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Alt 03.06.2017, 17:56   #1
Chavali
ADäquat
 
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Im Vorgarten des Mehrfamilienhauses wachsen einige immergrüne Büsche,
dazwischen Blumen je nach Jahreszeit.
Hinter dem Fenster im Erdgeschoss erahnt man vage ein Gesicht.
Die alte Dame sitzt Tag für Tag in einem eigens für sie ans Fenster gerückten Sessel
und blickt verloren irgendwohin, manchmal nach draußen in die Ferne.

Einst war sie eine hübsche Frau und umschwärmt von Männern.
Sie war verheiratet und hätte gern ein Kind gehabt, aber es sollte wohl nicht sein.
Die Ehe wurde geschieden, weil sie sich in einen anderen Mann verliebt hatte,
der ihr Chef war und seine Familie ging ihm über alles.
Im Arbeitsleben war sie die Frau an seiner Seite - privat gab er stets seiner Familie den Vorzug.
Sie machte das mit, lange Zeit, viel zu lange.

Er wusste natürlich von ihrem sehnlichen Kinderwunsch, aber ihm reichten seine zwei Töchter,
die er mit seine Ehefrau hatte.

Als es biologisch schon fast zu spät war, wurde sie schwanger.
Sie wollte das Kind behalten, aber er wollte es nicht. Er wollte ihr nur beweisen,
dass sie schwanger werden konnte und dass es damals nicht an ihr lag.

Sie ließ sich darauf ein, die Schwangerschaft beenden zu lassen.
Die Abhängigkeit von diesem Mann und die Hörigkeit waren wohl zu groß und zu stark.

Und wie ging es weiter?
Der Mann, ihr Chef und Dauergeliebter, wurde krank und starb.

Das ist jetzt über vierzig Jahre her.
Sie sitzt am Fenster und trauert um ihr Kind, das sie wollte und nicht haben durfte.
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Die Zeit heilt keine Wunden, man gewöhnt sich nur an den Schmerz

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Alt 03.06.2017, 23:06   #2
Kokochanel
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ups, CHavi, das ist ein Brocken. Eine kurze Szene aus einem Leben, das bedrückt und nachhallt.
Menschen sind unterschiedlich, reagieren unterschiedlich.
Das Kind, das sie nicht haben durfte.
Das stört mich.
Natürlich durfte sie es haben . Eine Frau bestimmt selbst über ihren Körper und auch vor 40 Jahren war man schon so modern, dass man ein Kind alleine groß ziehen konnte. Nicht einfach sicherlich. Dennoch. Aber keine Frau muss sich zur Abtreibung zwingen lassen.
Ich denke an das kleine Wesen, was gerade bei mir im Bett liegt, da Töchterchen wieder Nachtschicht im WE-Dienst hat. Auch ihr Typ wollte, dass sie es abtreibt. No way bei uns.
Tut mir leid, aber mein Mitleid für eine Frau, die ihr Kind abtreibt in modernen Zeiten, nur weil es dem Kerl nicht passt, das hält sich doch sehr in Grenzen. Vor 40 Jahren war ich selbst in der Situation, ich hätte es niemals abgetrieben. Leider habe ich es verloren.

Sicherlich gibt es das aber häufiger und insofern habe ich rein emotionl deine Szene gern gelesen.

LG von Koko
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Alt 04.06.2017, 18:48   #3
ginTon
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Hi chavilein...

der Text ist sehr tiefgründig, da es meines Erachtens gar nicht um Kinder, Abtreibung etc.pp geht sondern um die heutige Situation einer Frau, die alt geworden ist und nun allein am Fenster sitzt.

Zitat:
Im Vorgarten des Mehrfamilienhauses wachsen einige immergrüne Büsche,
dazwischen Blumen je nach Jahreszeit.
Hinter dem Fenster im Erdgeschoss erahnt man vage ein Gesicht.
Die alte Dame sitzt Tag für Tag in einem eigens für sie ans Fenster gerückten Sessel
und blickt verloren irgendwohin, manchmal nach draußen in die Ferne.
Diese Szene wirkt sehr traurig und nahezu melancholisch und es wird in einzelnen Lebensabschnitten wage erzählt, warum sie schlussendlich allein am Fenster sitzt. Der weitere Inhalt möchte dem Leser davon überzeugen, dass es die Kinderlosigkeit ist, ausgehend von einigen Beziehungen, dies ist denke ich aber nur oberflächlich so. Denke ich zumindest.

