Gedichte-Eiland

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Stimme der Zeit 13.10.2011 21:36

Novalis - Georg Friedrich Philipp Freiherr von Hardenberg
* 2. Mai 1772; † 25. März 1801


Der Teufel

Ein loser Schalk, in dessen Beutel
Es just nicht allzu richtig stand,
Und der den Spruch, dass leider alles eitel
Auf unserm Runde ist, nur zu bestätigt fand,
Zog einst voll Spekulationen
In eine Stadt en migniatur,
Und schlug an jedes Tor und an die Rathaustür
Ein Avertissement mit vielen Worten schier,
Er werde heut in den Drei Kronen
Um fünf Uhr nachmittags den Teufel jedermann
Vom Ratsherrn bis zum Bettelmann
Für zwanzig Kreuzer präsentieren
Und ohne ihn bevor erst herzukommandieren.
Was Beine hatte, lief zum großen Wundermann,
Und überall war eine Weihnachtsfreude;
Der Bürgermeister schrieb mit Kreide
Den Tag an seiner Türe an,
Und jeder Ratsherr kam mit einem Galakleide
Und einer knotigen Perücke angetan,
Und will das Wunder sehn; auch mancher Handwerksmann
Kam hübsch bedächtlich angeschlichen
Und gab die Kreuzer hin, die er den Tag gewann.
Ein Schneider nur ging nicht zum Wundersmann
Und sprach: "Ich seh umsonst den Teufel alle Tage
In meiner jungen Frau zu meiner größten Plage,
Und der ist toller fürwahr als der beim Wundersmann."
Als endlich männiglichen
Der Held sich mit dem leeren Beutel zeigt
Und erst mit wichtger Miene schweigt
Und dann geheimnisvoll nur wenig Worte saget
Und seine Auditoren fraget,
Ob auch kein Atheist in der Versammlung sei,
Erstieg die Trunkenheit der blöden Phantasei
Den Gipfel, und der Schalk beginnt die Gaukelei.
Nach manchem hocus-pocus ziehet
Der Schalk den Beutel auf und jeglicher bemühet
Sich sehr den Leidigen zu sehn, doch jeder siehet
Nichts auf der Welt–; ein junger Taugenichts,
Der näher stand, ein bel esprit, voll Zweifel
Wie mancher Kandidat, beginnt: "Ich seh ja nichts."
"Das eben", rief der Schalk, "das eben ist der Teufel."
.

Erich Kykal 14.10.2011 21:00

Einsamkeit - Rainer Maria Rilke
 
Die Einsamkeit ist wie ein Regen.
Sie steigt vom Meer den Abenden entgegen;
von Ebenen, die fern sind und entlegen,
geht sie zum Himmel, der sie immer hat.
Und erst vom Himmel fällt sie auf die Stadt.

Regnet hernieder in den Zwitterstunden,
wenn sich nach Morgen wenden alle Gassen
und wenn die Leiber, welche nichts gefunden,
enttäuscht und traurig voneinander lassen;
und wenn die Menschen, die einander hassen,
in einem Bett zusammen schlafen müssen:

dann geht die Einsamkeit mit den Flüssen...

Stimme der Zeit 18.10.2011 07:35

Rochus Otto Manderup Heinrich zu Lynar

Alma - IV. Missverständnis


Ich bin enttäuscht! Der Schleier ist geschwunden. —
So wie nach einer sturmbewegten Nacht
Der frühe Tag ein grausam' Licht gebracht,
Dem Scheiternden sein Unglück zu bekunden:

So ist in wenig grauenvollen Stunden
Mein höchstes Gut, das ich mir treu gedacht,
Verloren, Hölle, mir durch deine Macht
Und aufgelöst, was Liebe jüngst verbunden.

So nimm mein Glück, so nimm mein ganzes Hoffen!
Ja, damals sah ich wohl den Himmel offen,
Als Liebe mir die Himmelsweihe gab:

Nun aber, da erloschen meine Sterne,
Irr' ich dahin zum Ziel' in dunkler Ferne?
Lebendig-tot durch dieses Erdengrab. —

Stimme der Zeit 23.10.2011 22:21

Hans Aßmann von Abschatz
(1646–1699)



[Thorheit ists/ daß unsre Zeit soll in Furcht und Angst verflüssen]


Thorheit ists/ daß unsre Zeit soll in Furcht und Angst verflüssen/
Besser ists in Freud und Lust der bestimmten Frist genüssen/
Nimm die Stunden willig an/
Die dir Gott und Glücke schencken/
Warum soll dich heute kräncken
Was sich morgen ändern kan?

Laß das ernste Sauersehn/ laß die eingezogne Stirne/
Laß den ausgehangnen Mund/ laß die Grillen im Gehirne/
Laß die Mucken um das Haubt
Biß ins Alter seyn verschoben/
Biß sich allgemach von oben
Kopff und Hals zum Grabe schraubt.

Laß der alten Weisen Schaar frey und ohnbewegt erscheinen/
Laß den tollen Heraclit gantze Thränen-Ströme weinen.
Menschen die empfindlich seyn
Halten mehr von Schertz und Lachen;
Sich vergebens traurig machen
Gehet ja wohl bitter ein.

Wir an Beutel/ Weib und Ort/ Zeit und Zustand ungebunden/
Brauchen billig/ weil es geht/ unsrer Jugend freye Stunden/
Was bringts einem Kargen ein/
Wenn er noch so reich an Schätzen:
Also/ was kan ohn Ergötzen
Unser bestes Leben seyn?

