehst du fremd und sonderbar!
Wie hast du hundertmal gelitten,
Bis nichts in dir als Trotz und Wille war!
Ich bin wie du, mit dem verschnittnen,
Gequälten Leben brach ich nicht
Und tauche täglich aus durchlittnen
Roheiten neu die Stirn ins Licht.
Was in mir weich und zart gewesen,
Hat mir die Welt zu Tod gehöhnt,
Doch unzerstörbar ist mein Wesen,
Ich bin zufrieden, bin versöhnt,
Geduldig neue Blätter treib ich
Aus Ästen hundertmal zerspellt,
Und allem Weh zu Trotze bleib ich
Verliebt in die verrückte Welt.

Terrapin
06.04.2018, 21:09
Hakodate

Leb wohl denn, Murasaki!
Dein Blick ist tränenschwer,
nun teilen Bett und Saki
wir zwei nicht mehr.

Der Kaiser läßt marschieren,
die Sonnen leuchten klar:
nun gilt es zu verlieren,
was lieb uns war.

Mach's kurz, das ist am besten -
es bleibt des Glücks Beschluß,
daß ich im fernen Westen
mich schlagen muß.

Und jede, die sich frei sah,
die freute es wie dich...
du kriegst 'nen tapfren Taisa
als Tausch für mich.

Ihr reizenden Geschöpfe,
uns allen Schmuck und Zier,
wir schneiden Russenköpfe
und Rosen ihr.

Drum schaut nicht nach der See aus
und nicht den Strand hinab,
die Geisha kommt ins Teehaus -
der Mann ins Grab.

Stuttgart, März 1905.


[Die Gedichte sind aus der Zeit des Russisch-Japanischen Krieges, den Kalckreuth sehr interessiert über die damaligen Medien verfolgte und in etlichen lyrischen Stücken habhaft wurde.]

Abschied

Der Fuji glimmt im ganzen Kreis
vom roten Abendstrahle,
im Dämmerwinde wogt der Reis
im grüngestuften Tale.
Des Tages letzte Feuer fliehn,
rings hüllen graue Schleier ihn,
ein fernes Rauschen hör ich
im Röhricht.

Da ist im Wehn des kühlen Winds
ein Funkeln aufgeglommen.
Es sind die Truppen der Provinz,
die dort vom Berghang kommen. -
Sie ziehen durch den Abendtau,
Gamaschen weiß und Röcke blau,
zu finstren Heerkolossen
geschlossen.

In weitem Bogen rollt das Meer
um Yamatos Gefilde.
Vom Höhenkamme staunt das Heer
vor dem gewalt'gen Bilde.
Vom abenddunklen Flutenschwall
hebt sich der rote Sonnenball,
und Feuergluten weht er
zum Äther.

Die weite Fläche liegt besonnt,
und Well und Eiland blinken,
bis in den düstren Horizont
die Flammen jäh versinken.
Und über der verglommnen Pracht
hebt sacht sich die Azurne Nacht,
und deckt in blauem Bogen
die Wogen.

Da ringt ein Stahlgeklirr sich los
aus der Kolonnen Tiefe,
als ob die Seele Yamatos
zu seinen Kriegern riefe:
Mein Flammengruß ist im Verglühn,
die Schwerter fest – und tretet kühn
den Weg zu Tod und Grab an
für Japan!

Stuttgart, 5. April 1905.

Eisenvorhang
21.04.2018, 10:53
„Misanthropologie" von Erich Kästner:

Schöne Dinge gibt es dutzendfach.
Aber keines ist so schön wie diese:
eine ausgesprochen grüne Wiese
und ein paar Meter veilchenblauer Bach.

Und man kneift sich. Doch das ist kein Traum.
Mit der edlen Absicht, sich zu läutern,
kniet man zwischen Blumen, Gras und Kräutern.
Und der Bach schlägt einen Purzelbaum.

Also das, denkt man, ist die Natur?
Man beschließt, in Anbetracht des Schönen,
mit der Welt sich endlich zu versöhnen.
Und ist froh, dass man ins Grüne fuhr.

Doch man bleibt nicht lange so naiv.
Plötzlich tauchen Menschen auf und schreien.
Und schon wieder ist die Welt zum Speien.
Und das Gras legt sich vor Abscheu schief.

Eben war die Landschaft noch so stumm.
Und der Wiesenteppich war so samten.
Und schon trampeln diese gottverdammten
Menschen wie in Sauerkraut herum.

