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Alt 05.01.2016, 14:43   #10
wolo von thurland
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Standard Wo der Erich Kykal Recht hat...

Hallo Chavali
Da muss der Leser, ob er Kykal oder wolo heisse, durchaus mal die Hosenbeine hochziehen, um heil durch den Sumpf zu kommen.
Zunächst einmal fällt auf, dass in einem wilden Mix von Stilen (von "so wie von Trauer" bis "Agonien" und "sich für Zeitenmaß" entscheiden") kaum Fokussierung auf ein Thema möglich ist. Wäre der Stilmix das Thema oder Teil des Themas, würde ich mich gerne hineinbegeben. Aber es ist denn doch zu deutlich eine klarlinige "Ich"-Botschaft, als dass man eine verschleiernde Verpackung aufdröseln möchte.
Dann fallen die "undifferenzierten Stellen" (Zitat Erick Kykal, aus dem Faden "Zum Neujahr") auf. Solange solche vorhanden sind, errichtest du kein eigenes Rhythmus-Gebäude, es sei denn, eben ein undifferenziertes, einen "Cluster". Für so einen Cluster sind aber die Bindungen doch viel zu offensichtlich und es ist nicht so, dass sich die Sprachmelodie überall überordnet, im gegenteil, es hat einige Stellen drin, wo die sich eher nach Versmass und Reim richtet.


Den Kopf gesenkt, so wie von Trauer,
blick ich auf des Glases Grund,
erkenne meines Lebens Mauer,
beschwöre meine letzte Stund.

Hier flutscht es noch ziemlich gut. Das "blick ich" ist kein Problem. Zeilen drei und vier beugen sich aber bereits stark dem iambischen Geleiere. Hier wäre zum Beispiel Folgendes möglich:
erkenn darin des Lebens Mauer
und schaue meine letzte Stund.

Ob das nun besser ist? Zumindest spielt es mit Metrum und Rhythmus. Und darüber hinaus: Es vermeidet die unpassende Verwendung des Verbs "beschwören". "beschwören" im üblichen Sinn ist hier nicht gemeint, nicht wahr? Gemessen jedenfalls an der Fortsetzung.

Ein Signal aus tausend Blitzen
bricht in die Gedanken ein,
erwägt sofort die Flammenspitzen,
verdammt zugleich den Feuerschein.

Dass hier die erste Zeile betont beginnt, kommt für den Leser komplett überraschend, vor allem, weil der Einzeiler "Ein" eigentlich das unbetonte Begleitpronomen von "Signal" wäre. Nun liegt ein Stress drauf, der höchstens dann wegfiele, wenn du die Zeile als dreihebig ansähest, was ich, mit dem übrigen vergleichend, nicht im Ernst vermuten kann.
Das "erwägt sofort" ist auch kaum lesbar, weil es mehr komisch als gewollt wirkt. "Das Signal erwägt", nachdem es sich als Einbrecher betätigt hat, naja, muss so was sein? Erich Kykals Lösung biegt an diesen zeilen einiges gerade! Wenn Zeile 1 und Zeile 3 ein Fundament kriegten, könnte man sehr wohl das "bricht in die" stehen lassen, obwohl da die beiden unbetonten Einsilber "in die" vor dem auftaktigen (!) Wort "Gedanken" für ein wenig Unruhe sorgen, weil diese Unruhe dann noch im gewünschten oder tolerablen Bereich läge.

Erwacht aus allen Fantasien,
werf ich an die Wand das Glas,
befrei mich aus den Agonien,
entscheide mich für Zeitenmaß.

Hier ist rhythmisch alles sauber. Aber der Stil wird nicht nur durch die ausschliesslich substantivischen Reime, sondern auch durch die abenteuerliche Mischung dieser Substantive getrübt.
edit: Eine recht unglückliche Gegenüberstellung ist "die Agonien - Zeitenmass" Das eine wird mit bestimmtem Artikel versehen, obwohl es völlig bleibt, was damit gemeint ist, das andere, ein neologismus, ist nicht weniher vage, aber sein mögliches Bedeutungsumfeld ist ein gänzlich anderes als jenes "der Agonien". Dies noch als kleiner Nachtrag zum, als Beispiel für das von mir empfundene Stilproblem.

So, nun habe ich mich bei deinen Freundinnen arg in die Nesseln gesetzt. Aber wo der Erich Kykal mindestens zur Hälfte Recht hat, da hat er Recht (mindestens zur Hälfte).


wolo

Geändert von wolo von thurland (07.01.2016 um 09:01 Uhr) Grund: edit
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