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Alt 14.10.2011, 21:00   #1
Erich Kykal
TENEBRAE
 
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Standard Einsamkeit - Rainer Maria Rilke

Die Einsamkeit ist wie ein Regen.
Sie steigt vom Meer den Abenden entgegen;
von Ebenen, die fern sind und entlegen,
geht sie zum Himmel, der sie immer hat.
Und erst vom Himmel fällt sie auf die Stadt.

Regnet hernieder in den Zwitterstunden,
wenn sich nach Morgen wenden alle Gassen
und wenn die Leiber, welche nichts gefunden,
enttäuscht und traurig voneinander lassen;
und wenn die Menschen, die einander hassen,
in einem Bett zusammen schlafen müssen:

dann geht die Einsamkeit mit den Flüssen...
__________________
Weis heiter zieht diese Elend Erle Ute - aber Liebe allein lässt sie wachsen.
Wer Gebete spricht, glaubt an Götter - wer aber Gedichte schreibt, glaubt an Menschen!
Ein HAIKU ist ein Medium für alle, die mit langen Sätzen überfordert sind.
Dummheit und Demut befreunden sich selten.

Die Verbrennung von Vordenkern findet auf dem Gescheiterhaufen statt.
Hybris ist ein Symptom der eigenen Begrenztheit.
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Alt 18.10.2011, 07:35   #2
Stimme der Zeit
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Rochus Otto Manderup Heinrich zu Lynar

Alma - IV. Missverständnis


Ich bin enttäuscht! Der Schleier ist geschwunden. —
So wie nach einer sturmbewegten Nacht
Der frühe Tag ein grausam' Licht gebracht,
Dem Scheiternden sein Unglück zu bekunden:

So ist in wenig grauenvollen Stunden
Mein höchstes Gut, das ich mir treu gedacht,
Verloren, Hölle, mir durch deine Macht
Und aufgelöst, was Liebe jüngst verbunden.

So nimm mein Glück, so nimm mein ganzes Hoffen!
Ja, damals sah ich wohl den Himmel offen,
Als Liebe mir die Himmelsweihe gab:

Nun aber, da erloschen meine Sterne,
Irr' ich dahin zum Ziel' in dunkler Ferne?
Lebendig-tot durch dieses Erdengrab. —
__________________
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Geändert von Stimme der Zeit (19.10.2011 um 18:53 Uhr) Grund: "fein" zu "sein", "wol" zu "wohl", "todt" zu "tot", "ß" zu "s".
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Alt 23.10.2011, 22:21   #3
Stimme der Zeit
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Hans Aßmann von Abschatz
(1646–1699)



[Thorheit ists/ daß unsre Zeit soll in Furcht und Angst verflüssen]


Thorheit ists/ daß unsre Zeit soll in Furcht und Angst verflüssen/
Besser ists in Freud und Lust der bestimmten Frist genüssen/
Nimm die Stunden willig an/
Die dir Gott und Glücke schencken/
Warum soll dich heute kräncken
Was sich morgen ändern kan?

Laß das ernste Sauersehn/ laß die eingezogne Stirne/
Laß den ausgehangnen Mund/ laß die Grillen im Gehirne/
Laß die Mucken um das Haubt
Biß ins Alter seyn verschoben/
Biß sich allgemach von oben
Kopff und Hals zum Grabe schraubt.

Laß der alten Weisen Schaar frey und ohnbewegt erscheinen/
Laß den tollen Heraclit gantze Thränen-Ströme weinen.
Menschen die empfindlich seyn
Halten mehr von Schertz und Lachen;
Sich vergebens traurig machen
Gehet ja wohl bitter ein.

Wir an Beutel/ Weib und Ort/ Zeit und Zustand ungebunden/
Brauchen billig/ weil es geht/ unsrer Jugend freye Stunden/
Was bringts einem Kargen ein/
Wenn er noch so reich an Schätzen:
Also/ was kan ohn Ergötzen
Unser bestes Leben seyn?

Rosen/ die der Sommer giebt/ kan man nicht im Winter pflücken/
Freude/ so die Jugend hegt/ kan das Alter nicht erquicken/
Wenn des siechen Leibes Hauß
Sich zum schnellen Falle neiget/
Wenn der Lebens-Strom verseiget/
Glutt und Hitze dämpffen aus.

Drum laßt uns den edlen Schatz der erlaubten Zeit gebrauchen
Eh die Kräffte noch in uns/ eh noch Marck und Blutt verrauchen.
Last uns dieses Tages Schein/
Der sich offte noch soll finden/
Dich mit Freuden anzubinden/
Frey und froh und freudig seyn.

