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Alt 11.04.2010, 04:02   #4
Pedro
Erfahrener Eiland-Dichter
 
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Dieses Kapitel hatte ich schon einmal als Kurzgeschichte eingestellt: „Paula“.


7

Ich denke an Major Lorenzo. Damals war er Leutnant.
Lange ist es her. Und ich erinnere mich, als wenn es gestern gewesen wäre.

Herbst wie mit Wasserfarben gemalt.
Gestern hatte es geregnet, jetzt fielen Sonnenstrahlen durch die Bäume, bunte Blätter schwebten herab, Wasserdampf stieg vom Boden auf.
Im Hintergrund hörte man Verkehrslärm, leise, wie ein Rauschen.
Der Pfarrer stand vor der Grube, der Sarg war schon herunter gelassen worden. Vier Männer hielten noch die Seile in ihren Händen. In ihren abgetragenen dunklen Anzüge sahen sie aus wie Obdachlose.
Es roch nach feuchter Erde.
Ihre Eltern und einige wenige Freunde standen nahe beieinander hinter dem Pfarrer vor dem Grab, als ob sie sich gegenseitig vor etwas schützen wollten, versteinerte Gesichter. Paulas Mutter weinte, eine schmale, schlanke, blasse Figur.
Ihr Vater stützte sie, blickte hilflos zu Boden.
Etwas abseits zwei Männer in langen Mänteln, Hüte ins Gesicht gezogen. Einer hatte einen Fotoapparat in der Hand, fotografierte, der andere schrieb etwas in ein kleines Notizbuch.

Ich schaute in das Grab. Ein paar Blumen lagen auf dem Sarg und ein Kranz. Ich sah noch einmal den Blumenstrauß an, den ich in der Hand hielt, gelbe Rosen, die hatte sie gemocht. Ich bückte mich etwas, als wollte ich sie auf den Sarg legen, ließ sie dann hinunter fallen.
Ein leichter Wind wehte Regentropfen von den Bäumen. Ich sah nach oben und Tropfen liefen über mein Gesicht.

Ich dachte an alles, was ich und Paula zusammen gemacht hatten, was wir noch machen wollten, an unsere Pläne, an Diskussionen, an Utopien.
Ich hatte Paula lachen und weinen gesehen, sah ihre blauen Augen vor mir, die immer etwas traurig blickten, spürte noch ihre langen schwarzen Haare in meinem Gesicht, die immer leicht nach Essig rochen.

Der Pfarrer schaute in seine Bibel, sprach von einem tragischen Verkehrsunfall, im Glauben läge Trost. Er sprach sehr leise, unsicher, als wenn er selber nicht an seine Worte glauben würde.
Überzeugte Atheistin war sie gewesen.
Angeblich war sie von einem Lastwagen überfahren worden, der Fahrer konnte nicht gefunden werden.
Ich wusste es besser, man hatte sie eine Woche lang festgehalten, gefoltert und dann absichtlich überfahren.
Vierundzwanzig Jahre war sie alt geworden, und ich hatte sie geliebt.


Frühling, die Sonne schien wieder wie beim letzten Mal, als ich hier war. Paulas Grab liegt an der Nordseite des Friedhofs, nahe der Mauer.
Langsam ging ich den Hauptweg entlang, die Bäume waren noch fast kahl, bog dann nach links und sah Paula vor ihrem Grab stehen. Ihre langen schwarzen Haare wehten im Wind.
Sie wendete mir den Rücken zu, bewegte sich nicht, stand einfach nur da.
Ich blieb stehen, wusste irgendwoher, dass sie wieder verschwinden würde, wenn ich näher käme.
Jetzt strich sie sich über ihr Haar, als wenn sie es festhalten wollte. Blaue Jeans hatte sie an und trug die schwarze Strickjacke, in der ich sie fast immer gesehen hatte.
Nur noch wenige Schritte trennten uns.
Ihr Haar roch immer noch ein wenig nach Essig.
Sie bückte sich, ordnete Blumen, die auf ihrem Grab lagen, richtete sich wieder auf.
Ich streckte meine Hand aus, wollte sie an der Schulter berühren.
Die Gestalt löste sich auf, ich konnte sie nicht mehr sehen, stand alleine da, als wenn sie nie da gewesen wäre.

Es lagen keine Blumen mehr auf dem Grab, auf den Grabstein hatte jemand mit weißer Farbe das Wort „Terroristin“ gesprüht.
Ich ging zu einem Wasserhahn, machte mein Taschentuch nass und versuchte die Schmiererei am Grabstein abzuwaschen. Sie war schon längere Zeit an dem Stein. Ich rieb und rieb, aber die Schrift ließ sich nicht löschen.
„Mensch, Paula“, sagte ich leise.
Eine ganze Weile stand ich noch da, dann ging ich zum Auto zurück.

