Gedichte-Eiland

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Erich Kykal 04.08.2014 12:16

Perspektive
 
Den Tropfen gleich an einem Regentage,
die ohne Zahl aus allen Wolken fallen,
sind Menschenleben, und im Winde wallen
sie ohne Antwort auf die bange Frage,

was kommen mag, nachdem die harte Erde
sie ihrer Form und Wesenheit beraubte
und ohne Achten, was ein Tropfen glaubte,
ins Dunkel sog, auf dass ein Wachsen werde.

Das Leben selbst mag einen Sinn behalten,
der sich dem einzelnen von je verschließt.
Der klare Tropfen, der den Samen gießt,
verliert sich selbst, um Neues zu gestalten.

Solang er schwebt, mag er um seinetwillen
die vage Hoffnung hegen, dass die Welt
nur existiert, damit der Regen fällt -
und nicht, damit sich Ozeane füllen.

Thomas 04.08.2014 17:19

Lieber Erich,

da ist dir wieder ein sehr gutes Gedicht gelungen. Eigentlich würde man dem Regentropfen ja kein Leben (und keine Denken) zubilligen, aber wenn...

Liebe Grüße
Thomas

Erich Kykal 04.08.2014 21:28

Hi, Thomas!

Du veräppelst mich, oder? Das ist ein Gleichnis, wie die allererste Zeile schon verrät. Aber das hast du sicher erkannt. Natürlich sind Tropfen leb- und gedankenlos. Allerdings könnte man zuweilen meinen, dass derlei auch auf so manche Menschen zutreffen könnte!;):D

Danke für deine erheiternden Gedanken!:)

LG, eKy

juli 05.08.2014 16:47

Hallo eKy :)
 
Es hat alles seinen Sinn:)

So wie die Erde manchmal die Regentropfen braucht, damit etwas wachsen kann.
Auch Menschen brauchen sich, und manchmal verliert der Mensch auch selbst, so wie der Tropfen Wasser seine Struktur verloren hat, doch die Moleküle sind ja nicht verloren, nur verändert....

Ich weiß nicht, ob ich Dein Gedicht "richtig" interpretiert habe.

Dennoch sehr gerne gelesen, oder gerade weil ich nachdenken mußte:)

LIebe Grüße sy

Dana 05.08.2014 18:41

Lieber eKy,

ein wunderschönes Gleichnis über den Sinn des Lebens. Besonders deshalb, weil eine Antwort offen bleibt - doch die Sprachmelodie und Metaphern entführen in Un- und Möglichkeiten.;)
Einen Sinn, bzw. einen Grund ergibt jede Materie (bis auf Zecken :D), doch ob es die sind, die wir erdenken, erfahren wir nie.
Fast alles ergibt einen Kreislauf über dessen Grenzen wir (noch) nicht schauen können.

Syranie hat schon in diese Richtung geantwortet.
Aber der Gedanke von Thomas lässt sich auch unendlich weiter spinnen.
Wer sagt denn, dass der Regentropfen nicht lebt? Ausschließlich wir Menschen, und das obwohl wir die Bewegung von Atomen und Molekülen längst nachweisen können und letztendlich daraus bestehen.
Der Regentropfen, wenn er in meinem arg trockenen Garten "zerschellt", wird nie zu der Überzeugung gelangen, dass er Ozeane füllt, weil er die Umwege nicht kennt.
Wir wissen um viele Umwege des Kreislaufs - nur wenn es um den eigenen geht, wollen wir es nicht wahrhaben. Dafür erdachten wir Götter und das Himmelreich. Zwar abwägig aber unendlich haltbar.:cool:

Tiere, Pflanzen und Regentropfen haben einen großen Vorteil uns gegenüber:
Sie "leben ihr Leben" ohne in ihre Ordnung und Unordnung einzugreifen. Sehr sinnerfüllt, wie ich finde.

Liebe Grüße
Dana

Erich Kykal 05.08.2014 19:18

HI, Sy, Dana!

Das Gedicht richtet sich im Grunde gegen die (arrogante und/oder unsäglich dumme) anthroposophische Weltsicht, der zufolge der Mensch Mittelpunkt und Maß aller Dinge sei. Menschen mit dieser Auffassung meinen, das ganze Universum gäbe es NUR wegen ihnen, ob nun von einem Gott geschaffen, um die Gläubigen zu prüfen, oder weil man überzeugt ist, dass nirgends sonst Leben existiert - intelligentes, wohlgemerkt, denn alles andere machen wir uns ja untertan...:rolleyes::Aua

