Gedichte-Eiland

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Seeräuber-Jenny 25.03.2009 20:33

Blick in den Spiegel
 
Mein neuer Spiegel im Bad,
umkränzt von hellen Lichtern,
zeigt mir lachend die Zähne:
"Hab nur Mut, keine Scheu!
Komm und schau dich an!"

Als ich vor den Spiegel trete,
bemerke ich, dass da draußen
ein hässlicher Mann lauert.
Er ist mein einziger Verehrer.
Sein Name ist Bruder Hein.

Schaudernd wende ich mich ab.
Nackt und bloß steh ich da
und betrachte mein Spiegelbild:
Eine Frau in den Fünfzigern.
Der Zahn der Zeit nagt an mir.

Eine Brust fehlt, die andre so lala.
Dafür ein paar Jahresringe mehr.
Schmuck und Schminke, wozu?
Wozu mich rasieren, parfümieren,
wenn mein Liebster fort ist?

Unter meinem roten Schopf
lugen graue Schläfen hervor.
Seit er mich verlassen hat,
bin ich noch mehr ergraut,
da hilft selbst Färben nichts.

Mein Blick ist trüb geworden.
Der Kummer hat tiefe Furchen
in meine Mundwinkel gegraben.
Die Nase verstopft vom Heulen,
bekomm ich kaum noch Luft.

Einst waren seine hellen Augen
mein Spiegel, aus dem eine Frau
mich voll Seligkeit anstrahlte.
Elende Augen, sie zeigten mir
nur ein trügerisches Zerrbild!

Mein Spiegel im Bad hingegen,
er spricht immer die Wahrheit:
"Es gibt mehr Schneewittchen
als Äpfel an den Bäumen sind,
alles Gift würde nicht reichen.

Ein schönes heißes Wannenbad
tut wohler als eiskalte Rache."
Ich zupfe mir ein Haar vom Kinn,
und eine lavendelfarbene Woge
spült alsbald meine Tränen fort.

norbert 25.03.2009 21:44

boah, jenny,
nichts ist schwerer, als ehrlich über sich selbst zu schreiben - ohne eskapistisches visier, dass sich hinter metrik und "öffentlich anerkannten" themen versteckt - ich bewundere deinen mut, bin zutiefst beeindruckt!
liebe grüße
ersatzteilbert

Seeräuber-Jenny 26.03.2009 00:19

Aloha mein lieber Nordbert,

aye, da hast du verdammt recht. Es ist mir nicht eben leicht gefallen, so offen und ehrlich zu schreiben, was mir der Blick in den verfluchten Spiegel offenbart hat. Und doch hat er sich gelohnt, denn dieser Spiegel sagte mir auch: "Jenny, ganz egal, wer du bist, steh zu dir selbst wie ein Fels in der Brandung!"

Lieben Gruß
Seeräuber-Jenny

Leier 26.03.2009 07:29

Liebe Seeräuber-Jenny!

Ich kann norbert nur zustimmen:
Es gehört Mut zur Selbsterkenntnis. Das weißich aus eigener Erfahrung.
Du hast Das prima hinbekommen, vor allem ohne übertriebenes Selbstmitleid.
Aber vielleicht winkt in der Ferne ein Tag, an dem Dir helle Augen wieder Spiegel sein werden?

Lieben Gruß
von
cyparis

Seeräuber-Jenny 26.03.2009 10:36

Aloha liebe cyparis,

dein satirisches Gedicht über das Altern hat mich ermutigt, den "Blick in den Spiegel", den ich letzten Sommer geschrieben und später wieder versteckt hatte, ins Forum reinzustellen.

Im Moment kann ich mir nicht vorstellen, dass ich jemals wieder voller Vertrauen in irgendwelche hellen Augen blicken kann, außer in vier Katzenaugen.

Aber wer kann schon in die Zukunft schauen. Eines Tages kommt vielleicht der Märchenprinz auf einem weißen Schimmel angeritten, und Seeräuber-Jenny sinkt ihm vor die Füße.