Rosen/ die der Sommer giebt/ kan man nicht im Winter pflücken/
Freude/ so die Jugend hegt/ kan das Alter nicht erquicken/
Wenn des siechen Leibes Hauß
Sich zum schnellen Falle neiget/
Wenn der Lebens-Strom verseiget/
Glutt und Hitze dämpffen aus.

Drum laßt uns den edlen Schatz der erlaubten Zeit gebrauchen
Eh die Kräffte noch in uns/ eh noch Marck und Blutt verrauchen.
Last uns dieses Tages Schein/
Der sich offte noch soll finden/
Dich mit Freuden anzubinden/
Frey und froh und freudig seyn.

Unter Freunden eine Lust kan uns kein Gesetze wehren/
Wer weiß/ was das Glücke noch ein- und andern kan bescheren.
Ey so geht es Sorgen-bloß
Auff die unverzehrten Gütter
Unsrer lieben Schwieger-Mütter/
Bruder/ im Vertrauen loß.

Chavali 24.10.2011 16:35

Die Brücke am Tay
 
Theodor Fontane


Die Brücke am Tay


"Wann treffen wir drei wieder zusamm'?"
"Um die siebente Stund', am Brückendamm."
"Am Mittelpfeiler."
"Ich lösch die Flamm'."
"Ich mit."
"Ich komme vom Norden her."
"Und ich vom Süden."
"Und ich vom Meer."

"Hei, das gibt ein Ringelreihn,
und die Brücke muß in den Grund hinein."
"Und der Zug, der in die Brücke tritt
um die siebente Stund'?"
"Ei, der muß mit."
"Muß mit."
"Tand, Tand
ist das Gebild von Menschenhand."

Auf der Norderseite, das Brückenhaus -
alle Fenster sehen nach Süden aus,
und die Brücknersleut', ohne Rast und Ruh
und in Bangen sehen nach Süden zu,
sehen und warten, ob nicht ein Licht
übers Wasser hin "ich komme" spricht,
"ich komme, trotz Nacht und Sturmesflug,
ich, der Edinburger Zug."

Und der Brückner jetzt: "Ich seh einen Schein
am andern Ufer. Das muß er sein.
Nun, Mutter, weg mit dem bangen Traum,
unser Johnie kommt und will seinen Baum,
und was noch am Baume von Lichtern ist,
zünd alles an wie zum heiligen Christ,
der will heuer zweimal mit uns sein, -
und in elf Minuten ist er herein."

Und es war der Zug. Am Süderturm
keucht er vorbei jetzt gegen den Sturm,
und Johnie spricht: "Die Brücke noch!
Aber was tut es, wir zwingen es doch.
Ein fester Kessel, ein doppelter Dampf,
die bleiben Sieger in solchem Kampf,
und wie's auch rast und ringt und rennt,
wir kriegen es unter: das Element.

Und unser Stolz ist unsre Brück';
ich lache, denk ich an früher zurück,
an all den Jammer und all die Not
mit dem elend alten Schifferboot;
wie manche liebe Christfestnacht
hab ich im Fährhaus zugebracht
und sah unsrer Fenster lichten Schein
und zählte und konnte nicht drüben sein."

Auf der Norderseite, das Brückenhaus -
alle Fenster sehen nach Süden aus,
und die Brücknersleut' ohne Rast und Ruh
und in Bangen sehen nach Süden zu;
denn wütender wurde der Winde Spiel,
und jetzt, als ob Feuer vom Himmel fiel,
erglüht es in niederschießender Pracht
überm Wasser unten... Und wieder ist Nacht.

"Wann treffen wir drei wieder zusamm'?"
"Um Mitternacht, am Bergeskamm."
"Auf dem hohen Moor, am Erlenstamm."
"Ich komme."
"Ich mit."
"Ich nenn euch die Zahl."
"Und ich die Namen."
"Und ich die Qual."
"Hei!
Wie Splitter brach das Gebälk entzwei."
"Tand, Tand
ist das Gebilde von Menschenhand."






Stimme der Zeit 24.10.2011 20:36

Liebe Chavi,

ich wollte nur anmerken, dass ich diese Ballade auch gut kenne. Die dichterische Umsetzung des realen Zugunglückes in der poetischen Verbindung mit den drei Hexen (als Kritik am technischen Fortschritt) hat mich beim Lesen immer wieder fasziniert.

Nur ein kurzes Feedback und ein Danke fürs Einstellen! :)

Liebe Grüße

Stimme http://www.smilies.4-user.de/include..._devil_006.gif

Stimme der Zeit 30.10.2011 22:18

.
Barthold Hinrich Brockes
(1680-1747)


Die Welt ist allezeit schön

Im Frühling prangt die schöne Welt
In einem fast smaragdnen Schein.
Im Sommer glänzt das reife Feld
Und scheint dem Golde gleich zu sein.

Im Herbste sieht man als Opalen
Der Bäume bunte Blätter strahlen.

Im Winter schmückt ein Schein, wie Diamant
Und reines Silber, Flut und Land.

Ja kurz, wenn wir die Welt aufmerksam sehn,
Ist sie zu allen Zeiten schön.
.

Chavali 08.11.2011 15:12

Liebe Stimme,

DEN Dichter hab ich jetzt mal gegogelt :)
Ein Literat, der nicht allgemein bekannt ist - oder hab ich da eine Bildungslücke?
Wie dem auch sei - seine Naturdichtung gefällt mir.


Hier mal noch eines meiner Lieblinge:

Theodor Fontane


Alles still!

Alles still! Es tanzt den Reigen
Mondenstrahl in Wald und Flur,
Und darüber thront das Schweigen
Und der Winterhimmel nur.

