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Alt 07.04.2017, 13:16   #12
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heimkehrerin
 
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Ich habe dein Gedicht jetzt inzwischen viele Male gelesen, lieber Thomas,

und mit jedem Mal hat sich mir entweder mehr an Aussage erschlossen oder eine andere Betrachtungsweise ermöglicht (je nach Tagesverfassung). Außerdem hat sich für mich das Ausblenden einer unschönen Erfahrung, die eine liebe Kollegin in einer sehr labilen Zeit mit einem selbsternannten "Schamanen" hatte, anfangs sehr schwierig gestaltet und so konnte ich den Text erst heute so richtig wertfrei lesen.

Dabei hat er für mich eine unbeschreibliche Tiefe und Dimension entfaltet - so sehr, dass ich gar nicht erst versuche, das in Worte zu fassen, was deine Zeilen alles anstoßen, umreißen, offen lassen, festnageln und herrlich zwiespältig lassen - ganz wie es die Figur des Schamanen in unserer westlichen, zivilisierten Welt (in die er nun einmal nicht hingehört, weil dort nicht verwurzelt und aus Tradition geboren) nun einmal mit uns macht.

Und da wir selbst auch mehr oder weniger zwiegespalten sind, was unsere Position in der Welt und in Bezug zur Natur (und auch unserer eigenen Natur) angeht, befüllt der Schamane mit dem gewissen Heilsversprechen, ganz ohne Naturwissenschaften dennoch eine Erklärung von der Welt geben zu können, eine Nische, die sehnsüchtig von uns mit Magie, Naturgöttern und Bestimmung befüllt sein will. Wer will sich schon als Ameise in einer Welt fühlen, in der nichts als Willkür herrscht.

Wir begreifen - aber eben nur fast. Oder vielleicht noch viel zu wenig. Oder zu viel (aber dafür vom Falschen?)...Das spüren wir. Und das verunsichert viele Menschen zutiefst (wenn auch oft aus ganz anderen Gründen als den offensichtlichen).

Der Schamane enthebt sie der Pflicht, selbst nach Lösungen und Erklärungen zu suchen oder herauszufinden, wo sie richtig liegen und wo sie irren. Er ist Quelle des Wissens - und zwar von "Allem". Er ist oft Heiler und dabei auch die Verbindung zwischen den (Natur)göttern oder -geistern und den Menschen, die irgendwie nicht ganz das eine aber auch nicht mehr nur das andere sind.

Am meisten beeindruckt haben mich die Zeilen

Zitat:
doch sieht mein Nabel schon der Zukunft Strahl
und meine Hände läutern Erz.
Das ist irgendwie gewaltig - in jeder Meinung des Wortes. Sehr stimmig!

Der Schamane, der auch Angst macht, der Geheimnisse hütet und dadurch immer ungreifbar im Ausmaß seiner Macht bleibt. Etwas, das ich sehr raffiniert finde - auch als Mechanismus der Manipulation. Aber er liefert damit genau das, woran Heilssuchende glauben wollen, die mit herkömmlichen Religionen nichts anfangen können. Das in unserer Zivilisation zum Brimborium verkommende Schamanen-"Treiben" unterscheidet sich in meinen Augen lediglich formal und in seiner "Bodennähe" - schlicht, weil die Tradition des Schamanen in naturverbundenen Völkern wurzelt.

Also bedient der Schamane in unserer westlichen Welt auch die Sehnsucht des "Zurück zur Natur". Und so vieles mehr.

Ich persönlich finde es gruselig, jemanden solche Macht zuzusprechen. Aber ich gebe mir selbst auch genügend Halt. Daher funktioniert der Schamane für mich nur dort, wo er von seinen Wurzeln her auch hingehört. Ich kenne aber sehr wohl Menschen, die verzweifelt (!!) an das Naturgöttliche mitten unter uns glauben wollen.


Mehrfach und immer "gerner" gelesen! Ein Hammerteil, wenn ich so sagen darf.

Lieber Gruß,

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"Du musst, wenn du unser Glück beschreiben willst,
ganz viele kleine Punkte machen wie Seurat.
Und dass es Glück war, wird man erst aus der Distanz sehen.”

― Peter Stamm, Agnes

Geändert von fee_reloaded (07.04.2017 um 14:57 Uhr)
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