Unter Freunden eine Lust kan uns kein Gesetze wehren/
Wer weiß/ was das Glücke noch ein- und andern kan bescheren.
Ey so geht es Sorgen-bloß
Auff die unverzehrten Gütter
Unsrer lieben Schwieger-Mütter/
Bruder/ im Vertrauen loß.
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Alt 24.10.2011, 16:35   #4
Chavali
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Standard Die Brücke am Tay

Theodor Fontane


Die Brücke am Tay


"Wann treffen wir drei wieder zusamm'?"
"Um die siebente Stund', am Brückendamm."
"Am Mittelpfeiler."
"Ich lösch die Flamm'."
"Ich mit."
"Ich komme vom Norden her."
"Und ich vom Süden."
"Und ich vom Meer."

"Hei, das gibt ein Ringelreihn,
und die Brücke muß in den Grund hinein."
"Und der Zug, der in die Brücke tritt
um die siebente Stund'?"
"Ei, der muß mit."
"Muß mit."
"Tand, Tand
ist das Gebild von Menschenhand."

Auf der Norderseite, das Brückenhaus -
alle Fenster sehen nach Süden aus,
und die Brücknersleut', ohne Rast und Ruh
und in Bangen sehen nach Süden zu,
sehen und warten, ob nicht ein Licht
übers Wasser hin "ich komme" spricht,
"ich komme, trotz Nacht und Sturmesflug,
ich, der Edinburger Zug."

Und der Brückner jetzt: "Ich seh einen Schein
am andern Ufer. Das muß er sein.
Nun, Mutter, weg mit dem bangen Traum,
unser Johnie kommt und will seinen Baum,
und was noch am Baume von Lichtern ist,
zünd alles an wie zum heiligen Christ,
der will heuer zweimal mit uns sein, -
und in elf Minuten ist er herein."

Und es war der Zug. Am Süderturm
keucht er vorbei jetzt gegen den Sturm,
und Johnie spricht: "Die Brücke noch!
Aber was tut es, wir zwingen es doch.
Ein fester Kessel, ein doppelter Dampf,
die bleiben Sieger in solchem Kampf,
und wie's auch rast und ringt und rennt,
wir kriegen es unter: das Element.

Und unser Stolz ist unsre Brück';
ich lache, denk ich an früher zurück,
an all den Jammer und all die Not
mit dem elend alten Schifferboot;
wie manche liebe Christfestnacht
hab ich im Fährhaus zugebracht
und sah unsrer Fenster lichten Schein
und zählte und konnte nicht drüben sein."

Auf der Norderseite, das Brückenhaus -
alle Fenster sehen nach Süden aus,
und die Brücknersleut' ohne Rast und Ruh
und in Bangen sehen nach Süden zu;
denn wütender wurde der Winde Spiel,
und jetzt, als ob Feuer vom Himmel fiel,
erglüht es in niederschießender Pracht
überm Wasser unten... Und wieder ist Nacht.

"Wann treffen wir drei wieder zusamm'?"
"Um Mitternacht, am Bergeskamm."
"Auf dem hohen Moor, am Erlenstamm."
"Ich komme."
"Ich mit."
"Ich nenn euch die Zahl."
"Und ich die Namen."
"Und ich die Qual."
"Hei!
Wie Splitter brach das Gebälk entzwei."
"Tand, Tand
ist das Gebilde von Menschenhand."





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Alt 24.10.2011, 20:36   #5
Stimme der Zeit
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Liebe Chavi,

ich wollte nur anmerken, dass ich diese Ballade auch gut kenne. Die dichterische Umsetzung des realen Zugunglückes in der poetischen Verbindung mit den drei Hexen (als Kritik am technischen Fortschritt) hat mich beim Lesen immer wieder fasziniert.

Nur ein kurzes Feedback und ein Danke fürs Einstellen!

Liebe Grüße

Stimme
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Alt 30.10.2011, 22:18   #6
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Barthold Hinrich Brockes
(1680-1747)


Die Welt ist allezeit schön

Im Frühling prangt die schöne Welt
In einem fast smaragdnen Schein.
Im Sommer glänzt das reife Feld
Und scheint dem Golde gleich zu sein.

Im Herbste sieht man als Opalen
Der Bäume bunte Blätter strahlen.

Im Winter schmückt ein Schein, wie Diamant
Und reines Silber, Flut und Land.

Ja kurz, wenn wir die Welt aufmerksam sehn,
Ist sie zu allen Zeiten schön.
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Alt 08.11.2011, 15:12   #7
Chavali
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Liebe Stimme,

DEN Dichter hab ich jetzt mal gegogelt
Ein Literat, der nicht allgemein bekannt ist - oder hab ich da eine Bildungslücke?
Wie dem auch sei - seine Naturdichtung gefällt mir.