Alles still! Vergeblich lauschet
Man der Krähe heisrem Schrei.
Keiner Fichte Wipfel rauschet,
Und kein Bächlein summt vorbei.

Alles still! Die Dorfeshütten
Sind wie Gräber anzusehn,
Die, von Schnee bedeckt, inmitten
Eines weiten Friedhofs stehn.

Alles still! Nichts hör ich klopfen
Als mein Herze durch die Nacht
Heiße Tränen niedertropfen
Auf die kalte Winterpracht.


(kopiert aus http://www.gedichte.levrai.de/gedich...e_gedichte.htm )



Und nun sagt:
Lesen wir nicht von unseren Gegewartsdichtern nicht auch Ähnliches...? ;)





Stimme der Zeit 08.11.2011 19:44

Nein, liebe Chavi,

du hast keine "Bildungslücke", sonst hätte ich auch eine. ;) Über Gedicht (und Dichter) bin ich, ehrlich gesagt, "zufällig gestolpert". Aber ich finde, auch die "Unbekannteren" haben durchaus etwas zu bieten - mir gefiel der Vergleich der Natur und ihrer Farben mit Edelsteinen und Edelmetallen. Denn Natur ist eine Kostbarkeit! :)

Was dein Gedicht von Theodor Fontane betrifft:

Zitat:

Und nun sagt:
Lesen wir nicht von unseren Gegewartsdichtern nicht auch Ähnliches...? ;)
Wo du recht hast, hast du recht. :)

Liebe Grüße

Stimme http://www.smilies.4-user.de/include..._devil_006.gif

Stimme der Zeit 09.11.2011 19:40

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Johann Christoph Friedrich von Schiller (* 10. November 1759 in Marbach am Neckar, Württemberg; † 9. Mai 1805 in Weimar, Sachsen-Weimar)

Anlässlich seines Geburtstages möchte ich heute eines seiner Werke hier einstellen:

Die Macht des Gesanges

Ein Regenstrom aus Felsenrissen,
Er kommt mit Donners Ungestüm,
Bergtrümmer folgen seinen Güssen,
Und Eichen stürzen unter ihm;
Erstaunt mit wolllustvollem Grausen,
Hört ihn der Wanderer und lauscht,
Er hört die Flut vom Felsen brausen,
Doch weiß er nicht, woher sie rauscht:
So strömen des Gesanges Wellen
Hervor aus nie entdeckten Quellen.

Verbündet mit den furchtbarn Wesen,
Die still des Lebens Faden drehn,
Wer kann des Sängers Zauber lösen,
Wer seinen Tönen widerstehn?
Wie mit dem Stab des Götterboten
Beherrscht er das bewegte Herz,
Er taucht es in das Reich der Todten,
Er hebt es staunend himmelwärts,
Und wiegt es zwischen Ernst und Spiele
Auf schwanker Leiter der Gefühle.

Wie wenn auf einmal in die Kreise
Der Freude, mit Gigantenschritt,
Geheimnißvoll nach Geisterweise,
Ein ungeheures Schicksal tritt;
Da beugt sich jede Erdengröße
Dem Fremdling aus der andern Welt,
Des Jubels nichtiges Getöse
Verstummt, und jede Larve fällt,
Und vor der Wahrheit mächt’gem Siege
Verschwindet jedes Werk der Lüge:

So rafft von jeder eiteln Bürde,
Wenn des Gesanges Ruf erschallt,
Der Mensch sich auf zur Geisterwürde
Und tritt in heilige Gewalt;
Den hohen Göttern ist er eigen,
Ihm darf nichts Irdisches sich nahn,
Und jede andre Macht muß schweigen,
Und kein Verhängnis fällt ihn an;
Es schwinden jedes Kummers Falten,
Solang des Liedes Zauber walten.

Und wie nach hoffnungslosem Sehnen,
Nach langer Trennung bitterm Schmerz,
Ein Kind mit heißen Reuethränen
Sich stürzt an seiner Mutter Herz:
So führt zu seiner Jugend Hütten,
Zu seiner Unschuld reinem Glück,
Vom fernen Ausland fremder Sitten
Den Flüchtling der Gesang zurück,
In der Natur getreuen Armen
Von kalten Regeln zu erwarmen.

(Das Bild wurde zur Verfügung gestellt von: w w w.altebilder.net/ (Leerzeichen entfernen). Der Betreiber bat lediglich darum, dem Bild einen Hinweis auf die Quelle hinzuzufügen.)

Friedhelm Götz 17.11.2011 09:07

Christian Morgenstern gehört schon seit meiner Jugendzeit zu meinen Lieblingsautoren, und ich habe schon damals mit grotesken Gedichten versucht, auf Morgensterns Pfaden zu wandeln. Daraus entstand dann auch mal eine Rundfunksendung im damaligen Süddeutschen Rundfunk mit dem Titel "Flöhezimt und Morgenstern", gesprochen von Hanns Dieter Hüsch.

Hier nun als besonderes Schmankerl die wenig bekannte Legende "Das Vermächtnis" von Christian Morgenstern, gesprochen von Hanns Dieter Hüsch:

Das Vermächtnis - eine Legende von Christian Morgenstern

Wer nur oder auch lesen will:

Das Vermächtnis
eine Legende von Christian Morgenstern

Es war um die Zeit, da der Affe zum Menschen wurde. Und am Vorabend seiner Menschwerdung versammelte der Affe noch einmal alle Tiere der Erde um sich, um von ihnen Abschied zu nehmen. "Morgen will ich Mensch werden, sprach er wehmütig zu ihnen, und ihr werdet mich alle verlassen und meiden, und ein Kampf wird entstehen zwischen meinem Samen und eurem Samen."

