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Alt 17.06.2015, 14:35   #17
Erich Kykal
TENEBRAE
 
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Hi, Stachel!

Die Gazelle

Gazella Dorcas

Verzauberte: wie kann der Einklang zweier
erwählter Worte je den Reim erreichen,
der in dir kommt und geht, wie auf ein Zeichen.
Aus deiner Stirne steigen Laub und Leier,


Die erwählten Worte sind "Gazella Dorcas", der lateinische Fachbegriff der von Rilke bedichteten Gazellenart. Mit "Verzauberte:" spricht er diese direkt an.

https://de.wikipedia.org/wiki/Dorkasgazelle

Mit dem "Reim, der in der Gazelle geht wie auf ein Zeichen", ist wohl die Grazie dieses Tiers beschrieben, das geheimnisvolle Schöne, das bezaubert wie ein Gleichklang, da alles an ihr Harmonie ist wie dieser.

Laub und Leier sind die Zeichen der Dichterwürde. Rilke vergleicht das Tier also mit der Poesie an sich.

und alles Deine geht schon im Vergleich
durch Liebeslieder, deren Worte, weich
wie Rosenblätter, dem, der nicht mehr liest,
sich auf die Augen legen, die er schließt:


Alles, was das Tier ausmacht, wurde schon in Liebesliedern beschrieben, die einem, der das Buch beiseite legt, um zu träumen, die Lider weich und zärtlich wie Rosenblätter schließen.

um dich zu sehen: hingetragen, als
wäre mit Sprüngen jeder Lauf geladen
und schösse nur nicht ab, solang der Hals


Und im Traum sieht der Schläfer dann sie, die Gazelle, lauschend, schwerelos wirkend, voll gespannter Energie den Kopf wendend.

das Haupt ins Horchen hält: wie wenn beim Baden
im Wald die Badende sich unterbricht:
den Waldsee im gewendeten Gesicht.


Er vergleicht das Tier mit einer nackten Schönen im Waldteich, die vielleicht ein Ästlein knacken hörte und sich nun halb ängstlich, halb schamhaft umsieht: Bereit zur Flucht.
Und die Lichtreflektionen des Wassers spieglen sich in ihren großen dunklen Augen ...


Hier noch ein im Internet recherchierter Artikel darüber:

Zeichensprache: »Die Gazelle«

Die »Neuen Gedichte« (1907), zu denen »Die Gazelle gehört«, stehen in engem Zusammenhang mit den »Briefen über Cézanne« (1907); die Sachlichkeit, die Rilke in Cézannes Gemälden erkennt, habe er sprachlich in den »Neuen Gedichten« zu erreichen gesucht.

Andersartig, als sich die Schwingungen im Universum entfalten, kommen sie uns durch unsere Sinneswahrnehmungen zu Bewusstsein, so Rilke in dem Essay »Moderne Lyrik« (1898). Der Zeichencharakter der sinnlichen Wahrnehmung ist für ihn nun keineswegs ein Anlass, sie als chimärisch, illusorisch, ohne entsprechende Wirklichkeit einzustufen, im Gegenteil: Dass die Sinnesempfindungen Zeichencharakter besitzen, entfesselt für Rilke die künstlerische Aufgabe, nämlich die Zeichen und Äquivalente für die verborgenen Seiten der Wirklichkeit zu finden, sie dadurch sichtbar zu machen.

Analog dazu ist das Verhältnis von dichterischer Sprache und Gegenstand in der Oktave des Sonettes auf die Gazelle zu verstehen. Zwar behaupten die ersten beiden Zeilen, dass die sprachlichen Umschreibungen die Anmut und Grazie der Gazelle nicht einfangen können, dass der sprachliche Reim den Reim, den Rhythmus, nach dem sie sich bewege, nicht erreicht. Doch in der Flucht von Metaphern und Vergleichen, in welche sich die Umrisse des Tieres auflösen, vollzieht sich eine poetische Übersetzung. Seine Konturen verschwimmen: »Aus seiner Stirne steigen Laub und Leier«. »Laub und Leier« fungieren als Metaphern; die Hörner der Gazelle werden mit den Emblemen des Dichters verglichen. Dass die poetischen Bilder und Zeichen – »Reim«, »Laub und Leier« – niemals die Ebene des Indirekten verlassen können, ist von Anfang an signalisiert; aber die metaphorische Sprache eröffnet einen neuen Bezug zu dem, wofür hier Äquivalente und Gleichnisse gefunden wurden.