Hier mal noch eines meiner Lieblinge:

Theodor Fontane


Alles still!

Alles still! Es tanzt den Reigen
Mondenstrahl in Wald und Flur,
Und darüber thront das Schweigen
Und der Winterhimmel nur.

Alles still! Vergeblich lauschet
Man der Krähe heisrem Schrei.
Keiner Fichte Wipfel rauschet,
Und kein Bächlein summt vorbei.

Alles still! Die Dorfeshütten
Sind wie Gräber anzusehn,
Die, von Schnee bedeckt, inmitten
Eines weiten Friedhofs stehn.

Alles still! Nichts hör ich klopfen
Als mein Herze durch die Nacht
Heiße Tränen niedertropfen
Auf die kalte Winterpracht.


(kopiert aus http://www.gedichte.levrai.de/gedich...e_gedichte.htm )



Und nun sagt:
Lesen wir nicht von unseren Gegewartsdichtern nicht auch Ähnliches...?




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Alt 08.11.2011, 19:44   #8
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Nein, liebe Chavi,

du hast keine "Bildungslücke", sonst hätte ich auch eine. Über Gedicht (und Dichter) bin ich, ehrlich gesagt, "zufällig gestolpert". Aber ich finde, auch die "Unbekannteren" haben durchaus etwas zu bieten - mir gefiel der Vergleich der Natur und ihrer Farben mit Edelsteinen und Edelmetallen. Denn Natur ist eine Kostbarkeit!

Was dein Gedicht von Theodor Fontane betrifft:

Zitat:
Und nun sagt:
Lesen wir nicht von unseren Gegewartsdichtern nicht auch Ähnliches...?
Wo du recht hast, hast du recht.

Liebe Grüße

Stimme
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Geändert von Stimme der Zeit (08.11.2011 um 22:00 Uhr) Grund: Kleine Korrektur.
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Alt 09.11.2011, 19:40   #9
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Johann Christoph Friedrich von Schiller (* 10. November 1759 in Marbach am Neckar, Württemberg; † 9. Mai 1805 in Weimar, Sachsen-Weimar)

Anlässlich seines Geburtstages möchte ich heute eines seiner Werke hier einstellen:

Die Macht des Gesanges

Ein Regenstrom aus Felsenrissen,
Er kommt mit Donners Ungestüm,
Bergtrümmer folgen seinen Güssen,
Und Eichen stürzen unter ihm;
Erstaunt mit wolllustvollem Grausen,
Hört ihn der Wanderer und lauscht,
Er hört die Flut vom Felsen brausen,
Doch weiß er nicht, woher sie rauscht:
So strömen des Gesanges Wellen
Hervor aus nie entdeckten Quellen.

Verbündet mit den furchtbarn Wesen,
Die still des Lebens Faden drehn,
Wer kann des Sängers Zauber lösen,
Wer seinen Tönen widerstehn?
Wie mit dem Stab des Götterboten
Beherrscht er das bewegte Herz,
Er taucht es in das Reich der Todten,
Er hebt es staunend himmelwärts,
Und wiegt es zwischen Ernst und Spiele
Auf schwanker Leiter der Gefühle.

Wie wenn auf einmal in die Kreise
Der Freude, mit Gigantenschritt,
Geheimnißvoll nach Geisterweise,
Ein ungeheures Schicksal tritt;
Da beugt sich jede Erdengröße
Dem Fremdling aus der andern Welt,
Des Jubels nichtiges Getöse
Verstummt, und jede Larve fällt,
Und vor der Wahrheit mächt’gem Siege
Verschwindet jedes Werk der Lüge:

So rafft von jeder eiteln Bürde,
Wenn des Gesanges Ruf erschallt,
Der Mensch sich auf zur Geisterwürde
Und tritt in heilige Gewalt;
Den hohen Göttern ist er eigen,
Ihm darf nichts Irdisches sich nahn,
Und jede andre Macht muß schweigen,
Und kein Verhängnis fällt ihn an;
Es schwinden jedes Kummers Falten,
Solang des Liedes Zauber walten.

Und wie nach hoffnungslosem Sehnen,
Nach langer Trennung bitterm Schmerz,
Ein Kind mit heißen Reuethränen
Sich stürzt an seiner Mutter Herz:
So führt zu seiner Jugend Hütten,
Zu seiner Unschuld reinem Glück,
Vom fernen Ausland fremder Sitten
Den Flüchtling der Gesang zurück,
In der Natur getreuen Armen
Von kalten Regeln zu erwarmen.