"Jawoll, ein Kampf!" brüllte der Löwe.
"Du willst mehr werden als wir!" brummte das Nashorn.
"Das wirst du büßen müssen!" wiederholte giftig der Floh.
"Lassen wir das!" sagte mit einem Anflug unbeschreiblicher Müdigkeit der Affe,
und feiern wir heute noch ein Fest des Friedens und der Freude miteinander.
"So sei es!" riefen die Tiere und drängten sich gutmütig und wohlwollend um den scheidenden Bruder und fragten ihn, ob sie ihm nicht noch etwas Liebes tun oder mitgeben könnten.
Da ward dem Affen noch trübseliger zumute, und er setzte sich unter eine Palme und fing jämmerlich an zu schluchzen. Ein tiefes Mitleid ging durch die weichen Tierherzen.
"Wir wollen den Armen trösten", begann endlich das Schaf und schritt allen voran auf den Weinenden zu.
Lange sah das Schaf dem Affen in die Augen, und dann sprach es: "Trage mein Bild stets in deinem Herzen, so wird es sein, als ob ich mit und in dir weiterlebte."
Dem Schaf folgte das Kamel, sah dem Affen tief in die Augen und sagte das gleiche zu ihm.
Und herzu traten der Ochs, der Esel, das Schwein, der Pfau, die Gans, der Tiger, der Wolf, die Hyäne und viele andere Tiere, und jedes sah dem Affen tief in die Augen und sprach feierlich zu ihm: "Trage mein Bild stets in deiner Seele, so wird es sein, als ob ich mit dir weiterlebte."
Die letzen, die herantraten, waren der Löwe, der Adler und die Schlange.

Der Affe konnte vor Abgespanntheit kaum mehr aus den Augen schauen, und als die Schlange sich verabschiedet hatte, sank er sofort in tiefen Schlaf. Aber wirre und schreckliche Träume ängstigten ihn, und gegen Morgengrauen erhob er sich im Halbschlummer von seinem Lager und tastete sich zur nahen Quelle.
Mit Augen, deren Schleier klares Bewusstsein noch nicht zu zerreißen vermochte, blickte er in den Wasserspiegel, der, leicht bewegt, sein Bild wiedergab.
Wie sah er aus! Da schwamm auf zitternden Wellen das Bild des einfältigen Schafes - oder - nein! Es war das hässliche Kamel, das mit arroganten Zügen aus den Wogen ihn anstarrte. Mit einem Male schien es der blutrünstige Tiger, als den er sich in den Fluten sah, und kaum, dass er genauer hingespäht, war es ein Pfau, der ihm sein eitles Rad entgegenschlug.
Endlich brach ein Sonnenstrahl durch die Bäume, und der Affe erwachte aus seinem traumhaften Zustande. Verwundert rieb er sich die Augen und wollte sogleich den nächsten Baumriesen empor, als sein Blick von ungefähr in die Quelle fiel. Da erkannte er, dass er über Nacht Mensch geworden war. Und Adam zog aus, bis dass er Eva fand und verbreitete sein Geschlecht über die ganze Erde.

Chavali 21.11.2011 09:42

NAIVE ROMANTIK?




Ich und Du




Wir träumten voneinander
und sind davon erwacht.
Wir leben, um uns zu lieben,
und sinken in die Nacht.
Du tratst aus meinem Traume,
aus deinem trat ich hervor.
Wir sterben, wenn sich eines
im anderen ganz verlor.
Auf einer Lilie zittern
zwei Tropfen, rein und rund.
Zerfließen in eins und rollen
hinab in des Kelches Grund





- Friedrich Hebbel-




************************************************** *

Stimme der Zeit 23.11.2011 20:12

Kurt Tucholsky (1919)


Einkäufe

Was schenke ich dem kleinen Michel
zu diesem kalten Weihnachtsfest?
Den Kullerball? Den Sabberpichel?
Ein Gummikissen, das nicht näßt?
...............Ein kleines Seifensiederlicht?
...............Das hat er noch nicht. Das hat er noch nicht!

Wähl ich den Wiederaufbaukasten?
Schenk ich ihm noch mehr Schreibpapier?
Ein Ding mit schwarzweißroten Tasten;
ein patriotisches Klavier?
...............Ein objektives Kriegsgericht?
...............Das hat er noch nicht. Das hat er noch nicht!

Schenk ich den Nachttopf ihm auf Rollen?
Schenk ich ein Moratorium?
Ein Sparschwein, kugelig geschwollen?
Ein Puppenkrematorium?
...............Ein neues gescheites Reichsgericht?
...............Das hat er noch nicht. Das hat er noch nicht!

Ach, liebe Basen, Onkels, Tanten –
Schenkt ihr ihm was. Ich find es kaum.
Ihr seid die Fixen und Gewandten,
hängt ihrs ihm untern Tannenbaum.
...............Doch schenkt ihm keine Reaktion!
...............Die hat er schon. Die hat er schon!

Stimme der Zeit 29.12.2011 13:13

.
Zum 85. Todestag von Rainer Maria Rilke:

Der Tod des Dichters


Er lag. Sein aufgestelltes Antlitz war
bleich und verweigernd in den steilen Kissen,
seitdem die Welt und dieses von ihr Wissen,
von seinen Sinnen abgerissen,
zurückfiel an das teilnahmslose Jahr.

Die, so ihn leben sahen, wußten nicht,
wie sehr er eines war mit allem diesen,
denn dieses: diese Tiefen, diese Wiesen
und diese Wasser waren sein Gesicht.

