Einzelnen Beitrag anzeigen
Alt 23.11.2011, 05:21   #2
Stimme der Zeit
Erfahrener Eiland-Dichter
 
Benutzerbild von Stimme der Zeit
 
Registriert seit: 15.03.2011
Ort: Stuttgart
Beiträge: 1.836
Standard

Guten Morgen, liebe Chavi,

ich hätte es bestimmt gefunden, denn das Erste, was mir auffiel, war die für dich ungewöhnliche Kleinschreibung in den Versen. Ich "verrate" jetzt aber mal noch nicht mehr, du weißt, was ich meine.

Die Aussage stimmt. Wenn man sein Glück am falschen Platz, eben in ausschließlich materiellem Besitz oder beruflichem Erfolg sucht, läuft man am "echten" Glück vorbei, denn das findet sich nicht in "Dingen". Anstatt zu geben, wird genommen; oft wird auch verkannt, was wir Menschen denn wirklich "brauchen", jedenfalls, wenn sich daran orientiert wird, was gesagt wird, dass wir es "brauchen oder wollen sollen" ...

Ein geflügeltes Wort lautet: "Ohne Rücksicht auf Verluste". Jemand anderem zu schaden, rücksichtslos über Bedürfnisse oder menschliche Werte "hinweg zu trampeln" kann per definitionem kein "Glück" schenken, denn aus dem Verursachen von Unglück entsteht keines, wie sollte das bitte auch gehen?

Zitat:
Rasend schnell ins einerlei
Hier gibt es zwei "Lesarten". In Verbindung mit "tauchen" aus dem vorhergehenden Vers kann ich es als das "Verschwinden" in der "Masse" und dem Verlust von Bedeutung auffassen (im Sinne von Langeweile/Monotonie); aber wahrscheinlicher ist damit das "Abtauchen" in eine "Mir-ist-alles-egal außer-mir-selbst"-Haltung gemeint. Was den Begriff "Rücksicht" dann endgültig jede Bedeutung verlieren lässt - gut gemacht, der Zusammenhang!

Zitat:
Anker werfen macht nicht frei
Nähe wird brutal verlacht
Nicht automatisch, nur weil der "Anker" geworfen wird. Vorher sollte schon überlegt werden, wo (ebenso auch warum und wie). Das ist eine trügerische Sicherheit, und ich kenne das persönlich. Mein Ex war rein materiell orientiert - dass es da noch etwas "Anderes" gibt, diese Denkart war ihm fremd - das funktionierte einfach nicht. Ich kann mich hervorragend mit der "anderen Seite" deines Gedichts "identifizieren", denn genau so war er. Aber es gibt zwei Arten: Nicht wissen wollen und nicht wissen können. Er konnte das nicht, denn er wuchs so auf, dass (im wahrsten Sinne des Wortes) die Befriedigung materieller Bedürfnisse und finanzieller "Sicherheit" alles für ihn war (und ist). Es gibt Menschen, die können gar nicht anders, denn sie kommen nicht einmal auf entsprechende Gedanken, und wenn darüber gesprochen wird, verstehen sie gar nicht, was es bedeuten soll ..

Zitat:
Nähe wird brutal verlacht
Das ist das "drastischste" Resultat, aber mir ist klar, dass es häufig genug (viel zu oft) so ist. Unsere Gesellschaft entwickelt sich in diese Richtung, und, wie ich in einem anderen Kommentar in einem anderen Zusammenhang erwähnte: Das kann nur fatal enden.

Zitat:
Zeugnis einer teufelsmacht
"Teufelsmacht" finde ich hier gut gewählt, denn hier kann ein Leser mehrere "Deutungsarten" hinein legen. Woraus entsteht diese Geisteshaltung? Aus der "Entwertung" (zwischen)menschlicher Werte ... Wenn die Menschheit allmählich "entmenscht" wird, wohin soll das führen?

Das Reimschema ist interessant, denn der erste Vers ist keine Waise, sondern ein Assonanzreim. Wenn ich diesen also als Reim mit einbeziehe, dann sieht es so aus: a,b,a,a,b,b,c,c. Betrachte ich ihn als "Waise", wäre es: a,b,c,c,b,b,d,d. Der Kadenzwechsel passt: w,m,w,w,m,m,m,m. Gerade die männlichen Kadenzen der letzten beiden Verse in Verbindung mit dem harten Konsonanten "t" verleihen der "Schlussaussage" Gewicht, durch den "harten Klang". Zudem weisen alle Verse im Endreim einen Diphtong (au, ei) auf; auch hier noch Nachdruck in den letzten Zeilen, dort wähltest du das "a" als einzelnen Vokal. Stimmig auch das Metrum, der fünf-/vierhebige Trochäus passt ebenfalls gut zur "starken" Aussage.

Ob es dir auffiel, weiß ich nicht, ich mache solche Dinge auch oft "unbewusst", ich schätze, man "verinnerlicht" durch Lesen und Üben manche Effekte, und setzt sie ein: In den beiden letzten Versen ist das "u" vorhanden, nur "getrennt" vom "a".

Fazit: Sehr schön gemacht, da es besonders bei dieser Art Gedicht schwierig ist, die Verse nicht der "Form zu opfern". Das ist hier nicht passiert. Also: Dickes Lob für die Ausarbeitung!

Sehr gerne gelesen und kommentiert.

Liebe Grüße

Stimme
__________________
.

Im Forum findet sich in unserer "Eiland-Bibliothek" jetzt ein "Virtueller Schiller-Salon" mit einer Einladung zur "Offenen Tafel".

Dieser Salon entstammt einer Idee von unserem Forenmitglied Thomas, der sich über jeden Beitrag sehr freuen würde.



Geändert von Stimme der Zeit (23.11.2011 um 05:25 Uhr) Grund: Kleine Korrektur.
Stimme der Zeit ist offline   Mit Zitat antworten