Vielmehr überwiegt bei mir die Ahnung, dass die Frau von Anfang an Angst vor dem Alleinsein hatte oder sich immer bestätigt fühlen musste. Man sagt ja, die Furcht macht uns zu dem was wir irgendwann sind bzw. werden. Die Frage ist, warum brauchte sie immer Bestätigung und warum verzweifelte sie in erster Beziehung daran, dass sie kein Kind bekam. Ist dies so wichtig? Ist nicht eher die Beziehung an sich wichtiger...

Zitat:
Einst war sie eine hübsche Frau und umschwärmt von Männern.
Sie war verheiratet und hätte gern ein Kind gehabt, aber es sollte wohl nicht sein.
Es ist weiterhin somit schwer zu sagen, ob ihre erste Heirat eben die reine Liebesheirat war. Gut, ein Kind hat sie sich gewünscht, welches aber wahrscheinlich auch eher der Befriedung ihres eigenen Inneren gedient hätte.
Die Beziehung geht wie gesagt in die Brüche und sie fängt eine Affäre an, mit ihrem Chef. Hörigkeit bedeutet in dem Sinne, dass sie sich sogar selbst dabei aufgibt.

Vielleicht hat sie sich, durch die vorherige Kinderlosigkeit aber auch nicht mehr als Frau gefühlt. Zuerst suchte sie in jungen Jahren Bestätigung bei vielen Männern und in einer Beziehung dann mit einem Kind. Ob sie schlussendlich mit einem Kind dann glücklicher gewesen wäre sei dahingestellt o. ob es gut für das Kind gewesen wäre.

interessanter Inhalt, gerne gelesen ... liebe grüße ginnie
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Alt 20.06.2017, 16:51   #4
Chavali
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Liebe Koko,
Zitat:
Das Kind, das sie nicht haben durfte.
Das stört mich.
Ja, mich auch und doch wieder nicht.
Es war so.
Und ich hätte mir das nicht ausreden lassen oder wär auch nicht irgendwelchen Zwängen
gesellschaftlicher Art gefolgt....

Aber die Geschichte ist authentisch. Zum Glück nicht meine, aber in meinem Umfeld geschehen.

Danke fürs Lesen und deinen Kommi.



Hi ginnie,

du hast Vermutungen aufgestellt und zu ergründen versucht, warum und wieso die Geschichte
so passieren konnte.
Ist schon interessant, wie du als Mann darüber denkst
Zitat:
interessanter Inhalt, gerne gelesen
danke, das freut mich

Liebe Grüße euch beiden,
Chavi




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Alt 21.06.2017, 19:37   #5
Dana
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Liebe Uschi,
wahrlich ein "Brocken" und ganz bestimmt nicht einmalig.
Ich möchte ohne jede Kritik und Wertung an Frau und Chef 'rangehen.
Das Leben schreibt solche Geschichten und darin bewegen sich Menschen mit eigenen Gefühlen, Umständen und Sichtweisen.
Die Entscheidungen, die sie treffen sind ihre. Über die dahinter steckenden Abhängigkeiten oder gar Hörigkeit kann man nur schwer urteilen.
Nicht nur in einer solchen Geschichte, auch in tausend anderen, treffen wir immer wieder Entscheidungen, die wir später ganz anders sehen.
Ein Kindwunsch geht sehr tief und wird gerade darum schwer und lange verarbeitet, bzw. gelingt es ein Lebenlang nicht.

Mir gefällt bei Deiner Geschichte die gelungene Kurzform. Die Tiefe und Nachdenklichkeit stellt sich ohne viel Worte von selbst ein. Die von Dir angemerkte Authenzität unterstreicht die Wirkung.

Liebe Grüße
Dana
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Ich kann meine Träume nicht fristlos entlassen,
ich schulde ihnen noch mein Leben.
(Frederike Frei)
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Alt 04.07.2017, 13:00   #6
Chavali
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Liebe Dana,
Zitat:
Mir gefällt bei Deiner Geschichte die gelungene Kurzform. Die Tiefe und Nachdenklichkeit stellt sich ohne viel Worte von selbst ein.
Die von Dir angemerkte Authenzität unterstreicht die Wirkung.
Danke, manchmal denke ich, meine Geschichten sind zu kurz oder zu nüchtern
Freut mich, dass es hier passt.

Du hast recht, dass man die Frau nicht verurteilen sollte.
Was man machen kann, ist, seine eigene Sichtweise dazu kundzutun


Danke dir
Liebe Grüße
Chavali



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