Und man kommt, geschult durch das Erlebnis,
wieder mal zu folgendem Ergebnis:
Diese Menschheit ist nichts weiter als
eine Hautkrankheit das Erdenballs.

Chavali
21.04.2018, 13:49
...was für eine geniale Menschenstudie, lieber EV :)

toll, dass du das ausgegraben hast, ich kannte es noch nicht.
Danke fürs Einstellen - hab weise lächelnd mit dem Kopf genickt: So isses! :o

LG Chavali

Eisenvorhang
21.04.2018, 20:34
Hi Chav,

ja - es ist absolut genial!
Jede Zeilen hat ihre Berechtigung!

Gern, gern.

vlg

EV

juli
22.04.2018, 07:18
Liebe Chavali,

Beides von Christian Morgenstern


»Lachen und Lächeln sind Tor und Pforte,
durch die viel Gutes in den Menschen hineinhuschen kann.«


»Jede Landschaft hat ihre eigene besondere Seele,
wie ein Mensch, dem du gegenüberlebst.«

Terrapin
16.06.2018, 21:51
Einsamer nie −

Einsamer nie als im August:
Erfüllungsstunde – im Gelände
die roten und die goldenen Brände,
doch wo ist deiner Gärten Lust?

Die Seen hell, die Himmel weich,
die Äcker rein und glänzen leise,
doch wo sind Sieg und Siegsbeweise
aus dem von dir vertretenen Reich?

Wo alles sich durch Glück beweist
und tauscht den Blick und tauscht die Ringe
im Weingeruch, im Rausch der Dinge −:
dienst du dem Gegenglück, dem Geist.

Gottfried Benn

Terrapin
23.06.2018, 22:31
Charles Baudelaire


Der freudige Tote

Schwer soll der Grund und reich an Schnecken sein,
Wo meine Gruft zu schaufeln ich begehre,
Dass dort zum Schlaf sich streckt mein alterndes Gebein
Und im Vergessen ruht gleich wie der Hai im Meere.

Ich hasse Testamente, Grab und Stein,
Und von der Welt erbettl ich keine Zähre;
Nein, lieber lüde ich den Schwarm der Raben ein,
Damit er stückweis mein verwesend Aas verzehre.

O Würmer! Schwarz Geleit ohn Auge, ohne Ohr!
Ein Abgeschiedner kommt, der froh den Tod erkor.
Ihr Söhne des Zerfalls, die dem Genusse leben,

Durch meine Trümmer kriecht mit reuelosem Mut
Und sagt mir: kann es wohl noch eine Folter geben
Für den entseelten Leib, der tot bei Toten ruht?


(aus dem Französischen von Wolf von Kalckreuth)

Terrapin
30.06.2018, 22:29
Das Bißchen Ruhm

Was ähnelt wohl dem bißchen Ruhme
So sehr wie eine Treibhausblume?
Soll dir das arme Pflänzchen sprießen,
Mußt du es täglich brav begießen.
Und Dünger streun. Und Unkraut jäten.
Aufs Wetter sehn. Und leise treten.
Doch pfeifst du drauf, so wirst du nie
Gekrönt von der A-ka-de-mie.


Mascha Kaleko

Terrapin
30.06.2018, 22:32
Keiner wartet

Alle müssen sie heim. Nur ich muß nicht müssen.
Keiner wartet, daß ich ihm das Essen richte.
Keiner sagt, komm, setz dich her. Wie bist du müde!
Schneidet mir keiner das Brot.

Keiner weiß, wie ich war mit achtzehn, damals.
Keiner stellt mir den ersten Flieder hin,
Holt mich vom Zug mit dem Schirm.

Ist keiner, dem ich beim Lampenlicht lese,
Was der Chinese vom Witwentum sagt:
„Die Gott liebhat, nimmt er zu sich,
Ehe er ihr den Geliebten nimmt.“

Mascha Kaleko

Terrapin
30.06.2018, 22:35
Eines der Besten überhaupt!



Memento


Vor meinem eignen Tod ist mir nicht bang,
Nur vor dem Tode derer, die mir nah sind.
Wie soll ich leben, wenn sie nicht mehr da sind?

Allein im Nebel tast ich todentlang
Und laß mich willig in das Dunkel treiben.
Das Gehen schmerzt nicht halb so wie das Bleiben.

Der weiß es wohl, dem gleiches widerfuhr;
– Und die es trugen, mögen mir vergeben.
Bedenkt: den eignen Tod, den stirbt man nur,
Doch mit dem Tod der andern muß man leben.