O sein Gesicht war diese ganze Weite,
die jetzt noch zu ihm will und um ihn wirbt;
und seine Maske, die nun bang verstirbt,
ist zart und offen wie die Innenseite
von einer Frucht, die an der Luft verdirbt.
.

Chavali 30.12.2011 09:05

Theodor Fontane
(1819 - 1898)

192. Geburtstag am 30.12.





Alles still!



Alles still! Es tanzt den Reigen
Mondenstrahl in Wald und Flur,
Und darüber thront das Schweigen
Und der Winterhimmel nur.


Alles still! Vergeblich lauschet
Man der Krähe heisrem Schrei.
Keiner Fichte Wipfel rauschet,
Und kein Bächlein summt vorbei.


Alles still! Die Dorfeshütten
Sind wie Gräber anzusehn,
Die, von Schnee bedeckt, inmitten
Eines weiten Friedhofs stehn.


Alles still! Nichts hör ich klopfen
Als mein Herze durch die Nacht
Heiße Tränen niedertropfen
Auf die kalte Winterpracht.





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Ein neues Buch, ein neues Jahr
was werden die Tage bringen?

Wirds werden, wie es immer war,
halb scheitern, halb gelingen?

Ich möchte leben, bis all dies Glühn
rücklässt einen leuchtenden Funken.

Und nicht vergeht, wie die Flamm im Kamin,
die eben zu Asche gesunken.



************************************************** ******************************










Chavali 03.01.2012 10:33

Theodor Storm

Weihnachtabend 1852

Die fremde Stadt durchschritt ich sorgenvoll,
Der Kinder denkend, die ich ließ zu Haus.
Weihnachten war's; durch alle Gassen scholl
Der Kinderjubel und des Markts Gebraus.

Und wie der Menschenstrom mich fortgespült,
Drang mir ein heiser Stimmlein in das Ohr:
»Kauft, lieber Herr!« Ein magres Händchen hielt
Feilbietend mir ein ärmlich Spielzeug vor.


Ich schrak empor, und beim Laternenschein
Sah ich ein bleiches Kinderangesicht;
Wes Alters und Geschlechts es mochte sein,
Erkannt ich im Vorübertreiben nicht.


Nur von dem Treppenstein, darauf es saß,
Noch immer hört ich, mühsam, wie es schien:
»Kauft, lieber Herr!« den Ruf ohn Unterlaß;
Doch hat wohl keiner ihm Gehör verliehn.


Und ich? - War's Ungeschick, war es die Scham,
Am Weg zu handeln mit dem Bettelkind?
Eh meine Hand zu meiner Börse kam,
Verscholl das Stimmlein hinter mir im Wind.


Doch als ich endlich war mit mir allein,
Erfaßte mich die Angst im Herzen so,
Als säß mein eigen Kind auf jenem Stein
Und schrie nach Brot, indessen ich entfloh.






~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~~


Bei diesem Gedicht habe ich schon als Kind bittere Tränen vergossen :(


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Stimme der Zeit 21.01.2012 22:40

Heute hatte ich ein wenig "Balsam" nötig, daher ein Gedicht von Eduard Mörike, das mich immer wieder zum Schmunzeln bringt:


Lose Ware

»Tinte! Tinte, wer braucht? Schön schwarze Tinte verkauf ich!«
Rief ein Büblein gar hell Straßen hinauf und hinab.
Lachend traf sein feuriger Blick mich oben im Fenster,
Eh ich michs irgend versah, huscht er ins Zimmer herein.
Knabe, dich rief niemand! – »Herr, meine Ware versucht nur!«
Und sein Fäßchen behend schwang er vom Rücken herum.
Da verschob sich das halbzerissene Jäckchen ein wenig
An der Schulter und hell schimmert ein Flügel hervor.
Ei, laß sehen, mein Sohn, du führst auch Federn im Handel?
Amor, verkleideter Schelm! soll ich dich rupfen sogleich?
Und er lächelt, entlarvt, und legt auf die Lippen den Finger:
»Stille! Sie sind nicht verzollt – stört die Geschäfte mir nicht!
Gebt das Gefäß, ich füll es umsonst, und bleiben wir Freunde!«
Dies gesagt und getan, schlüpft er zur Türe hinaus. –
Angeführt hat er mich doch: denn will ich was Nützliches schreiben,
Gleich wird ein Liebesbrief, gleich ein Erotikon draus.

(1837)

Chavali 02.02.2012 19:56

Der Bau der Marienkirche zu Lübeck



Theodor Storm 1817 - 1888

Eine Sage

Im alten heiligen Lübeck
Ward eine Kirche gebaut
Zu Ehren der Jungfrau Maria,
Der hohen Himmelsbraut.

Doch als man den Bau begonnen,
Da hatt es der Teufel gesehn;
Der glaubte, an selbiger Stelle
Ein Weinhaus würde erstehn.

Draus hat er manch arme Seele
Sich abzuholen gedacht
Und drum das Werk gefördert
Ohn Rasten Tag und Nacht.

Die Maurer und der Teufel,
Die haben zusammen gebaut;
Doch hat ihn bei der Arbeit
Kein menschlich Aug geschaut.

Drum, wie sich die Kellen rührten,
Es mochte keiner verstehn,
Daß in so kurzen Tagen
So großes Werk geschehn.

Und als sich die Fenster wölben,
Der Teufel grinset und lacht,
Daß man in einer Schenke
So Tausende Scheiben macht.

Doch als sich die Bogen wölben,
Da hat es der Teufel durchschaut,
Daß man zu Gottes Ehren
Eine Kirche hier erbaut.