Und wofür wurden sie gefunden? Für die Anmut und Grazie der Gazelle, sagten wir. Das zweite Quartett behauptet die vollkommene Übersetzung des Tieres in Sprache, in Vergleiche, und bringt eine neue Dimension ins Spiel: »und alles Deine geht schon im Vergleich / durch Liebeslieder, deren Worte, weich / wie Rosenblätter«. Liebeslieder: Unmittelbar kann Sprache das Tier nicht abbilden, aber sie kann eine Metaphorik für die Ebene finden, auf der die Beobachtung des Tieres zum Ausdruck einer Liebe zum Dasein wird.

Innerhalb des Bereichs der gereimten, vergleichenden und metaphorischen Sprache vollzieht sich im Übergang zum Sextett die Wende zum Sehen: »um dich zu sehen«, mit diesem Neuansatz beginnt das erste Terzett. »hingetragen, als / wäre mit Sprüngen jeder Lauf geladen / und schösse nur nicht ab, solang der Hals / das Haupt ins Horchen hält«:

Überaus treffend ist hier eine Gazelle auf dem Sprung dargestellt, horchend, ob Gefahr im Verzug ist – niemand wird sich der visualisierenden Evokationskraft dieser Zeilen verschließen können. Die angespannte Dynamik des Tieres auf dem Sprung kontrastiert zudem dem geradezu Pretiösen der vorangegangenen Vergleiche. Gleichwohl sind Oktave und erstes Terzett genau miteinander verbunden. Das Schließen der Bücher (»dem, der nicht mehr liest«) geht einher mit dem Schließen der Augen – das anschauliche Bild der Gazelle ist ein »Innen-Bild«, ein Gesicht, eine Vision. In ihm sind die sprachlichen Vergleiche aufgehoben; dies scheint die Wendung von den Liebesliedern, die sich auf die Augen legen, anzudeuten.

Das zweite Terzett bringt eine Synthese. Die Reihung der Vergleiche hebt wieder an (»wie wenn beim Baden«), der Vergleich birgt eine erotische Komponente. Unmittelbarkeit wird in diesem Terzett nunmehr auf der Ebene der Veranschaulichung abgewehrt. Wie sich der Kontur des Tieres auflöst (Z 1-4), wie die Grenzen zwischen Innen- und Außenwelt verfließen (Z 7-9), so wechselt am Ende die Perspektive auf verwirrende Weise. Wie sieht die Badende im abschließenden Vergleich den Waldsee? Blickt sie, mit einem Nachbild des Waldsees im Auge, in den Himmel? Bedeutungsvoll läuft die Flucht der Vergleiche und Bildsplitter auf eine ›Umkehrung‹ zu, welche die Lokalisation des anvisierten Gegenstandes unmöglich macht: »den Waldsee im gewendeten Gesicht«.

In den »Briefen über Cézanne« erläutert Rilke die »Ansätze zur Sachlichkeit« in den »Neuen Gedichten« (wobei er »Die Gazelle« explizit erwähnt) anhand der Malweise Cézannes: »Man malte: ich liebe dieses hier; statt zu malen: hier ist es.« Den Weg von dem Aussprechen der Liebe (zum Dasein) hin zu dem Moment, in dem sie restlos eingegangen ist in die Darstellung, zeichnet »Die Gazelle« nach.

Monika Fick


Ich hoffe, das hilft dir weiter! Kleiner Tipp: In diesem Fall reichte es, die Stichworte "laub und leier" zu googeln!

Übrigens: Mit vielen seiner Texte gehe ich nicht konform, zB was das Religiöse angeht. Das hält mich aber nicht davon ab, den wundersollen Stil zu würdigen, in dem sie verfasst sind. Zumindest verstehe ich alles!

Sehr selten finde ich eine Stelle, wo ich mir denke: also DAS hätt ICH besser hingekriegt!

LG, eKy
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Geändert von Erich Kykal (16.06.2019 um 20:00 Uhr)
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