Gedichte-Eiland

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Leier 05.01.2010 16:02

Kindfrau
 
.
.
Tatjana hieß sie
und ihr Gesicht
war Sünde und war es doch nicht.
Konnte denn sie dafür?
Macht hatte sie mit Augen und Mund.
Männer und Frauen wurden dort wund.
Ahnen ließ sie den kindlichen Schoß,
legte den Wahnsinn der Liebenden bloß.
Konnte denn sie dafür?

Sie spielte im Söckchen mit ihren Zehen,
ließ unfrivol flaches Brüstchen sehen,
senkte die Wimpern über süße Schatten,
sah ringsum FastTodesErmatten..

und liebte doch nur den Einen
mit ihren noch schlummernden Sinnen.

Es gab kein Entrinnen.

Tatjana, geblendet von offener Tür,
in Söckchen, Sandalen
und dem dünnen Sommerkleid,
ließ Mutter zurück. Zwei Tage zuvor von Vandalen
als kalter corpus judaicus entfernt. Verschneit.
Konnte sie denn dafür?

Positiv ausgelesen. Die Augen! Die Schatten!
Zu frisch, zu jung für Zyklon B!
Trotzdem schneidend: "Geh! Geh!".
Sie traut ihren Augen nicht, Ratten
statt Menschen, die schwärzeste Nacht.

Sie hat ihre Sache dann gut gemacht.
Etwa Zwanzig pro Tag und Schicht.
Tatjana verhungerte nicht.
Das mit der Kindfrau ging schnell vorbei.
Der himmlische Mund zerschlagen,
Knochen, die aus den Socken rausragen,
das göttliche Pöchen schlaff wie der Magen.
Aber noch nicht auf dem letzten Schragen!


Sie wollte nicht in die feurige Tür.
Kann denn sie dafür?



*****


Abtreibungen der Stücker drei.
Oder vier.
Kann denn sie dafür?
Neunzehnhundertfünfundvierzig war alles vorbei.
Doch sie inzwischen: Ein armseliges Tier.

Kann denn sie dafür?
.



Gehörte ursprünglich zum Text,
jetzt herausgenommen.
.

Motti 06.01.2010 12:32

Hallo Leier,
hast du etwa das "was" vergessen? :confused:

Es las sich doch ein wenig komisch: "Konnte denn sie dafür"

Wieso wurden Männer und Frauen am Mund, wund?
Das verstehe ich nicht?
Und was bitte soll "unfrivol" bedeuten?
Oder meinst du "unfriedvoll"? :confused:

Was bedeuted: Corpus judaicus? :confused:
Ich habe nur: Corpus Juris gefunden.


Alles in Allem, konnte ich, wie du siehst nicht wirklich etwas mit deinem Werk anfangen. :confused:

Seeräuber-Jenny 06.01.2010 23:20

Ahoi Leier,

im Gegensatz zu Motti kann ich mit deinem Werk etwas anfangen, und es lässt mich frösteln, denn es ist sehr eindringlich geschrieben. Keine schöne Poesie, nein, aber die finstere NS-Zeit war eben alles andere als schön.

Das Gedicht erzählt von einem sehr jungen jüdischen Mädchen, das dem Inferno der Vernichtungslager entging, weil es hübsch war, doch stattdessen die Hölle auf Erden erlebte, denn es wurde auf übelste Weise missbraucht und war am Ende mehr Tier als Mensch.

Darf ich an Leiers Stelle antworten, Motti? "Unfrivol" ist einfach das Gegenteil von "frivol", denn Tatjana war noch ein unschuldiges Kind, als ihr dieses Schicksal widerfuhr. Und der "Corpus judaicus" ist der kalte Leichnam der Mutter von Tatjana, der von den NS-Schergen wie ein Stück Müll entsorgt wurde.

Lieben Gruß
Seeräuber-Jenny

Leier 07.01.2010 10:03

Guten Morgen, Motti -

das "was", das Du vermissest, ist sehr umgangssprachlich.
Mein Refrain ist dem Französischen (Elisabeth Barbier) entlehnt, die sehr delikat ins Deutsche übertragen wurde.

Männer und Frauen wurden an diesem himmlischen Mund wonnewund. Liebe kann immer wieder süße Schmerzen bereiten.

Deine anderen beiden Fragen hat Seeräuber-Jenny liebenswürdigerweise beantwortet.

Gruß
cyparis

***

Liebe Seeräuber-Jenny -

da mein Gedicht so gar nicht verkryptet ist, ist der Inhalt wohl eindeutig.
Ich wollte einmal mehr dem Vergessen entgegenwirken und hier nicht unbedingt "schöne" Lyrik schreiben, dennoch von meinem Stil nicht zu sehr abweichen.
Hab Dank für Deinen Kommentar!

