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Alt 27.12.2011, 14:44   #2
Stimme der Zeit
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Hallo, Faldi,

wie kommt es nur, dass mir beim Lesen prompt "Die Gewöhnlichkeit der Mächtigen" in den Sinn kam? Das muss an mir liegen, oder? Was ich immer für komische Gedanken habe, also wirklich. Ich sollte mich schämen. Ganz besonders in der Weihnachtszeit.

Der Mensch ist ein gewöhnliches, gewöhnungsbedürftiges Gewohnheitstier, so viel steht fest. Ich zum Beispiel bekomme beim Kaffeetrinken immer Lust auf eine Zigarette - und beim Rauchen Lust auf einen Kaffee. Das ist so eine Gewohnheit von mir, ich habe mich mit der Zeit daran gewöhnt, dass Kaffee und Zigarette irgendwie zusammengehören. Schon lästig, diese "festsitzenden", alten Gewohnheiten.

Wobei es politisch immer interessant ist. Was die Macht der Gewohnheit betrifft, so gewöhnen sich Politiker an Macht, was dazu führt, dass sie für gewöhnlich, aus lauter Gewohnheit natürlich, ihre eigene Gewöhnlichkeit übersehen, da sie es nicht anders gewöhnt sind. Macht nichts, sagt mancher. Mir macht's was, da ich es nicht anders gewohnt bin und für gewöhnlich Gewohnheiten nicht mag, weil ich mich an manches nicht gewöhnen kann. Macht gewohnheitsmäßig einen Unterschied, aber daran habe ich mich mit der Zeit gewöhnt, vor allem, dass manche das für gewöhnungsbedürftig halten.
Macht nichts.

Zitat:
Die Weihnachtszeit nähert sich wieder,
das staatsoberhäuptige Wort
verkündet wie immer im bieder
rhetorisch geschulten Akkord,
fein eingeübt und digital
der Absichten gute Moral.
Auch das ist leider schon eine Gewohnheit seitens der Bevölkerung geworden. Der Gewöhnungseffekt ist so groß, dass wahrscheinlich ein Aufschrei des Schreckens durch das ganze Land gehen würde, wenn es mal ungewöhnlich anders wäre.

Gewohnheit gibt Sicherheit, denn man weiß: So lange alles so bleibt, wie es ist, besteht nicht die Gefahr, dass es schlimmer wird. Nein, nein, immer schön auf den altgewohnten, eingefahrenen Gleisen. Die sind so gut und so oft geschliffen, dass es brav und bieder flutscht. Zum einen Ohr hinein und zum anderen Ohr wieder hinaus. Ja, liebe Politiker, wo nichts geredet wird, das "haften bleiben" könnte, besteht auch nicht die Gefahr, aus Versehen, ganz gegen jede Gewohnheit, etwas zu sagen.

Ich bin von dir dahingehend verwöhnt, dass ich immer wieder auf interessante Formulierungen stoße: "Das staatsoberhäuptige Wort", einfach gut, das kann jedes Jahr passen, wunderbar "zeitlos". Und absolut grausam, denn ich werde mich nie daran gewöhnen, dass das so ist.

Ebenso gut: "Die Moral der guten Absichten", ach nein, es heißt ja "Die gute Moral der Absichten" (Verzeihung.) - eigentlich sogar noch besser. Gewöhn dich nicht daran, dass ich jetzt mit einem fiesen Grinsen hier sitze und tippe, ja? Bei mir ist es eine Macht der Gewohnheit, immer irgendwelche sonderbaren "Nebengedanken" zu hegen. Ja, die guten Absichten haben eine Moral - was für gewöhnlich selten oder nie etwas mit dem "Absichtshegenden" zu tun hat. Hm. Ist vielleicht das politische Äquivalent zum Rauchen. Mit der Gewohnheit als Tasse Kaffee und der Macht als Nikotin. So oder so, diese lästigen Gewohnheiten sind wirklich etwas zum Abgewöhnen.

Zitat:
Doch hinter verborgenen Ecken
klingt heimlich das ewige Lied,
dort dienen die Mittel den Zwecken
und auch für so manchen Kredit,
womit man mit ganz wenig Kraft
sich Abhängigkeiten erschafft.
Du hättest mal früher meinen Schulhof sehen müssen. Hinter der Ecke des Schulgebäudes haben wir alle heimlich in der großen Pause geraucht, gruppenweise natürlich. War immer das gleiche Lied, einfach unverbesserlich. Die Gewohnheit des Gruppenverhaltens, und irgendwann gewöhnt man sich daran, so dass man danach auch ganz alleine hingeht. Wenn Koffein und Nikotin bloß nicht so abhängig machen würden! Das ist ja das Gemeine. Eigentlich müssten uns die Politiker ja leid tun. Nach so vielen, vielen Tassen Politkaffee (mit Milch und Zucker, noch schlimmer - obwohl, manche trinken das Zeug auch schwarz) und so viel ein- und ausgeatmetem Qualm, da ist das wahrscheinlich irgendwann gar keine Gewohnheit mehr. Das ist eine Sucht, die Ärmsten können sicher gar nicht mehr anders.

