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Alt 17.05.2014, 12:38   #1
poetix
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Standard Ein Wiedersehen

Frau Schmidt war noch bei Bewusstsein. Sie war gerade erst in den OP gebracht worden. Merkwürdig, wie ruhig sie war. Dabei bedeutete dieser Raum etwas für sie. Hier war vor fünf Jahren ihr Mann gestorben. "Mors in tabula" nannte man das, als ob einem der Tod auf einer Tafel serviert würde. Sie war eine vernünftige Frau. Trotzdem hatte sie damals sehr gelitten. Oft hatte sie danach noch geglaubt, die Stimme ihres Mannes zu hören. Es war nur eine Stimme in ihrem Kopf. Ihr Verstand sagte ihr, dass es nicht wirklich ihr Mann sein könne, aber ihr Herz wollte glauben, dass er es doch wäre. So wurde sie hin- und hergerissen zwischen Glauben und Zweifeln. Meistens hatte sie seine Stimme gehört, wenn sie in schwierigen Situationen war. Auch heute war sie wieder in einer schwierigen Situation. In dieser OP ging es um Leben oder Tod. Ob ihr Mann wieder zu ihr sprechen würde?

Sie hatte ein Beruhigungsmittel bekommen und wurde langsam müde. Der Anästhesist begann, langsam die Narkose einzuleiten. Wie die Zeit auf einmal stehen zu bleiben schien! Ihre Augen waren zugefallen und sie glaubte, das Gesicht ihres Mannes vor sich zu sehen. Er sah sie zärtlich an und dann sprach er mit ihr. Er beruhigte sie, sagte ihr, dass sie keine Angst haben müsse. Er sei ja bei ihr. Er fasste sie bei der Hand. "Komm mit mir!", sagte er. Sie hatte überhaupt keine Angst und folgte ihm. Aber sie gingen nicht, sie schwebten. Es war seltsam: Als sie sich umwandte, sah sie sich noch auf dem OP-Tisch liegen. Dann blickte sie wieder nach vorne. Sie schwebten auf ein weißes Licht zu. War es eine OP-Lampe? Nein, dieses Licht war viel schöner als das einer Lampe, es verströmte Wärme, strahlte Geborgenheit aus und zog sie an. Sie war jetzt glücklich, umarmte ihren Mann und gemeinsam tauchten sie ein in das Licht.

Die Ärzte hatten ihr Bestes versucht, vergeblich. "Zeitpunkt des Todes: zwanzig Uhr fünfzehn", sagte einer. Dann gingen sie zum nächsten Patienten. Keiner bemerkte das glückliche Lächeln auf dem Gesicht der verstorbenen Patientin.
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