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Geändert von Stimme der Zeit (09.11.2011 um 19:43 Uhr)
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Alt 17.11.2011, 09:07   #10
Friedhelm Götz
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Christian Morgenstern gehört schon seit meiner Jugendzeit zu meinen Lieblingsautoren, und ich habe schon damals mit grotesken Gedichten versucht, auf Morgensterns Pfaden zu wandeln. Daraus entstand dann auch mal eine Rundfunksendung im damaligen Süddeutschen Rundfunk mit dem Titel "Flöhezimt und Morgenstern", gesprochen von Hanns Dieter Hüsch.

Hier nun als besonderes Schmankerl die wenig bekannte Legende "Das Vermächtnis" von Christian Morgenstern, gesprochen von Hanns Dieter Hüsch:

Das Vermächtnis - eine Legende von Christian Morgenstern

Wer nur oder auch lesen will:

Das Vermächtnis
eine Legende von Christian Morgenstern

Es war um die Zeit, da der Affe zum Menschen wurde. Und am Vorabend seiner Menschwerdung versammelte der Affe noch einmal alle Tiere der Erde um sich, um von ihnen Abschied zu nehmen. "Morgen will ich Mensch werden, sprach er wehmütig zu ihnen, und ihr werdet mich alle verlassen und meiden, und ein Kampf wird entstehen zwischen meinem Samen und eurem Samen."

"Jawoll, ein Kampf!" brüllte der Löwe.
"Du willst mehr werden als wir!" brummte das Nashorn.
"Das wirst du büßen müssen!" wiederholte giftig der Floh.
"Lassen wir das!" sagte mit einem Anflug unbeschreiblicher Müdigkeit der Affe,
und feiern wir heute noch ein Fest des Friedens und der Freude miteinander.
"So sei es!" riefen die Tiere und drängten sich gutmütig und wohlwollend um den scheidenden Bruder und fragten ihn, ob sie ihm nicht noch etwas Liebes tun oder mitgeben könnten.
Da ward dem Affen noch trübseliger zumute, und er setzte sich unter eine Palme und fing jämmerlich an zu schluchzen. Ein tiefes Mitleid ging durch die weichen Tierherzen.
"Wir wollen den Armen trösten", begann endlich das Schaf und schritt allen voran auf den Weinenden zu.
Lange sah das Schaf dem Affen in die Augen, und dann sprach es: "Trage mein Bild stets in deinem Herzen, so wird es sein, als ob ich mit und in dir weiterlebte."
Dem Schaf folgte das Kamel, sah dem Affen tief in die Augen und sagte das gleiche zu ihm.
Und herzu traten der Ochs, der Esel, das Schwein, der Pfau, die Gans, der Tiger, der Wolf, die Hyäne und viele andere Tiere, und jedes sah dem Affen tief in die Augen und sprach feierlich zu ihm: "Trage mein Bild stets in deiner Seele, so wird es sein, als ob ich mit dir weiterlebte."
Die letzen, die herantraten, waren der Löwe, der Adler und die Schlange.

Der Affe konnte vor Abgespanntheit kaum mehr aus den Augen schauen, und als die Schlange sich verabschiedet hatte, sank er sofort in tiefen Schlaf. Aber wirre und schreckliche Träume ängstigten ihn, und gegen Morgengrauen erhob er sich im Halbschlummer von seinem Lager und tastete sich zur nahen Quelle.
Mit Augen, deren Schleier klares Bewusstsein noch nicht zu zerreißen vermochte, blickte er in den Wasserspiegel, der, leicht bewegt, sein Bild wiedergab.
Wie sah er aus! Da schwamm auf zitternden Wellen das Bild des einfältigen Schafes - oder - nein! Es war das hässliche Kamel, das mit arroganten Zügen aus den Wogen ihn anstarrte. Mit einem Male schien es der blutrünstige Tiger, als den er sich in den Fluten sah, und kaum, dass er genauer hingespäht, war es ein Pfau, der ihm sein eitles Rad entgegenschlug.
Endlich brach ein Sonnenstrahl durch die Bäume, und der Affe erwachte aus seinem traumhaften Zustande. Verwundert rieb er sich die Augen und wollte sogleich den nächsten Baumriesen empor, als sein Blick von ungefähr in die Quelle fiel. Da erkannte er, dass er über Nacht Mensch geworden war. Und Adam zog aus, bis dass er Eva fand und verbreitete sein Geschlecht über die ganze Erde.
Friedhelm Götz ist offline   Mit Zitat antworten
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