Da riß er in seinem Grimme
Einen Fels von Bergeswand
Und schwingt sich hoch in Lüften,
Von männiglich erkannt.

Schon holt er aus zum Wurfe
Aufs heilige Prachtgebäu; -
Da tritt ein Maurergeselle
Hervor getrost und frei:

»Herr Teufel, wollt nichts Dummes
Begehen in der Hast!
Man hat ja sonst vernommen,
Daß Ihr Euch handeln laßt!«

»So bauet«, schrie der Teufel,
»Ein Weinhaus nebenan,
Daß ich mein Werken und Mühen
Nicht schier umsonst getan.« -

Und als sie's ihm gelobet,
So schleudert er den Stein,
Auf daß sie dran gedächten,
Hart in den Grund hinein. -

Drauf, als der Teufel entfahren,
Ward manches liebe Jahr
Gebaut noch, bis die Kirche
Der Jungfrau fertig war.

Dann ist dem Teufel zu Willen
Der Ratsweinkeller erbaut,
Wie man ihn noch heutzutage
Dicht neben der Kirche schaut.

So stehen Kirch und Keller
In traulichem Verein;
Die frommen Herrn zu Lübeck,
Die gehen aus und ein.

Sie beten wohl da droben,
Da drunten trinken sie,
Und für des Himmels Gaben
Da droben danken sie.

Und trinken sie da drunten,
Sie denken wohl dabei:
Dem selbst der Teufel dienet,
Wer fröhlich, fromm und frei.


;););)


eva 10.06.2012 18:30

ich steure mal meins bei:


Mondnacht

Es war, als hätt' der Himmel
Die Erde still geküsst,
Dass sie im Blütenschimmer
Von ihm nun träumen müsst'.

Die Luft ging durch die Felder,
Die Ähren wogten sacht,
Es rauschten leis' die Wälder,
So sternklar war die Nacht.

Und meine Seele spannte
Weit ihre Flügel aus,
Flog durch die stillen Lande,
Als flöge sie nach Haus.



Joseph von Eichendorff

Chavali 09.10.2012 20:06

Am Birkenbaum

Ferdinand Freiligrath






Der junge Jäger am Waldrand saß,
am Waldrand auf der Haar.
Wie Blut schon die Blätter, gebleicht das Gras,
doch der Himmel sonnig und klar.
Er sprach: Die Bracken ziehn sich zur Möhne!
Vergebens mich auf den Fuchs gefreut!
Fern, immer ferner des Hornes Töne –
Kein Schuß mehr fällt auf dem Brandholz heut!
Ob ich nach nur schlendre? Den Teufel auch!
Ich lob mir im Sonnenschein
das Eckchen hier am Wacholderstrauch
und den grauen, moosigen Stein!
Drauf streck ich mich aus, den nehm ich zum Polster,
an die Buche lehn ich mein Doppelgewehr!
Und nun aus dem Dichterwinkel der Holster,
mein Jagdgenosse, mein Byron, komm her! –
Und er nimmt seinen Weidsack und langt sie herfür,
die ihn öfters begleitete schon,
die höchst unwürd'ge auf Löschpapier,
die Zwickauer Edition.
Den Mazeppa hat er sich aufgeschlagen:
Muß sehn, ob ich's deutsch nur reimen kann!
Mögen immer die andern lachen und sagen:
Ha, ha, der lateinische Jägersmann!
Er liest – er sinnt – nun schreibt er sich's auf;
nun scheint er so recht im Fluß –
Da nimmt er vor Freuden den Doppellauf
und tut in die Luft einen Schuß.
So hat er es lange Stunden getrieben,
ein närrischer Kauz, ein Stück Poet,
bis ihm, mit Bleistift flott geschrieben,
ein saubrer Anfang im Taschenbuch steht.
Er reibt sich die Hände – Und nun nach Haus!
Zwei Stunden noch hab ich zu gehn;
nur ein einzig Mal noch hinab und hinaus
in die Ebene will ich spähn;
will mir Schimmer und Duft in die Seele saugen,
daß sie Freude noch und zu zehren hat,
wenn mir wieder die fernedurstigen Augen
auf Wochen einengt die graue Stadt.
Da liegt sie finster mit Türmen und Wall,
die mich lehren soll den Erwerb,
die mich grämlich sperrt in der Prosa Stall,
und Dichten heißt Zeitverderb!
Wenn ich manchmal nicht auf den Rappen müßte,
hätt ich manchmal nicht einen Jagdtag frei,
einen Tag wie heut – Schwerenot, ich wüßte
keinen Rat meiner heimlichen Reimerei!
Da liegt sie – herbstlicher Duft ihr Kleid –
in der Abendsonne Brand!
Und hinter ihr, endlos, meilenweit,
das leuchtende Münsterland!
Ein Blitz wie Silber – das ist die Lippe!
Links hier des Hellwegs goldene Au!
Und dort zur Rechten, überm Gestrüppe,
das ist meines Osnings dämmerndes Blau!
Eine Fläche das! So, denk ich mir, war
die Flur, die Mazeppa durchsprengt!
Oder jene, drauf der russische Zar
den schwedischen Karl gedrängt!
Zwar – milder und üppiger ist die Börde,
doch wir haben auch Heidegrund und Moor
und wilden Busch auf der roten Erde –
Ob auch hier schon wer eine Schlacht verlor?
- So denkt er, und hat es laut wohl gesagt;
da tritt ein Mann auf ihn zu:
Ein Bauer – und wenn ihr mehr noch fragt:
Der Hüter einer Kuh.
Die langen Glieder umhüllt ein schlichter
Leinrock, das bläuliche Auge sticht,
die Lippe zuckt – so tritt er zum Dichter,
so lächelt er seltsamlich und spricht:
2