Richtung Norden fuhr ich, viel Verkehr. Überall wurde renoviert. Frauen liefen herum, trugen große Körbe, ein zweirädriger Wagen mit Säcken beladen, ein kleines Pferd davor, zwischen Autos und Bussen.
Ich kam in die Vorstadt. Ruhig war es hier. Große Grundstücke, Häuser nach amerikanischem Vorbild, Schwimmbäder. Ein Gärtner schnitt eine Hecke, ein Hund lief über die Straße.
Hier wohnten Leute mit Geld und Offiziere.
Dann bog ich nach links ein und hielt am Anfang der Seitenstraße an.
Von hier aus konnte ich den Eingang des Hauses genau beobachten.
Die Haustür ging auf, eine junge Frau kam mit zwei kleinen Mädchen und dem Dienstmädchen heraus. Sie drehte sich noch einmal um, rief etwas, ich konnte es nicht verstehen, und winkte ihrem Mann an der Tür zu. Sie stieg in ein Auto und fuhr an mir vorbei in die Stadt.
Den Mann hatte ich öfter gesehen, Leutnant der Armee. Er arbeitete für den Geheimdienst. Es war nicht leicht gewesen, ihn zu finden.
Ich öffnete das Handschuhfach und nahm den Revolver heraus, entsicherte ihn. Colt, Kaliber 38, kurzer Lauf.
„Wenn du wenig Ahnung von Waffen hast, ist das die geeignete Waffe für dich,“ hatte mir einmal jemand erklärt. „Du musst nicht genau schießen können, das Kaliber haut jeden um, egal, wo er getroffen wird. Danach kannst du nahe herangehen und alles mit einem weiteren Schuss beenden.“
Ich würde sehr nahe herangehen, ein zweiter Schuss würde nicht notwendig sein. Sechs Patronen waren in der Trommel, ich würde nur eine brauchen, dachte ich.
Ich steckte den Revolver in die rechte Manteltasche und umklammerte ihn fest.

Ich stieg aus dem Auto. Die Haustür war wieder geschlossen, der Mann war wieder hineingegangen.
Langsam betrat ich das Grundstück, das Tor war offen. Ich ging die Einfahrt entlang, drehte mich noch einmal um, alles war ruhig auf der Straße.
Ich klingelte, der Name Lorenzo stand an der Tür, hörte dann Schritte, die Tür wurde geöffnet.
Bratenduft kam mir entgegen.
So nahe war ich dem Mann noch nie gekommen.
Er lächelte freundlich und fragte, ob er mir helfen könne.
Wenn ich nicht so viel über ihn gewusst hätte und er keine Uniform getragen hätte, wäre er mir sympathisch gewesen.
Etwa 25 Jahre war er alt, mittelgroß, kurzer Haarschnitt, eine angenehme Stimme hatte er. Seine Augen irrten umher, als wenn sie etwas suchten, er schaut mich nicht direkt an.
Er wusste noch nicht, dass er seine Haustür zum letzten Mal geöffnet hatte, dass er seine Frau und seine Kinder nie wieder sehen würde, dass er nie wieder Befehle geben würde, andere zu foltern oder umzubringen, dachte ich damals.
Er kam einen Schritt aus der Tür, stand jetzt direkt vor mir.
Ich werde das jetzt erledigen, dachte ich, zum Auto zurücklaufen und zum Flugplatz fahren. Das Flugtiquet hatte ich schon.
Sollte jemand sich die Autonummer gemerkt haben, würde das wenig nützen. Es war mir heute Morgen übergeben worden, man hatte es gestohlen.
Was ich hier mache, ist gerecht. Angst müssen wir verbreiten, jeder von denen muss wissen, dass es ihm genauso ergehen kann, glaubte ich damals.

Ich fasste die Waffe fester, würde sie gleich brauchen und fragte den Offizier:
„Wohnt hier eine Familie Gonzales?“
„ Gonzales ? Nein, ich wohne schon längere Zeit hier, eine Familie Gonzales wohnt hier in der Gegend nicht. Haben Sie die genaue Adresse?“
Er schaute mich jetzt an. Ich schüttelte den Kopf.
„Nein, aber man hat mir erklärt, dass sie hier in diesem Viertel wohnen würde.“
„Moment, wenn Sie wollen, kann ich einen Anruf machen, dann wissen wir die genaue Adresse sofort.“
„Vielen Dank“, sagte ich, „ich will sie nicht unnötig belästigen.“
„Kommen sie nur rein, das kann ich schnell erledigen.“
Ich wusste, dass er alleine im Haus war. Ein bessere Gelegenheit konnte es gar nicht geben, es würde viel leichter sein, als wir gedacht hatten.
Ich ging ins Haus, er schloss die Tür.
„Sie sind Ausländer? Amerikaner?“
„Nein, Deutscher.“
„Ich bewundere die Deutschen, ihre Kultur, Goethe und Wagner, sie haben die beste Armee der Welt!“
„Wir haben fast alle Kriege verloren“, sagte ich leise.
Das schien ihm neu zu sein.
„Wirklich?“
Ich hatte immer noch die Hand in der Manteltasche.
„Jemanden umzulegen ist nur beim ersten Mal nicht leicht, man gewöhnt sich daran, wie man sich auch an alles andere gewöhnt“, hatte man mir gesagt.
„Und immer daran denken, dass wir uns für eine gerechte Sache einsetzen, dass wir nur mit gleicher Münze zurückzahlen.“
Und ich erinnerte mich wieder an den Satz: „Wenn hier einer weniger weint, hat eure Arbeit einen Wert gehabt“. Das hatte mir eine alte Frau gesagt, deren Sohn umgebracht worden war.
Würde sie weniger weinen? Würden weniger weinen?

„ Mir ist gerade eingefallen, dass meine Frau die genaue Adresse hat, es ist auch nicht so eilig“, sagte ich.
Ich nahm die Hand aus der Manteltasche, bedankte mich, er ließ mich wieder raus und winkte.

Ich ging langsam zum Auto zurück und fuhr weg
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