Im Gleichnis ist das der Tropfen, der glaubt, die Welt existiere nur, damit der Regen fallen kann, er also sein Tropfenleben leben darf, weil er nur die Tropfen um sich herum erkennt und alle anderen Zusammenhänge nicht sieht noch durchschaut.
Die Tropfen sind Ausgelieferte, Getriebene des Windes, "aus allen Wolken gefallen" - wie tröstlich muss da der Gedanke an einen gütigen Schöpfer sein, der dem Ganzen Sinn und Ziel verleiht, auch über den unausweichlichen Aufschlag auf dem Boden hinaus.
Tatsache ist aber, dass die Existenz der Tropfen das Ergebnis physikalischer Abläufe ist, und dass der Welt/dem Universum egal ist, was sich so ein Tropfen beim Fallen denkt.
Dies alles ist natürlich als Gleichnis auf die Existenz des Menschen gedacht, der sich wie der Tropfen verhält und inbrünstig nach einem übergeordneten Sinn in seiner Existenz sucht, wo meines Erachtens aller Wahrscheinlichkeit nach nie einer war und nie einer sein wird. Bestenfalls der, den sich der "Tropfen" während seines "Falls" selbst gibt, gleich ob wahr oder falsch - was immer das dann für die Tropfen in seiner Umgebung bedeutet.
In diesem Punkt bleibe ich persönlich lieber bei empirisch Beweisbarem, sprich dem nächstmöglichen uns begreiflichen Substitut von Wahrheit. Irgendetwas zu glauben, nur um Trost zu schöpfen, mich also selbst zu betrügen, bloß um mich behütet oder gar überwacht zu fühlen, ist meine Sache nicht.

Vielen Dank für eure Gedanken!:)

LG, eKy

Thomas 06.08.2014 11:33

Lieber Erich,

natürlich habe ich das Gleichnis bemerkt. Ich wollte nur etwas kryptisch bleiben. Jetzt hast du ja leider alles genau erklärt. Ich finde das Gedicht sehr gut. Übrigens scheint Protagoras mit seinem Ausspruch "der Mensch sei Maß aller Dinge" genau das Gegenteil von dem verstanden zu haben, was die Arroganz heute damit mein, nämlich eine Aufforderung an die menschliche Bescheidenheit, die Dinge nicht so zu sehen, als hätte man göttliche Weisheit, sondern als Mensch zu urteilen. Er würde also deinem Gedicht wahrscheinlich zustimmen.

Liebe Grüße
Thomas

Erich Kykal 06.08.2014 12:10

Hi, Thomas!

Bei einem Spruch wie dem von Protagoras (Also ich kenn ja nur den Pytagoras...:D) kommt es eben darauf an, welches Menschenbild der Aussagende grundsätzlich hat.
Die "In-der-Gnade-Stehenden" eines Gottes werden es interpretieren wie der Bibelspruch sagt: "Macht euch die Erde untertan!", denn die Gottgesegneten erfüllen ja nur einen höheren Willen - welch perfide Ausrede und Rechtfertigung für rücksichtslose Ausbeutung und bodenlose Hybris!:mad:
Reifere Gemüter sehen es eher wie du ansprichst: Der weise, bedachtsame und demütige Mensch sei das Maß, an dem unser Handeln und Wandeln gemessen sein soll!
Aber wer von denen, die Macht haben, hätte je aufrichtig auf die Weisheit gehört...:rolleyes:
Das schließt sich fast aus, denn jene, welche die Macht suchen, tun dies ja zumeist gerade aus einem eklatanten Mangel an Weisheit heraus!:Aua

LG, eKy

Falderwald 12.08.2014 16:13

Servus Erich,

das finde ich sehr gelungen, denn ich meine, das Dasein eines Wassertropfens aus der menschlichen Perspektive widerzugeben, bedarf einer gelungen Metaphorik und die finde ich hier gegeben.

Ohne jegliche Ironie auskommend, beschreibt der Text einen Teil der menschlichen Hybris, dass sich die ganze Welt nur um ihn dreht.
Andererseits bedingt eines das andere und zeigt somit das eigentliche Paradoxon auf.

Die Perspektive kommt nämlich nur zustande, wenn auch ein Beobachter da ist, was ja auch heißt, dass sich die Ozeane nicht ohne den Tropfen füllen könnten, denn die Sonne tut unbarmherzig ihre Arbeit.

Und so ergänzen sich eben alle Perspektiven. Denn nur vereinigt würden sie ein Gesamtbild abgeben.

Das Gedicht hat mir sehr gut gefallen und konnte mich überzeugen. :)


Gerne gelesen und kommentiert...:)


Liebe Grüße

Bis bald

Falderwald

Erich Kykal 12.08.2014 18:59

Hi, Faldi!

Vielen Dank für diese profunde inhaltliche Ausleuchtung!:)

Wir "fallen" ja auch durch unser Leben ohne Netz und doppelten Boden, wissen nur, dass irgendwann der Aufprall kommen wird. Jeder Versuch, sich Sicherheit zu schaffen, ist Illusion eines Augenblicks.:rolleyes:

LG, eKy


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