Guten Abend, Herr! Ob man Schlachten schlug
in der Ebene dort – fürwahr,
ich hab's nicht erfahren! Lest nach im Buch!
Mich kümmert wenig, was war!
Ich schaue nur aus nach den künftigen Tagen –
So spricht vom Haarstrang der alte Hirt:
Eine Schlacht wohl sah ich dort unten schlagen,
doch eine, die man erst schlagen wird!
Ich habe sie dreimal mit angesehn!
Oh, öd ist die Haar bei Nacht!
Ich aber muß auf vom Bette stehn –
Dann hat es mich hergebracht!
Just, Herr, wo Ihr steht – just hier auf den Felsen,
da hat es mich Sträubenden hingestellt!
Und hätt ich gewandt mich mit hundert Hälsen,
doch hätt ich hinabschaun müssen ins Feld!
Und ich sah hinab und ich sah genau –
da schwammen Äcker in Blut!
Da hing's an den Ähren wie roter Tau,
und der Himmel war eine Glut!
Um die Höfe sah ich die Flamme wehen,
und die Dörfer brannten wie dürres Gras:
Es war, als hätt ich die Welt gesehen
durch Höhrauch oder durch farbig Glas!
Und zwei Heere, zahllos wie Blätter im Busch,
hieben wild aufeinander ein;
das eine, mit hellem Trompetentusch,
zog heran in der Richtung vom Rhein.
Das waren die Völker des Westens, die Freien!
Bis zum Haarweg scholl ihrer Pferde Gewiehr,
und voraus flog ihren unendlichen Reihen
im Rauche des Pulvers ein rot Panier!
Rot, Rot, Rot! Das einige Rot!
Kein prunkendes Wappen drauf!
Das trieb sie hinein in den jauchzenden Tod,
das band sie, das hielt sie zuhauf!
Das warf sie entgegen den Sklaven aus Osten,
die, das Banner bestickt mit wildem Getier,
unabsehbar über die Fläche tosten
auf das dröhnende, zitternde Kampfrevier.
Und ich wußte – doch hat es mir keiner gesagt! –,
das ist die letzte Schlacht,
die der Osten gegen den Westen wagt
um den Sieg und um die Macht!
Das ist der Knechtschaft letztes Verenden!
Das ist, wie nie noch ein Würfel fiel
aus der Könige kalten, bebenden Händen,
der letzte Wurf in dem alten Spiel!
Denn dies ist die Schlacht um den Birkenbaum! –
Und ich sah seinen weißen Stamm,
und er stand und regte die Blätter kaum,
denn sie waren schwer und klamm!
Waren klamm von Blut, das der blutige Reigen
an die zitternden wild in die Höhe gespritzt;
und so stand er mit traurig hangenden Zweigen,
von Kartätschen und springenden Bomben umblitzt.
Auf einmal hub er zu säuseln an,
und ein Licht flog über die Haar –
Und den Osten sah ich geworfen dann
von des Westens drängender Schar.
Die Zäume verhängt und die Fahnen zertreten
und die Führer zermalmt von der Hufe Wucht
und im Nacken der Freiheit Gerichtstrompeten –
so von dannen jagte die rasende Flucht.
Da! zu uns auch herauf! – Da seht ihr sie nicht?
Durch den Hohlweg und über den Stein!
Da! – - zum vierten Mal nun das gleiche Gesicht
und der gleiche lodernde Schein! –
Da! – tretet beiseit, daß kein fliegender Zügel,
daß kein sausender Dolman den Arm euch streift!
noch des Mannes Haupt, den, hangend im Bügel,
eben jetzt sein Pferd durch den Ginster schleift!
Da! – es stürzt! – das edelste dieser Schlacht! –
Der Geschleifte liegt tot im Farn!
Und über ihn weg nun die wilde Jagd,
die Lafetten, die Pulverkarrn! –
Wer denkt noch an den? Wer unter den Wagen
risse den noch hervor? Was Bahre, was Sarg!
Hört, Herr – doch dürft ihr es keinem sagen! –,
so stirbt in Europa der letzte Monarch!
3

Dem jungen Jäger schwirrt es im Kopf,
und er tat einen langen Satz,
und er fluchte: Vermaledeiter Tropf
und vermaledeiter Platz!
Doch der Alte, kühl wie ein Seher eben,
sah ihm ruhig nach von des Holzes Saum:
Ja, flucht nur, Herr Junge! Könnt's doch noch erleben!
Seid ja siebenzehn oder achtzehn kaum!
Dann pfiff er und zog übers Stoppelfeld –
Noch hat sich das Wort nicht erfüllt!
Doch der Birkenbaum steht ungefällt,
und zwei Lager heute zerklüften die Welt,
und ein Hüben, ein Drüben nur gilt!
Schon gab es Geplänkel: doch dauernd schlichten
wird ein Schlag nur, wie jener, den wachsenden Strauß –
Und dem Jäger kommen die alten Geschichten,
und er denkt: Schlüge dennoch das Volk in Gesichten
seines nahenden Welttags Siege voraus?






Interessant - oder? ;):);)

Cebrail 28.10.2012 22:16

So nun mal eines meiner Lieblingsgedichte.



Beim Schlafen gehen

Nun der Tag mich müd gemacht,
Soll mein sehnliches Verlangen
Freundlich die gestirnte Nacht
Wie ein müdes Kind empfangen.

Hände, lasst von allem Tun,
Stirn, vergiss du alles Denken,
Alle meine Sinne nun
Wollen sich in Schlummer senken.

