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Alt 30.04.2010, 09:51   #17
Pedro
Erfahrener Eiland-Dichter
 
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25

Ich sitze am Meer auf einem Felsen und angle. Eigentlich angle ich gar nicht. Ich habe die Angelrute in der Hand und denke und denke, alles geht bei mir durcheinander.
El Pato war einer der Täter, Victor hatte mit der ganzen Sache überhaupt nichts zu tun, war zu der Zeit gar nicht in Coliumo.
Ich schaue auf das Meer, unendlich weit ist da alles, fühle mich bedeutungslos. Möwen kreischen, Kormorane stürzen ins Meer, steigen wieder auf, manchmal mit einem Fisch im Schnabel.
Wenn man sich auf eine Sache einlässt, kommt oft etwas ganz anderes heraus, als man erwartet hat.
Ein Schatten fällt über mich, jemand steht hinter mir. Ich weiß, wer es ist, drehe mich nicht um. Das war es also, denke ich.
Eigentlich sollte ich aufstehen, wenigstens ein Stück von der Felsenkante zurückgehen. Siebenundsechzig Jahre bin ich alt, langsam etwas tattrig und hinter mir steht jemand, der zwanzig Jahre jünger ist und jetzt auf meine Schultern drückt.
Da hab ich keine Chance. Ich weiß nicht, warum ich mich auf so etwas eingelassen habe. Edgardo hatte Recht, als er sagte, die Sache könne gefährlich werden.
Ich schaue nach oben, am Himmel ist eine kleine Wolke, sie segelt langsam vorbei. Und da fällt mir ein Gedicht von Berthold Brecht ein. „Und auch den Kuss, den hätt ich längst vergessen, wenn nicht die Wolke da gewesen wär......“
Komisch an was man sich manchmal erinnert, an Sachen, die mit der jeweiligen Situation scheinbar nichts zu tun haben.
Das wäre es dann wohl gewesen, denke ich wieder.

„Wann haben Sie es gewusst, Don Pedro?“
„ Spätestens als ich in Viña war.“
„ Das verstehe ich nicht, mein Onkel hat doch bestätigt, dass ich im Februar bei ihm gearbeitet habe.“
„Dein Onkel schon, aber deine Tante hat gesagt, dass sie dich seit Jahren nicht gesehen hat.
Don Marcelo hat mir erklärt, dass Victor zu dieser Zeit überhaupt nicht in Coliumo war. Victor hätte auch nicht seinen Vater verraten, er wusste überhaupt nichts von der Vergewaltigung damals. Es konnte nur jemand von Claudia wissen, jemand, der Claudia zuletzt gesehen hat.“
Die Kormorane fischen weiter, und die Möwen fliegen dicht über das Wasser. Weit weg fährt ein Dampfer vorbei, ein Passagierschiff. Vor vielen Jahren bin ich mit einem solchen Schiff nach Kolumbien gereist, sollte dort eine Schule gründen. Meine Kinder waren noch klein, ich war mit meiner ersten Frau glücklich.
„ Don Pedro, sie können mir glauben, was ich jetzt hier tun werde, tut mir Leid, aber ich sehe keine andere Möglichkeit. Man wird an einen Unfall glauben, hoffentlich Rubén und andere auch. Ich werde weggehen müssen von hier, weit weg.“
Ich könnte jetzt sagen, dass ich ihn nicht anzeigen werde, aber ich würde es tun.

In Augenblicken vor dem Sterben läuft das ganze Leben noch einmal vorbei, habe ich einmal gelesen. Wie ein Film. Nicht das ganze Leben läuft an mir vorbei, Bilder von Augenblicken, die einmal bedeutend für mich waren.
Da stehe ich vor einem Lehrer in der ersten Klasse des Gymnasiums, der zu mir sagt, dass ich eigentlich nicht hierher gehöre, aus der Unterschicht komme.
Ich sehe meine Mutter, sie liegt im Sterben und schaut mich an, sagt nichts.
Mein kleiner Sohn löchert mich mit Fragen, warum....
Meine zweite Tochter Antonia sagt: „Papa hilf mir“. Sie versucht, ihre Schuhe anzuziehen.
Ich sehe meine erste Frau davongehen, sie geht immer weiter, dreht sich nicht um.
Meine erste Tochter Gabi sagt: „ Ich habe, als ich sechzehn war, immer versucht alles gut für dich und Mama zu machen, damit ihr weniger streitet.“ Und ich habe es nicht gemerkt.
Meine jetzige Frau Celia sagt: „Pass auf dich auf, wir brauchen dich!“

Und ich denke an alles, was ich gemacht habe, ohne es wirklich zu wollen, dass ich vielleicht nicht verstanden habe, das zu leben, was ich wirklich wollte.


Ich sehe seinen Schatten, sehe, wie er sich zurück lehnt, zu einem Stoß ausholt, meine Schultern einen Moment loslässt und sich dann nach vorne wirft.
Ich lasse mich zur Seite fallen, er stößt ins Leere, fällt über mich, rutscht den Boden entlang und verschwindet hinter der Felskante. Nur seine Hände verkrampfen sich noch, halten ihn mühsam fest.
Ich stehe auf, schaue auf ihn, wie er da hängt, die Augen weit aufgerissen, das Gesicht bleich.
Er schaut mich an, wartet wohl, dass ich jetzt auf seine Hände trete.
Ich gehe etwas zurück, lege mich auf den Bauch und umklammere seine Arme.
Fassungslos schaut er mich an. Öffnet den Mund, als wenn er etwas sagen will.
Ich sehe, wie sich seine Hände vom Rand des Felsen lösen. Er kann sich nicht mehr halten.
Ich versuche ihn hoch zu ziehen, aber er ist zu schwer für mich. Der Boden, auf dem ich liege ist sandig, ich fange langsam an zu rutschen in Richtung Felskante.
Er sieht mich an und sagt: „Danke. Vielleicht können Sie mir verzeihen! Lassen Sie los!“
Ich schwitze, meine Hände sind feucht, ich merke, dass ich ihn nicht mehr viel länger halten kann.
Ich fange wieder an zu rutschen, hänge jetzt schon zum Teil mit dem Oberkörper über der Felskante, sehe tief unten die Felsen, die das Meer umspült.
„Lassen Sie los“, sagt El Pato noch einmal. Und ich denke an das Fußballspiel vor vielen Jahren und an den Kiosk. An Claudia denke ich in diesem Moment nicht.
Und dann reißt sich El Pato los, stürzt nach unten, überschlägt sich mehrere Male und bleibt auf dem untersten Felsen liegen. Seine Füße bedeckt das Meer.
Ich klettere nach unten. El Pato liegt auf dem Rücken und schaut in den Himmel, als wenn er da etwas sehen würde. Er lächelt. Blut läuft aus seinem Mund. Er schaut mich noch einmal an, als wenn er etwas nicht fassen könnte, noch ein Atemzug, dann fällt sein Kopf zur Seite.
Ich hätte zu gern gewusst, was El Pato gesehen hat, was er gedacht hat, dass er noch lächeln konnte.

Das Leben, mein Leben, hat einen Moment angehalten, und etwas bleibt in dem angehaltenen Augenblick zurück, geht nicht mehr weiter mit.
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>Die Kritiker nehmen eine Kartoffel, schneiden sie zurecht, bis sie die Form einer Birne hat, dann beißen sie hinein und sagen: „Schmeckt gar nicht wie Birne.“< (Max Frisch)
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