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Alt 05.02.2017, 10:54   #7
Falderwald
Lyrische Emotion
 
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Moin Thomas,

ich habe auch Verständnisprobleme mit diesem Text und das bewirkt einzig und allein die zweite Strophe.

Wie Erich schon anmerkte, liegt dieser eine Aussage aus dem AT zugrunde, hier die Moral Auge um Auge, Zahn um Zahn, der dann mit der Moral der Nächstenliebe aus dem NT gekontert wird.

Lassen wir diese Strophe einmal weg und betrachten den restlichen Text.

Die erste und dritte Strophe könnten den Wandel vom geozentrischen zum heliozentrischen Weltbild beschreiben.
Erst dachte der Mensch sich auf einem festen Grund und sah am Himmel alles um sich und diesen festen Grund herum kreisen. Wer nicht weiß, dass er auf einer um sich selbst drehenden Kugel steht, die zudem noch die Sonne umkreist, dem sind nur diese Sinneseindrücke möglich.
Durch intensive Beobachtungen, Berechnungen und logische Schlussfolgerungen erkennt der Mensch aber nun, dass es eben nicht so ist und so entsteht das neue Weltbild.

Die vierte Strophe hingegen könnte beinhalten, dass ein neues Weltbild nicht zwangsläufig eine neue Umwelt zur Folge hat, denn diese stellt nach wie vor ihre Bedingungen an das Überleben, was auf jeden Fall auch mit Leid(en) verbunden ist, das fordern die "objektiven Relationen", was also eher melancholische Gefühle verursacht, wie man ja auch an den vielen verfassten Dramen und Tragödien der Weltliteratur erkennen kann.
Doch dann entspringt dem traurigen Dichter ein Lobgedicht.

Das ist zwar eine schöne und lyrische Aussage, jedoch stellt sich jetzt die Frage nach dem Warum?

Und da komme ich unweigerlich auf die zweite Strophe zurück, in der sich die "subjektive Moral" des Christentums widerspiegelt.

Also mir fällt es da jetzt auch schwer, im gesamten Kontext nicht doch ein zumindest indirektes Loblied auf die Entstehung des Christentums zu erkennen.
Das ist jetzt keine negative Kritik sondern lediglich mein Eindruck.

An der moralischen Auslegung müssen wir nicht deuteln, die kann auch ein Atheist anerkennen.

Lediglich über die Motive könnte man diskutieren, vielleicht darf ich das an dieser Stelle einmal...

Wenn der Mensch sich selbst und nicht irgend einen imaginären Gott ins Zentrum seines Weltbildes stellen würde, dann wäre schon viel gewonnen.
Alle positiven Eigenschaften wie Weisheit, Kraft, Gerechtigkeit und Liebe sind menschliche Eigenschaften, die müssen keinem Gott zugeordnet werden.
Alle negativen Eigenschaften wie Sterblichkeit und Fehlbarkeit müssten nicht umgekehrter Bedeutung auch auf dieses Gottwesen übertragen werden.
Wenn die menschliche Eigenschaft des Mitleids für fühlende und denkende Wesen, die ihm durch sein Bewusstsein gegeben ist, als alleinige moralische Institution etabliert werden könnte, dann entfiele das religiöse Kastendenken, weil mein Glaube richtig ist, muss deiner falsch sein, und in jeder Kultur sind damit soziale Unterschiede oder Klassenunterschiede verbunden.
Aber das ehrliche Mitleid mit einem anderen Wesen darf keine solchen Unterschiede machen.
Zwar propagiert das Christentum eine solche Moral, hat aber in den letzten zweitausend Jahren nicht wirklich zu einer friedlicheren Welt geführt.
Die Kriegsschauplätze und Verelendungen haben sich nur verlagert, und zwar an die Orte, zu denen die kantische Ethik noch nicht vorgedrungen ist.
Auch unser Weltbild wäre ohne die Aufklärung nicht möglich gewesen.

Deshalb suche ich nach etwas "Fassbarerem" im Diesseits, denn hier muss es doch verdammt nochmal irgendetwas geben, an dem man sich orientieren kann, ohne sich in bloße Spekulationen um ein imaginäres Jenseits, von dem wir wegen fehlender Erfahrung gar nichts wissen können, zu verlieren.

In diesem Sinne ist ein Lobgedicht ganz sicherlich nicht falsch, man sollte es nur auch richtig interpretieren können...


Gern gelesen und kommentiert...


Liebe Grüße

Bis bald

Falderwald


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Oh, dass ich große Laster säh', Verbrechen, blutig kolossal, nur diese satte Tugend nicht und zahlungsfähige Moral. (Heinrich Heine)



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