Mascha Kaleko

Terrapin
27.07.2018, 18:46
Zum Zeitvertreibe
viel leeres Stroh noch klopfen
im Sommermondschein.

Issa

Das steckt so voller Witz.

waterwoman
28.07.2018, 17:32
Bist du neuerdings unter die Haiku-Verehrer gegangen, Terrapin? :D
Leider verstehe ich den "Witz" in dem von dir zitierten Vers so gar nicht :o

Aufklärung wäre schön und hier kommt eines meiner Lieblingsgedichte (Aphorismus)

Die Philister, die Beschränkten,
diese geistig Eingeengten,
darf man nie und nimmer necken.
Aber weite kluge Herzen
wissen stets in unsren Scherzen
Lieb und Freundschaft
zu entdecken.

:p

(Heinrich Heine)

Terrapin
29.07.2018, 08:01
Die japanischen Meister verehre schon viele Jahre. Habe sie gerade nur mal wieder entdeckt.

Das reife geerntete Getreide, wie es früher üblich war, per Hand mit dem Dreschflegel zu dreschen um das Korn von den Ähren zu lösen. Das leere Stroh meint Getreide das schon keine Körner mehr hat. Und dieses weiter zum Zeitvertreib zu klopfen ist eine unnütze Tätigkeit. Das macht mich schmunzeln.

Terrapin
22.04.2020, 23:15
Ich wandle über Mamorplatten
wann keine Sonne loht
die Horizonte glühen trotzdem rot
es streift mich Licht und Schatten
die Wortwahl präsentiert sich arg verroht
inmitten Staub und Kot
die in Vergessen bald bestatten
dass besser gleich Vernichtung droht
erlöst vom lästigen Gebot
nicht mehr am Elend zu ermatten
beengt auch größte Not
nach Flüssigkeit und Brot
und überall entsprießen Ratten
O Drangsal, dem ihr nimmermehr entfloht:
auf einem kleinen Einmannboot...
das Glücksmoment noch zu erstatten...
entscheide dich für leben oder Tod
wir messen Waage gegen Lot
da wir keine Hoffnung hatten.

Rotgold
02.10.2020, 12:26
Die Stadt

Am grauen Strand, am grauen Meer
und seitab liegt die Stadt;
der Nebel drückt die Dächer schwer,
und durch die Stille braust das Meer
eintönig um die Stadt.

Es rauscht kein Wald, es schlägt im Mai
kein Vogel ohn' Unterlass;
die Wandergans mit hartem Schrei
nur fliegt in Herbstesnacht vorbei,
am Strande weht das Gras.

Doch hängt mein ganzes Herz an dir,
du graue Stadt am Meer;
der Jugend Zauber für und für
ruht lächelnd doch auf dir, auf dir,
du graue Stadt am Meer.


Theodor Storm
14.September 1817 in Husum, +4.Juli 1888 in Hademarschen bei Rendsburg/Holstein





Immer wieder gerne gelesen!
Vor allem, nachdem ich selbst in Husum war!

:)

Chavali
03.10.2020, 16:48
Mondnacht

Joseph von Eichendorff

Es war, als hätt der Himmel
Die Erde still geküßt,
Daß sie im Blütenschimmer
Von ihm nun träumen müßt.
Die Luft ging durch die Felder,
Die Ähren wogten sacht,
Es rauschten leis die Wälder,
So sternklar war die Nacht.
Und meine Seele spannte
Weit ihre Flügel aus,
Flog durch die stillen Lande,
Als flöge sie nach Haus.




Immer wieder schön, oder? :)

Rotgold
04.10.2020, 06:58
Immer wieder schön, oder? :)



Wunderschön!
Ich liebe Eichendorff, und besonders auch seine "Mondnacht". :):Herz:

waterwoman
22.07.2024, 08:58
Nicht Mord nicht Bann noch Kerker

11. März 1850

Nicht Mord, nicht Bann, noch Kerker
nicht Standrecht obendrein
es muß noch stärker kommen
soll es von Wirkung sein.

Ihr müßt zu Bettlern werden
müßt hungern allesamt
Zu Mühen und Beschwerden
verflucht sein und Verdammt

Euch muß das bißchen Leben
so gründlich sein verhaßt
daß Ihr es fort wollt geben
wie eine Qual und Last

Erst dann vielleicht erwacht noch
in Euch ein besserer Geist
Der Geist, der über Nacht noch,
Euch hin zur Freiheit heißt



11. März 1850


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Wann geschrieben??
Wieso kommt mir der Text vor, als wäre er in der Gegenwart angesiedelt?

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