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Alt 10.01.2012, 18:31   #5
Stimme der Zeit
Erfahrener Eiland-Dichter
 
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Liebe fee,

das ist ein wunderbares Gedicht, mein voller Ernst. Auf mich persönlich wirkt die Struktur wie "Brandungswellen", so, als ob eine Welle nach der anderen ans Ufer rollt. Ich fand im Web einen Link mit einem kleinen, kurzen Video, das zumindest ungefähr mit meinem Vorstellungsbild "übereinstimmt": ht tp://w w w.fotosearch.de/CSV005/k3962601/ - (bitte die Leerzeichen entfernen).

Mir gefallen besonders die langen Verse. Gerade aufgrund der "Zweiteilung" bzw. "Zusammenfügung". Außerdem ergibt sich so ein "wellenförmiges Versmaß", das ich einen achthebigen Jambus mit einem daktylischen Versfuß in der Mitte nennen würde - das sorgt für eine starke Zäsur an diesen Stellen, was wiederum genau diese "Wellenwirkung" bei mir erzeugt.

Ich mache das eigentlich selten, aber da ist wirklich sehr, sehr schön und ganz hervorragend ausgearbeitet, deshalb möchte ich den Aufbau gerne einmal darstellen:

Zitat:
Geh ich spaziern in deinen Zeilen, so ist's, als wärn sie mir ein Bach, xXxXxXxXx/xXxXxXxX 8-m
auch Fluss vielleicht, dran zu verweilen, der breitet mir sein Ufer flach. xXxXxXxXx/xXxXxXxX 8-m
Der lädt mich ein, entlangzuwandern, die müden Knöchel mir zu kühlen, xXxXxXxXx/xXxXxXxXx8-w
mich innehaltend frisch zu fühlen, und dir zu folgen in Mäandern, xXxXxXxXx/xXxXxXxXx8-w
die du der Landschaft eingegraben - xXxXxXxXx/ 4-w

des Kalligraphen Pinselspuren. xXxXxXxXx/ 4-w
So zeichnen sie auf grünen Fluren mir Bildnis, mich daran zu laben. xXxXxXxXx/xXxXxXxXx8-w
Glatt spür ich Kiesel unter Sohlen, von dir beschliffen, groß und rund. xXxXxXxXx/xXxXxXxX 8-m
Hab mir im Drübergehn befohlen, sie nicht zu sehn nur als den Grund, xXxXxXxXX/xXxXxXxX 8-m
den zu beschreiten sie mich locken, mit sonnenstrahlgefangner Wärme xXxXxXxXx/xXxXxXxXx8-w
zum Flimmertanz der Mückenschwärme. xXxXxXxXX/ 4-w

Nein - manchmal will ich niederhocken, xXxXxXxXX/ 4-w
will mit den Händen sie begreifen, mit Fingerspitzen tiefer tasten xXxXxXxXx/xXxXxXxXx8-w
nach dem im Wort noch nicht Erfassten. Und langsam seh ich etwas reifen, xXxXxXxXx/xXxXxXxXx8-w
das sich nicht zeigt über den Wellen, das sich entzieht dem Sonnenlicht: xXxXXxxXx/xXxXxXxX 8-m - hier ist der einzige, kleine Betonungsfehler: Das Wort "über". Kein Vorschlag, nur als Anregung, denn "über" hat hier eine bestimmte Bedeutung, das macht es schwierig: das sich nicht zeigt auf diesen Wellen, ...
Dich, Wassergeist, dich sieht man nicht, forscht man nicht tiefer nach den Quellen. xXxXxXxX /xXxXxXxXX8-w
Bis auf das eine Wort ist es "makellos", und du verzeihst mir sicher, dass ich als "alte Gedichtetechnikerin" erst mal mein extradickes Lob für die "Form" äußern muss. Auch die "kleinen Wellen" der vierhebigen Verse sind a) schön und b) geben dem Reimschema noch etwas "Extra". Das durch diese Schreibweise entstandene Reimmuster ist sehr schön (für mich). Ich erkenne so darin Mitten-, In-, End-, vesrübergreifend Binnen- und sogar Zäsurreime, die etwas sehr Seltenes sind. (Ja, natürlich könnte man die Verse in vierhebigen Jamben untereinander setzen, das würde auch ein schönes Gedicht sein, aber hier schätze ich besonders das außergewöhnliche Reimmuster, das sich ergibt; und ich würde das vierhebige Gedicht mit einem kleinen Fluss oder Bach assoziieren, während ich hier eindeutig "Meeresbilder" empfange.) Ich weiß, dass im Gedicht von Fluss oder Bach die Rede ist, aber ich assoziiere die "Melodie", die mich zum "Mitsummen" verleitert, eher mit einem Meer (ganz persönlich).
Und dafür auch ein Lob: Es hat eine Melodie! Gleich im 2. Vers hatte ich sie "gefunden". Es ist diese Melodie, die mich ein ruhiges, glattes Meer sehen lässt und kleine Brandungswellen, die an ein Ufer spülen. Noch dazu: Hier "mäandern" nicht nur die Reime durch die Zeilen, sondern auch die Kadenzen.