Lieben Gruß
Seeräuber-Jenny

Klatschmohn 26.03.2009 10:41

Liebe jenny,
ich bin hoch beeindruckt von deinem klaren Gedicht.
Wer kennt das nicht: der Spiegel schaut lieblos und man selbst ist genauso lieblos und starrt auf die Teile, die einem am eigenen Körper nicht gefallen:
Die zu vielen Pfunde, die Körperkonturen, die sich langsam aber sicher immer mehr verwischen, die Falten, die dünneren Haare und was es noch alles gibt.
Das eigene Auge kann so furchtbar lieblos sein.

Aber umso mehr gefällt mir die Kehrtwendung, die Du in deinem Kommentar und in der Lavendelwolke vollziehst.:

Und doch hat er sich gelohnt, denn dieser Spiegel sagte mir auch: "Jenny, ganz egal, wer du bist, steh zu dir selbst wie ein Fels in der Brandung!"

So ist es! Man ist nicht nur sein Körper, es ist das Wesen und das ist das gleiche wie vordem.
Also hast Du uns letztlich ein Mutmach-Gedicht geschenkt und dafür möchte ich Dir sehr danken.

Liebe Grüße,
Klatschmohn

Seeräuber-Jenny 26.03.2009 10:58

Aloha liebster Klatschmohn,

Zitat:

Das eigene Auge kann so furchtbar lieblos sein.
Aye, das eigene Auge ist liebloser und kritischer als es die Augen der Anderen jemals sein könnten.

Uns Frauen wird von klein auf eingetrichtert, wir hätten "schön" zu sein. Diese Schönheit beschränkt sich auf reine Äußerlichkeiten: ebenmäßige Züge in einem Gesicht ohne Falten, ein knackiger Körper mit den richtigen Proportionen usw. Um dem Schönheitsideal nahe zu kommen, sind wir bereit, uns fast zu Tode zu hungern, uns im Fitnessstudio zu plagen, uns beim Schönheitschirurgen das Fett absaugen und die Lippen polstern zu lassen und vieles mehr. Doch wie sehr wir uns auch kasteien, wir werden niemals mit uns zufrieden sein, denn die makellos schöne Frau ist und bleibt immer nur ein Ideal.

Schaffen wir es, diese gesellschaftlichen Konventionen hinter uns zu lassen, dann winkt uns die Freiheit. Wenn wir altern, haben wir kaum eine andere Chance als diesen Weg zu gehen. Und weil uns das Älterwerden hilft, uns selbst zu befreien, ist es ein Segen und kein Fluch.

Lieben Gruß
Seeräuber-Jenny

ReinART 26.03.2009 12:56

Liebe Jenny
gut das mal mit den Augen einer Frau sehen zu dürfen.
Glücklicherweise ist der Fluch des älterwerdens an mir vorbeigegangen.
Sobald ich die von Dir beschriebenen Anzeichen erkenne, tausche ich den Spiegel gegen einen älteren aus und mittlerweile sind die Spiegeloberflächen so matt und zerkratzt, dass ich aussehe wie ein Ungeborenes im Ultraschall. Versuche es mal..;)
Lieben Gruß
reinhard

Seeräuber-Jenny 26.03.2009 13:44

Ahoi Reinhard,

eine geniale Idee! Werde ich in Zukunft auch machen! :)

Lieben Gruß
Seeräuber-Jenny

forelle 16.04.2009 14:16

Blick in den Spiegel
 
Liebe Jenny,

ein bißchen hart gehst du hier schon mit dir in Gericht. Dein Gedicht scheint mir wie ein Erzählstil. Irgendwie so traurig und resegniert, aber auch ehrlich und ohne jegliche Schönung. Kleine Inventur?

Hat mir sehr gut gefallen. Ehrlich , einfach, schlicht , gut.

lieber Gruß .. forelle :)


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