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Selbstentgleisung
'Gedichte sind gemalte Fensterscheiben…'
So kann man heute wirklich nicht mehr schreiben!
Glasklar sind heute alle Fensterscheiben
und logisch wahr ist unsre Welt.
Wie auf Fassaden muss man schreiben!
Was allgemein gefällt, was glatt und griffig ist,
was sich in Geld und barer Münze misst,
das nur allein kann sich behaupten.
Wenn Dichter einstmals glaubten,
dass wir die Welt durch Dichtung erst verstehen,
dass das, was wir mit Augen und durch Logik sehen
nur Schatten sind von einer tiefen Wahrheit,
zu der uns erst der Dichtung trübe Klarheit,
wie durch gemalte Fensterscheiben, führt,
dann glaubten sie an eine Welt,
die Logos und Vernunft zusammenhält.
Ein Irrtum, wie die Philosophen uns beweisen!
Drum musste selbst die Lyrik sich entgleisen.
"gedichte sind gemalte fensterscheiben" - im sinne goethes meinte das, dass man ihren glanz, ihre farbenvielfalt und ihr inneres leuchten - also ihr wahres vermögen - erst erkennen kann, wenn man von innen (in der kirche) daraufsieht. für den, der von außen (im vorbeigehen) draufschaut, bleiben die scheiben grau in grau.
das gilt auch heute noch für viele dinge - die menschheit will das bloß nicht mehr wahrhaben, behaupte ich. weils viel zu viel zeit kosten würde, sich in dinge so zu vertiefen, dass man deren wahren gehalt in seinem ganzen umfang erkennen und verinnerlichen (vielleicht sogar genießen) kann. die zeit hat heute keiner mehr. zeit ist geld. und das wird sicher nicht in etwas investiert, dessen gehalt sich nicht schon in der hülle zeigt, beim ersten flüchtigen blick. sicher nicht in etwas, das zu prüfen vor dem erwerb, man weder zeit noch mühe investieren möchte.
die verpackung ist heute mehr wert als der inhalt. die aufmachung wichtiger als das, was der inhalt leistet. weils schneller geht.
oberfläche wird zu gehalt. verpackung zum eigentlichen inhalt. das innen interessiert nicht mehr. die entgleisung von innen und außen ist, was die menschheit aus der bahn wirft und sie diesen kurs weiter vorantreiben lässt.
lebensphilosophie im 21. jahrhundert... von innerem glanz kann da keine rede sein. kirchenfenster sind out, nicht zeitgemäß, zu schwerfällig in der erschließung. man kann sie nichtmal kaufen.
ein "schwergewichtiger" text, lieber thomas, den ich gerne gelesen habe.
lieber gruß,
fee
Liebe fee,
dein verständnisvoller Kommentar hat mich sehr erfreut und macht mir Mut, etwas mehr zu sagen. Wenn ich so etwas schreibe, dann nicht, weil ich denke, dass man zurück kann oder soll, sondern ich suche nach Ansatzpunkten für eine Zukunft. Es wird ja mittlerweile viel von Entschleunigung etc. gesprochen, aber das ist, wie man schon dem Wort entnehmen kann, keine positive Lösung, sondern nur eine Negation einer nicht mehr lange fortführbaren Entwicklung. Eine Lösung habe ich auch nicht. Aber wenn es eine gibt, dann muss sie unserer Art zu Denken und Fühlen (eines ohne das andere geht nicht) eine neue Richtung geben. Den bisher fruchtbarsten Ansatz habe ich in den Schlusszeilen von Schillers 'Die Künstler' gefunden, wo er voraussagt, dass die Trennung von Naturwissenschaften und Kunst dadurch aufgehoben werden wird, dass die Wissenschaft zum Kunstwerk wird. Das ist eine ungeheuerliche Herausforderung an Wissenschaft und Kunst und Goethes Kapelle ist vielleicht in Wirklichkeit eine riesengroße Kathedrale.
Liebe Grüße
Thomas
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