Ich gebe zu, dass ich dieser Vorstellung gerne "erliege", denn ich bin eine "Meeresliebhaberin" ...

Genug von der "Form" geschwärmt. Den Inhalt habe ich nicht vergessen, auf keinen Fall, denn auch dieser ist ausgesprochen schön!

Der Inhalt lässt mich ein LI sehen, das am Ufer eines Flusses (oder Baches) entlangwandert. Für mich ist in den Zeilen "Sommer", denn das Wasser wirkt einladend, sich die vom Gehen "müden Knöchel" zu kühlen (gefällt mir, dass du hier nicht "Füße" schreibst, ich finde die Wahl gut, es ist mal etwas "anderes"). Das LI macht eine Pause, und folgt mit den Augen den Windungen den Flusses. Sehr schön, das mit den "Pinselstrichen eines Kalligraphen" zu vergleichen! Bei mir "wechselt" das innere Bild, und zeigt mir die Kalligraphie eines Flusses (für einen Moment).

Und es ist eindeutig ein "naturbelassener" Fluss oder Bach, denn er mäandert und hier finde ich die "grünen Fluren" - das lässt mich Gras, Bäume und Sträucher sehen. Danach kommt das Vorstellungsbild eines "Kieselstreifens" am Fluss-/Bachrand dazu. Während das LI weitergeht, sieht es die Kiesel nicht nur als "Gehuntergrund", sondern "entdeckt" (es "befiehlt sich", interessant) darin auch "etwas". Dabei sehe ich das LI einzelne, große Kiesel aufheben und in die Hand nehmen, um sie näher zu betrachten - vielleicht aufgrund besonderer Farben oder Formen. (Ob man es glaubt oder nicht, ich spüre "Sonnenwärme" auf den imaginierten Kieselsteinen.)

Am Ende folgt der "Grund", warum dieses Gedicht, das auch viel Naturbeschreibung enthält, in der Denkerklause steht. Das "Ganze", der Fluss/Bach, das Ufer, die grüne Natur, die Kiesel - all das ist "mehr". Was nun der "Wassergeist" ist (und das gefällt mir ebenfalls!), das bleibt dem Leser überlassen, denn die Interpretationsmöglichkeiten sind vielfältig. Daher führe ich nur die erste an, die ich hatte, als Beispiel: "Hinter" bzw., um dem Titel zu folgen, "unter" dem, was zu sehen ist, ist viel mehr, als sich nur durch "Sehen" zeigt, auch wenn das Gesehene schön ist. Für mich ist der "Wassergeist" gewissermaßen der "lebendige Geist der Natur" und der (tieferen, nicht sichtbaren) Schönheit, die "unter der Oberfläche" liegt. Um das zu "finden", muss man danach "forschen".

Liebe fee - das ist wirklich ein wunderbares Gedicht, dir ist etwas ganz Besonderes gelungen! Wenn doch die olle Technikerin namens Stimme ins Schwärmen gerät ...

Mit seltenem Hochgenuss gelesen.

Liebe Grüße

Stimme
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Geändert von Stimme der Zeit (10.01.2012 um 18:33 Uhr) Grund: Tippfehler.
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