Thema: Verwirrung
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Alt 05.01.2012, 14:38   #3
Thomas
Erfahrener Eiland-Dichter
 
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Registriert seit: 24.04.2011
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Liebe Chavali,

danke, dass du da auf lustige Art ein sehr tiefgehendes Problem angesprochen hast. Ich muss aufpassen, dass ich nicht zu viel dazu sagen und auch rechtzeitig einen 'Stopp' mache.

Ich denke, dass allein die Fokussierung auf die Frage des Reimes ein sehr eingeschränktes Verständnis von Poesie verrät, ob man nun der Meinung ist, ein Gedicht müsste sich unbedingt reimen, oder es dürfe sich heute nicht reimen, ist dabei Nebensache. Die Frage, wann etwas ein Prosatext ist, und wann ein Gedicht ist nicht einfach zu beantworten. Ich habe darüber schon viel nachgedacht und glaube ein relativ einfaches Hilfskriterium gefunden zu haben, welches fast immer stimmt: Wenn der Text 'singbar' ist, ist es ein Gedicht. Was zufällig daran erinnert, dass Lyrik ursprünglich zur Leier gesungen wurde. Viele der ungereimten griechischen Formen z.B. sind nur in diesem Zusammenhang zu verstehen. Und wenn man das übersieht, wie z.B. Goethe bei der Erschaffung seines 'Prometheus', dann kommt dabei möglicherweise etwas ganz tolles heraus, aber nichts, was allgemeingültige Grundlage der Poesie werden kann. Was Goethe wusste.

Der Reim ist eine Erfindung der Araber, der im Mittelalter nach Europa kam, und er ist ein sehr machtvolles Hilfsmittel, dessen sich ein Dichter nicht ohne Grund, bzw. nur mit sehr triftigen Gründen entledigen sollte. Argumente wie, ich fühle mich durch Reime 'unfrei' oder 'eingeengt' sind jedenfalls keine triftigen Gründe, sondern Ergebnis einer recht oberflächlichen und ich-bezogenen Beschäftigung mit dem wichtigen Thema der Dichtkunst.

Was ich gerade gesagt habe, darf aber bitte nicht so verstanden werden, dass Dichter heute frühere Dichter nachahmen sollten. Im Gegenteil! Aber wirklich Neues kann nur durch ersthafte Auseinandersetzung mit dem Alten entstehen. Als gelungenes Beispiel für eine derartige Auseinandersetzung ist Schillers 'Über naive und sentimentalische Dichtung', welches (meiner Meinung nach) zur Pflichtlektüre jedes ernsthaften Dichters gehört. STOPP!

Liebe Grüße
Thomas
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