Lieben Gruß
von
cyparis

a.c.larin 07.01.2010 12:58

hallo leier,
da hast du ja was ganz düsteres aufgepiekt - und insoferne würds von der form her ja gar nicht passen, wenn das ein "schönes" gedicht wär.

leider ändert solche dichtung nichts an den tatsachen - es hilft nicht den opfern und hindert nicht die täter.....:mad:

hoffnung, die bleibt: vielleicht tröstet es ein wenig die "zuschauer" über deren ohnmacht hinweg.

wo so viel trauriges ist, ziehe ich es vor zu schweigen....

betroffene grüße, larin

Leier 07.01.2010 21:14

Liebe larin,

daß es den Opfern nicht hilft, will ich nicht ganz stehenlassen.
Daß man immer wieder daran erinnert hat (natürlich nicht vorwiegend durch Gedichte), hat mitgeholfen, schon in den 68er Jahren, die mich auch geprägt haben, hingerichtete Widerstandskämpfer zu rehabilitieren. Beileibe nicht alle. Aber der Anstoß kam.
(Nicht zu verkennen, daß durch Schriftsteller Globke, Lübke und Kiesinger decouvriert wurden, auh Waldheim in Österreich).
Es wäre an der Zeit, auch diesen geschändeten Frauen postum Gerechtigkeit widerfahren zu lassen.
Also versuche ich auch hier an diesem ruhigen Ort daran zu erinnern.
Was die Täter betrifft:

Es bleibt das Alle mahnende
"Wehret den Anfängen"!

Da sollten wir uns nicht ohnmächtig fühlen.

Hab Dank für Deinen Kommentar.

Lieben Gruß
von
cyparis

Seeräuber-Jenny 10.01.2010 06:30

Ahoi Leier und larin,

ich denke, dass wir als deutsche Dichter sogar die Verpflichtung haben, gegen das Vergessen anzuschreiben. Auch wenn wir persönlich "Dank der Gnade der späten Geburt" nicht Täter oder Opfer waren, so wissen wir doch aus den Erzählungen unserer Eltern, was zur Nazi-Zeit abgegangen ist. Dieses Wissen darf nicht verloren gehen. Denn auch heute ertönen noch laut rassistische Parolen und das Gerücht von der Auschwitz-Lüge kursiert. Dem müssen wir Fakten entgegen setzen.

Lieben Gruß
Seeräuber-Jenny

Medusa 10.01.2010 11:36

Guten Morgen Leier, liebe Jenny,

Unwissen macht sich breit, ohne Frage! Jugendliche, die vom Haus der Wanseekonferenz nicht einmal gehört haben, nehmen in beängstigendem Maße zu.

Meine Söhne und ich sind Opfer dieser Zeit: Ich hatte weder Vater noch Großväter, meine Söhne hatten auch keine Großväter. Was das bedeutet, kann sich nur vorstellen, wer es erlebt hat, denn Großväter sind eine der wichtigsten Säulen einer Familie.

Trotzdem hadern wir nicht mit unserem Schicksal! Ich empfinde das ständige Wiederkäuen der Schuld, die unsere Altvorderen auf sich geladen haben, allmählich als unnötig; im Ausland zeigen sie uns einen Vogel! Jugendliche in Israel, die viel umfassender politisch gebildet sind als unsere, stehen dem Unrecht, das ihren Familien widerfahren ist, viel bewusster und keineswegs mehr nachtragend gegenüber.

Ich wünschte mir, dass wir diese Zeit allmählich mit Abstand, nicht mit Vergessen! behandelten und jenen nacheiferten, die ihre Geschichte kritisch sehen, nicht jedoch in die Gegenwart zerren. Irgendwann muss Schluss sein.

Liebe Leier, Dein Gedicht ist eindringlich und in hohem Maße scheußlich, weil es der Wahrheit entspricht.

Liebe Grüße,
Medusa.

Leier 10.01.2010 12:24

Guten Tag, Medusa!


Zitat Medusa:
Dein Gedicht ist eindringlich und in hohem Maße scheußlich, weil es der Wahrheit entspricht.

Da bin ich ein bissel enttäuscht, denn in meinen Augen ist das arg mager.
Von Dir bin ich Ausführlicheres und Gehaltvolleres gewohnt.
Zumindest Hinweise auf Metrik- oder andere Fehler.
Was mag dahinterstecken?

Trotzdem Dank
von
cyparis





PS:

Seit ein paar Stunden läuft eine Erinnerungssendung in HR3 .
Sie widmet sich dem Nichtvergessen.
Hört mal rein!


Alle Zeitangaben in WEZ +2. Es ist jetzt 13:06 Uhr.

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