Entzugserscheinungen können ganz schlimm sein: Ich bin mal nachts um Drei zur Tankstelle gelaufen, weil ich keine Zigaretten mehr hatte. Wie schlimm geht es da erst den Politikern? Du meine Güte, die reisen für ein bisschen Politkaffee und ein Zigarettchen glatt um die halbe Welt!
Die blamieren sich ohne weiteres öffentlich, alles nur für die Sucht! Schlimm, schlimm. Ich sollte mich schon wieder schämen. Ich hätte an Weihnachten wenigstens ein paar Schachteln Zigaretten und ein Päckchen Kaffee nach Berlin schicken sollen. Dann wäre die Digiqual sicher nicht nötig gewesen. Wobei ich etwas wirklich unfair finde. Warum bekomme ich an der Tankstelle keinen Kredit? Ich hatte den Geldbeutel zu Hause vergessen und musste noch mal zurück und wieder hin. Das war gemein. Ich bin gar nicht gerne vom Wohlwollen eines Tankwarts abhängig, ehrlich. Er hatte keine Lust, traute meiner Kreditwürdigkeit nicht, und schon hieß es: Nee, erst zahlen, dann mitnehmen. Das ist unfair. Warum dürfen andere Leute erst mitnehmen, um dann entweder irgendwann dafür zu bezahlen oder oft sogar nie, weil sie es einfach geschenkt bekommen? Daran gewöhne ich mich nie! Grmpf.

Zitat:
Betrachtet man solche Rendite,
ein Posten bringt immer Rabatt,
so sieht man, daß diese Elite
das richtige Oberhaupt hat.
Verbleiben Sie, Herr Präsident,
damit es so bleibt, wie man's kennt.
Also, jetzt schlägt's aber Dreizehn! Erstens bekomme ich, wie gesagt, von meinem Tankwart keinen Kredit. Und zweitens bin ich im Supermarkt Stammkundin - und habe trotzdem noch nie einen Rabatt bekommen! Das ist jetzt aber wirklich fies. Wo bleibt hier der Tankwart? Der sollte dem Herrn doch glatt die Zigaretten wieder wegnehmen! Und den Kaffee auch! Warum? Na, weil das so nicht geht, echt nicht. Ich will auch Rendite haben, wenn ich einen Kredit aufnehme! Statt dessen soll ich zahlen, das ist eine bodenlose Gemeinheit!

Sonderpostenrabatte nur für die Elite? Hmpf, nun gut, in Sonderpostenramsch ist ohnehin der Wurm (oder die Made, je nachdem) drin - ich will's ja eigentlich gar nicht haben. Aber es geht hier ums Prinzip! Unabhängig davon, ob ich einen Wurm mit Namen kenne: Gleiches Recht für alle! Rabatte für jeden! Bei Aufnahme eines Kredits bezahlt ihn die Bank künftig gefälligst an den Kreditnehmer zurück, und das doppelt! Wenn ich künftig Kaffee kaufe, will ich wenigstens alle 10 Packungen eine gratis als Rabatt; und bei Zigaretten - ach nö. Ich sollte sowieso damit aufhören ... das lasse ich. Ständig Qualm zu verbreiten ist irgendwie nicht das Wahre. Ich sollte mich schämen.

Das ist diese vermaledeite Macht der Gewohnheit, sie ist schuld. Die kenne ich seit zu vielen Jahren. Und ich träume ständig davon, lästige Angewohnheiten wieder loszuwerden. Wenn die bloß nicht so ungewöhnlich hartnäckig wären, kaum ist eine weg, entstehen zwei neue Gewohnheiten ...

Und ich kann mir nicht helfen, daran gewöhne ich mich nie.


Wie von mir gewohnt , zum "Formalen":

Das Reimschema ist ababcc. Wie eine "verkürzte" Stanze, die beiden letzten Verse bieten mit ihrem Paarreim interessante Möglichkeiten zu "pointieren", was hier auch sehr gut umgesetzt wurde, mit noch etwas Verstärkung durch die männlichen Kadenzen.

Mir fiel auch auf, dass die Endreime allein schon fast eine kleine "Geschichte" erzählen. Und sehr gut gemacht ist die Häufung des harten Konsonanten "t" bis hin zur dritten Strophe. Zur Veranschaulichung: In Strophe 1 findet sich der Konsonant "t" - 13 Mal. In Strophe 2 - 11 Mal und in Strophe 3 - 17 Mal. Das hat seine "Wirkung".

Ich kann nicht alles anführen, das würde wirklich sehr lang. Nur ein, zwei Beispiele, die sowohl Vokalisation als auch Alliteration zeigen:

Zitat:
Die Weihnachtszeit nähert sich wieder,
Ein Beispiel für einen Endreim:

Rendite - Elite.

Gut platzierte Diphtongen, Doppelvokale und Doppelkonsonanten. Ich wollte das mal erwähnen, da steckt viel "Klang" und Können darin.

Das Metrum ist auch interessant, der Rhythmus funktioniert nach dem ersten "Einlesen". (Ich schreibe gleich, warum ich das sage. )

Vierhebige Daktylen mit Auftakt, im Paareim dreihebige Daktylen. Alternierende Kadenzen in den ersten vier der jeweils sechs Verse in den Strophen, der abschließende Paarreim mit männlichen.

Haben dir die jeweils fünften Verse eigentlich ordentlich Denkbarbeit verursacht? Ich kann sie jambisch oder daktylisch lesen, denn ein Wort wie "wenig" unbetont zu lesen, ist, wenn gewollt, meines Erachtens nach legitim:

fein eingeübt und digital
fein eingeübt und digital

womit man mit ganz wenig Kraft
womit man mit ganz wenig Kraft

Verbleiben Sie, Herr Präsident,
Verbleiben Sie, Herr Präsident,



Es ist ein ausgezeichnetes Gedicht, formal und inhaltlich!

Sehr gerne gelesen und kommentiert.

Liebe Grüße

Stimme
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Geändert von Stimme der Zeit (27.12.2011 um 21:21 Uhr)
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