Thema: Endlose Nacht
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Alt 29.05.2009, 11:24   #14
oliver64
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Hallo cyparis,

du legst hier ein in altertümelnder Sprache gehaltenes Gedicht vor, welches in jambischen Versen mit alternierenden Hebungen und Kadenzen fast durchgängig kreuzgereimt die Leiden einer durchwachten Nacht schildert, in der das lyrische Ich kaum abwarten kann, das geliebte lyrische Du wiederzusehen.

Solche barock anmutende Schwülstigkeit kann einem gefallen, muss aber nicht. Mit kontemporärer Dichtkunst hat sie bei allen Zugeständnissen der und an die Postmoderne aber sicher nichts zu tun. Zu abgeschmackt wirkt ein solches Vokabular mit süßen Träumen, hehren Antlitzen und süßen Stunden. Heutzutage hat so ein Bombast eher faden Beigeschmack und wirkt wie aus dem Handbuch eines Uraltgigolos und/oder Heiratsschwindlers. „Eile, Mond!“, und „Gib, Himmel!“ und „Geh, Zeit!“ oder „Eile, Zeit!“, das sind auch so Aufforderungen, die aktuell eher etwas durchgeknallt, als romantisch wirken. Es ist für mich keine Frage, dass du hier ganz gekonnt einen Stil nachempfindest, warum solche Fingerübungen jedoch veröffentlicht werden müssen, ist mir ein Rätsel.

Inhaltlich wird die Sache auch eher breit getreten. Warum ist in Strophe 1 das heute Erdachte so negativ, brennt auf den Lidern, während das Gestrige süße Träume brachte? Weil es heute ein konkretes Objekt der Begierde gibt, welches so sehnsüchtig vermisst wird, dass es dem lyrI den Schlaf raubt. Wie sollte sie dann aber die Augen überhaupt kühl und brav schließen können? Nun gut, vielleicht macht mich die Sprache ungnädiger, als ich sein sollte. Springen wir also in Strophe 2: Dem Stoßseufzer des lyrI folgt eine umgangssprachliche Entgleisung, die zudem im Zusammenhang mit einem „hehren Antlitz“ ein unfreiwillig komisches Bild zeichnet: „in’s Riesengroße“. Die Partizipialkonstruktion des folgenden dritten Verses ist dann nur noch grausam. Und nicht alles, was blau ist, ist auch gleich romantisch. Der blaue Blick wirkt hier eher alkoholgeschwängert, so zusammengezwungen wirken hier Syntax und (Stab)reim. Die Anrufung von Mond und Himmel hatte ich schon, die grammatikalische Konstruktion des sechsten Verses geht dann spätestens gar nicht mehr: Der unangenehm poetisierte Genitiv mag ja noch veraltetem Geschmack gefallen, aber dem Dativ geht gar nicht, bzw. nur, wenn dann ersatzweise vorher Akkusativ gewählt würde: Ohne Akkusativ geht es jedenfalls nicht.

Der Beginn der dritten Strophe ist so schlecht nicht gemacht, auch wenn daran Andere vielleicht mäkelten. Dieses trostlos-endlos-endlos ist ja bewusst gesetzt und verfehlt seine Wirkung auch nicht. Der Umstand, dass du diese Strophe in ein etwas anderes Reimschema setztest, verdeutlicht die wachsende Ungeduld. Gleichzeitig machtest du sie länger als die beiden vorangegangenen, auch das halte ich für einen geschickten Kniff. Vers 4 ist mir allerdings zu platt, zu kindisch, entspricht nicht dem bis dahin gebrauchten Pathos. Ohnehin drehen sich die letzten Verse für meinen Geschmack zu sehr im Kreis, das danach-dann-dann hat hier eher kontraproduktive Auswirkung, weil das Gedicht vollends in die Profanität abrutscht: ist der heiß ersehnte Morgen endlich erreicht, dann schnell wieder zum nächsten und zum nächsten und so fort. Hier findet keine Erfüllung statt! Der Leser wüsste doch gerne, was da so heiß ersehnt und angeschmachtet wird. Nur für ein Lächeln habe ich diese drei Strophen doch wohl nicht durchlitten!

Fazit: Pathos und Patina können mir persönlich nicht imponieren, da lese ich lieber die Originale (und amüsiere mich natürlich auch bei dem Einen oder Anderen). Das Handwerk beherrscht du grundsätzlich, aber da gibt es Viele. Der Inhalt ist profan, warum sollte das jetzt beeindruckender sein, als die vielen pubertätspickeligen Herz-Schmerz-Gedichte? Die sind wenigstens aktuell und authentisch und nicht nur 300 Jahre später nachempfunden.

Vielleicht hältst du mich für ungnädig. Ich bin es vielleicht auch, weil ich immer fürchte, dass jüngere Semester so etwas lesen (und dann auch noch die folgenden Lobhudeleien), ihr Vorurteil über die vermeintliche Abgeschmacktheit gebundener Lyrik bestätigt sehen, sich abwenden und bestenfalls wieder ihre grausamen Ungereimtheiten verfassen, schlechtestenfalls Lyrik für tot befinden. Ich sagte an anderer Stelle einmal: Lyrik ist nicht tot, sie riecht nur seltsam. Das tut sie hier leider auch: leicht moderig.

Nichts für ungut und beste Grüße
Oliver
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