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Alt 11.02.2013, 10:48   #18
Thomas
Erfahrener Eiland-Dichter
 
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Hallo marzipania,

da habe ich ja in internetbedingter Ahnungslosigkeit ein Kompliment gemacht, passiert mir eigentlich selten. Vielleicht hast du dir ja in deiner Argumentationsweise etwas sehr jugendliches erhalten.

Vor dem, was in Literaturforen oder –abhandlungen steht habe ich nur dann Respekt, wenn es die Kriterien erfüllt, die ich für logisches Denken voraussetze. Diese "Arroganz" gönne ich mir.

Definitionen sind, wie ich sie verstehe, "Messinstrumente", die zum exakten Denken einfach notwendig sind und keine "ausgrenzenden" Schubladen. Auch liegen mir "Revierkämpfe" völlig fern. Es geht mir um die Sache, und da uns beiden gute Lyrik sehr am Herzen liegt, werden wir uns sicher verstehen und gut unterhalten, bzw. bisweilen auch gut streiten. Aus einem Kommentar zu einem Gedicht an Erich glaube ich zu entnehmen, dass du dich schon viel mit reimloser Lyrik beschäftigt hast, vielleicht kann ich da ja einiges von dir lernen, das würde ich gerne tun.

Liebe Grüße
Thomas


Hallo Falderwald,

dein Kommentar enthält so viele Aspekte und Punkte, dass ich nicht in meiner Antwort auf alles eingehen kann.

Als Hardliner einer konservativen, oder sonstigen Fraktion würde ich mich schon deshalb nicht bezeichnen, weil mein Kopf recht einzelgängerisch ist.

Wenn man unter "konservativ" versteht, dass man zur Vergangenheit zurück will, dann bin ich garantiert nicht dabei. Wenn man unter "konservativ" versteht, dass man der Überzeugung ist, wertvolles Neues nur auf dem grundlegenden Verständnis des von unseren Vorgänger-Generationen Geschaffenen entstehen kann, dann bin ich konservativ. Ja, ich habe eine große Abneigung gegen die Geistesaltung (meist mit einer klugscheißerischen und dummen Art gepaart), die sich vor den herrlichen klassischen Werken verschießt oder sich sogar von ihnen eingeschränkt und belästigt fühlt. Wenn ich etwas derartiges in einem Text finde, dann mache ich einfach dicht.

Andererseits geht es mir genau wie dir: "Ich finde auch immer wieder an der sogenannten freien Lyrik Gefallen, könnte aber bei beim bestem Willen nicht sagen, woran ich das festmachen sollte." Und da ich ja gutes Neues verstehen und auch machen möchte, interessiert mich das besonders. Das ist auch der Grund, warum ich versuche, meine Begriffe zu schärfen.

Da ich sowieso nicht auf alle Punkte eingehen kann, die du für dich selbst als Maßstab setzt, möchte ich mich im restlichen Kommentar auf den ersten Punkt "Reim" beschränken.

Ja, ich halte den Reim für eine geniale Erfindung, die wir von den Arabern vor über tausend Jahren übernommen haben. Er ist ein großes Hilfsmittel für die Lyrik, aber er ist nur bedingt ein Kriterium für gute Lyrik, denn es geht auch ohne!

Ein ganz wesentliches Argument dafür sind die Werke, die vor der Erfindung des Reimes geschaffen wurden. Z.B. das Buch "Die Erfindung der Poesie" von Raoul Schrott enthält viele schöne Beispiele.

Aber darauf könntest du sagen: Seitdem es Reim gibt, gehört er einfach zur Lyrik und kann nicht abgeschafft werden.

Vielleicht ist das mit dem Reim nicht ganz so einfach. Oft wird der Reim gar nicht entdeckt, und zwar nicht nur von Ungebildeten, sondern sogar von Menschen, die selbst viele Gedichte (auch gereimte) schreiben. Mir ist z.B. vor einiger Zeit auf einer Internetseite, die eine Sammlung von Prosagedichten enthält aufgefallen, dass dort als Prosagedicht Rainer Maria Rilkes Liebes-Lied aufgeführt ist (welches ich seiner Schönheit wegen zitieren möchte):

Wie soll ich meine Seele halten, dass
sie nicht an deine rührt? Wie soll ich sie
hinheben über dich zu andern Dingen?
Ach gerne möcht ich sie bei irgendwas
Verlorenem im Dunkeln unterbringen
an einer fremden stillen Stelle, die
nicht weiterschwingt, wenn deine Tiefen schwingen.
Doch alles, was uns anrührt, dich und mich
nimmt uns zusammen wie ein Bogenstrich,
der aus zwei Saiten eine Stimme zieht.
Auf welches Instrument sind wir gespannt?
Und welcher Geiger hat uns in der Hand?
O süsses Lied!

Hoffentlich ist Ehrich Kykal jetzt nicht in Ohnmacht gefallen, weil er feststellt, dass er Prosagedichte schreibt. Gereimte Prosagedichte halt!


Ich möchte ein zweites Beispiel anführen, was die Frage genau umkehrt.

Folgender Prosatext aus "Der Tod in Venedig" von Thomas Mann ist recht bekannt:

"Noch lagen Himmel, Erde und Meer in geisterhaft glasiger Dämmerblässe; noch schwamm ein vergehender Stern im Wesenlosen. Aber ein Wehen kam, eine beschwingte Kunde von unnahbaren Wohnplätzen, dass Eos sich von der Seite des Gatten erhebe, und jenes erste, süße Erröten der fernsten Himmels- und Meeresstriche geschah, durch welches das Sinnlichwerden der Schöpfung sich anzeigt."

Der Autor bezeichnet das als eindeutig als Prosa. Ich finde ihn sehr schön und würde es als lyrische Prosa bezeichnen, welche mein Computer jetzt in moderne Lyrik verwandeln wird. Zuerst entfernt er Satzzeichen und Großschreibung und reduziert dann die Spaltenlänge auf ein Viertel. als Verzierung gebe ich dem Ganzen noch eine Überschrift. Viola! Mein Computer hat aus der Prosa ein Gedicht gemacht.


EOS

noch lagen himmel
erde und meer in
geisterhaft glasiger
dämmerblässe noch
schwamm ein
vergehender stern im
wesenlosen aber ein
wehen kam eine
beschwingte kunde
von unnahbaren
wohnplätzen dass eos
sich von der Seite des
Gatten erhebe und
jenes erste süße
erröten der fernsten
himmels- und
meeresstriche
geschah durch
welches das sinnlich
werden der schöpfung
sich anzeigt ein
rosenstreuen am
rande der welt.


Mit dem Spaß möchte ausdrücken, dass die Bedeutung des Reimes, ja sogar die Bedeutung der sichtbaren Form für die Qualität der Lyrik nicht überschätzt werden sollte. Und da komme ich wieder auf den (zugegebenermaßen unpräzisen) Begriff des "singbaren Charakters"… Aber ich will nicht langweilen und schließe vorerst meine Quatschbude.

Liebe Grüße
Thomas
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© Ralf Schauerhammer

Alles, was der Dichter uns geben kann, ist seine Individualität. Diese seine Individualität so sehr als möglich zu veredeln, ist sein erstes und wichtigstes Geschäft. Friedrich Schiller

Geändert von Thomas (11.02.2013 um 10:51 Uhr)
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