Einzelnen Beitrag anzeigen
Alt 09.08.2011, 20:19   #2
Stimme der Zeit
Erfahrener Eiland-Dichter
 
Benutzerbild von Stimme der Zeit
 
Registriert seit: 15.03.2011
Ort: Stuttgart
Beiträge: 1.836
Standard

Hallo, liebe Chavali,

dein Gedicht muss ich doch gleich kommentieren.

Zunächst einmal ist es bemerkenswert, dass du diesen Text in der Form einer appellativen Ansprache verfasst hast. Das las ich in lyrischer Form bisher sehr selten.
Zitat:
Eines Tages wirst du wach,
stehst auf einer andren Seite,
blickst Vergangnem nicht mehr nach,
plötzlich ist die Seele pleite.
Das halte ich für durchaus möglich: Eines Morgens aufzuwachen und festzustellen, dass irgendwie überhaupt nichts „geht“. Als ob man selbst oder die Welt sich über Nacht um 180 ° gedreht hätte.
Mir gefällt die Metapher der „pleitegegangenen Seele“

Zitat:
Dein Kopf ist leer, Gedanken drehen
sich im Kreis so schwer und träge.

Kein Wind vermag sie zu verwehen,
du suchst dir zweifelnd neue Wege.
Irgendwie hängen die Gedanken „fest“. Offenbar fehlt es sowohl am inneren Antrieb als auch an Ideen. Es wird sich also eher unsicher (zweifelnd) auf die Suche nach neuen Wegen gemacht. Irgendwo muss ein Weg sein, aber wo? Ist der richtige auch zu finden?

Zitat:
Nichts ist mehr so, wie du es kennst,
die Seiten deines Lebens werden welk.
Doch eine Tages stehst du auf
und hörst das Knistern im Gebälk
der Zuversicht, der Hoffnung und der Kraft,
weil du erkennst, dass Glauben alles schafft.
Das Vertraute scheint plötzlich unvertraut, ja, fremd zu sein, es fehlt an Kraft. Dann die „Wendung“: Ein erneutes „Aufstehen“, ein Weg bzw. ein Gedanke ist gefunden. Ein neu gefundener Glaube, eine neue Überzeugung kann tatsächlich solche Kraft besitzen, neue Zuversicht und Hoffnung schenken. Es wird nicht umsonst gesagt, dass der Glaube Berge versetzen kann.

Zitat:
Sei wie ein Baum, der sein schlaffes Laub
verliert im Herbst, um neu zu grünen,
im Frühjahr blüht und sommers Früchte trägt.
Ich liebe Bäume, auch als Metaphern. Es wäre schön, wenn wir das jedes Jahr könnten: „Schlaffes Laub“ einfach abzuwerfen, um dann neu auszutreiben, zu blühen und Früchte zu tragen. Aber ich denke, wenn wir, wie in der vorherigen Strophe dargelegt, daran glauben, dann können wir es auch.

Zitat:
Lass deine Wurzeln nicht verdorren,
erheb dich aus dem Staub und spür,
wie deine Welt sich neu bewegt.
Ja. Ohne „frisches Wasser“ lebt man im „Staub“. Also sollte man darauf achten, sich genug davon „zuzuführen“. Wie der Baum es uns zeigt: Die Blätter werden wieder „knackig“, die Triebe, die bei Wassermangel „hängen“, richten sich wieder auf. Dafür muss man sich nur „innerlich“ bewegen, dann „bewegt“ sich auch die „Welt“ des Äußeren wieder (neu).

Selbstverständlich mag ich ganz besonders die Alliterationen: „wirst-wach“, „stehst-Seite“, „nicht-nach“, „plötzlich-pleite“; „dein-drehen“, „sich-so“, „vermag-verwehen“, „du-dir“ u.v.m. (Selber lesen, liebe „Mit-Leser“, ich verrate ja nicht alle!)

Einige der lyrischen „Bilder“ möchte ich durchaus als treffende Allegorien bezeichnen, als Beispiel nenne ich „erheb dich aus dem Staub“, wobei die Metapher „Staub“ hier sicher für „verstaubte bzw. festgefahrene" Gedanken, Ansichten oder Lebensumstände steht. Um neu anzufangen, muss man zunächst aufstehen und das Alte hinter sich lassen.

Ich habe nur zwei Tippfehler und eine Kleinigkeit in Strophe 4 gefunden:

Zitat:
sich (…) im Kreis so schwer und träge. – hier hast du ein Wort vergessen einzutippen
Zitat:
Doch eines Tages stehst du auf – Vertippserle
Zitat:
Sei wie ein Baum, der (sein) schlaffes Laub – nanu - runtergeplumpst? Hat sich hier ein freches Wort einfach selbstständig gemacht?
im Herbst verliert, um neu zu grünen,
zum Frühjahr blüht und sommers Früchte trägt.
Schön, der Wechsel vom Trochäus zum Jambus, das Gedicht besteht in seiner Struktur wohl aus 3 Teilen:

Strophe 1 und Strophe 2 (Quartette im Kreuzreim)
Strophe 3 (Sechszeilig – und sie erinnert mich an eine Sestinenstrophe, besonders durch die beiden letzten Verse, die im Schema der Sestine cc wären, und sich auch hier reimen; obwohl du hier in den ersten vier Versen keine Endreime verwendest)
Strophe 4 und Strophe 5. (Terzette, als „Verbindung“ dienen „trägt“ und „bewegt“, in Form eines „unreinen“ Reims.)

Liebe Chavi, es war mir ein Vergnügen.

Sehr gerne gelesen und kommentiert!

Liebe Grüße

Stimme
__________________
.

Im Forum findet sich in unserer "Eiland-Bibliothek" jetzt ein "Virtueller Schiller-Salon" mit einer Einladung zur "Offenen Tafel".

Dieser Salon entstammt einer Idee von unserem Forenmitglied Thomas, der sich über jeden Beitrag sehr freuen würde.


Stimme der Zeit ist offline   Mit Zitat antworten