Und die Seele, unbewacht,
Will in freien Flügen schweben,
Um im Zauberkreis der Nacht
Tief und tausendfach zu Leben.


Hermann Hesse (1911)


Hesse schrieb es im Jahr 1911 und veröffentlichte es 1914 in seiner Gedichtsammlung "Musik des Einsamen".
Thematisch wird diese Gedicht den Abendliedern zugeordnet, für mich
ist es aber weitaus mehr, da hier der Schlaf durchaus als Metapher für den
Tod gesehen werden kann.
Besonders die dritte Strophe hat es mir angetan.

Cebrail 18.11.2012 20:20

Hier nun ein Gedicht von Wolf Graf von Kalckreuth, ein Dichter der, meiner Meinung nach, zu sehr in Vergessenheit geraten ist.

Den Titel kenne ich leider nicht, aber schaut selber.





Wolf Graf von Kalckrath


Und alles ist unsagbar kalt und schön:

Des müdgeweihten Tages blasse Gluten,

Der Mittagsglanz metallner Meeresfluten,

Das junge Grün der frühlingszarten Höhn.



Die freudge Furcht, das leise Schmerzgestöhn,

Das stumme, glühende Begehren ruhten.

Die Seele hört in purpurnem Verbluten

Durch tiefe Dämmerung ein mild Getön.



Es ist des Flusses mondbeglänztes Fließen,

Die Müdigkeit nach liebendem Genießen,

Ein kühles Licht im starrkristallnen Sinn. –



Mir ist, als tage eine bleiche Frühe,

Wo seltsam eine neue Welt erblühe ...

Ich fühle kaum, daß ich gestorben bin.

Chavali 25.11.2012 22:30

Georg Trakl
 
Hier mal ein Werk von Georg Trakl.
Ein Sonett.
Melancholisch, düster.
Ganz so, wie ich gern Gedichte lesen mag.



Verfall (1913) - Georg Trakl

Am Abend, wenn die Glocken Frieden läuten,
Folg ich der Vögel wundervollen Flügen,
Die lang geschart, gleich frommen Pilgerzügen,
Entschwinden in den herbstlich klaren Weiten.

Hinwandelnd durch den dämmervollen Garten
Träum ich nach ihren helleren Geschicken
Und fühl der Stunden Weiser kaum mehr rücken.
So folg ich über Wolken ihren Fahrten.

Da macht ein Hauch mich von Verfall erzittern.
Die Amsel klagt in den entlaubten Zweigen.
Es schwankt der rote Wein an rostigen Gittern,

Indes wie blasser Kinder Todesreigen
Um dunkle Brunnenränder, die verwittern,
Im Wind sich fröstelnd blaue Astern neigen.






Falderwald 26.11.2012 21:56

Heinrich Heine
 


Fresko-Sonett (an Christian S.) Nr. IX


Die Welt war mir nur eine Marterkammer,
Wo man mich bei den Füßen aufgehangen
Und mir gezwickt den Leib mit glühnden Zangen
Und eingeklemmt in enger Eisenklammer.

Wild schrie ich auf vor namenlosem Jammer,
Blutströme mir aus Mund und Augen sprangen, -
Da gab ein Mägdlein, das vorbeigegangen,
Mir schnell den Gnadenstoß mit goldnem Hammer.

Neugierig sieht sie zu, wie mir im Krampfe
Die Glieder zuckten, wie im Todeskampfe
Die Zung’ aus blut’gem Munde hängt und lechzet.

Neugierig horcht sie, wie mein Herz noch ächzet,
Musik ist ihr mein letztes Todesröcheln,
Und spottend steht sie da mit kaltem Lächeln.


Heinrich Heine






Falderwald 27.11.2012 21:42

Novalis
 
Es färbte sich die Wiese grün...


Es färbte sich die Wiese grün
Und um die Hecken sah ich blühn,
Tagtäglich sah ich neue Kräuter,
Mild war die Luft, der Himmel heiter.
Ich wußte nicht, wie mir geschah,
Und wie das wurde, was ich sah.

Und immer dunkler ward der Wald
Auch bunter Sänger Aufenthalt,
Es drang mir bald auf allen Wegen
Ihr Klang in süßen Duft entgegen.
Ich wußte nicht, wie mir geschah,
Und wie das wurde, was ich sah.

Es quoll und trieb nun überall
Mit Leben, Farben, Duft und Schall,
Sie schienen gern sich zu vereinen,
Daß alles möchte lieblich scheinen.
Ich wußte nicht, wie mir geschah,
Und wie das wurde, was ich sah.

So dacht ich: ist ein Geist erwacht,
Der alles so lebendig macht
Und der mit tausend schönen Waren
Und Blüten sich will offenbaren?
Ich wußte nicht, wie mir geschah,
Und wie das wurde, was ich sah.

Vielleicht beginnt ein neues Reich –
Der lockre Staub wird zum Gesträuch
Der Baum nimmt tierische Gebärden
Das Tier soll gar zum Menschen werden.
Ich wußte nicht, wie mir geschah,
Und wie das wurde, was ich sah.

Wie ich so stand und bei mir sann,
Ein mächtger Trieb in mir begann.
Ein freundlich Mädchen kam gegangen
Und nahm mir jeden Sinn gefangen.
Ich wußte nicht, wie mir geschah,
Und wie das wurde, was ich sah.

Sie ging vorbei, ich grüßte sie,
Sie dankte, das vergeß ich nie –
Ich mußte ihre Hand erfassen
Und Sie schien gern sie mir zu lassen.
Ich wußte nicht, wie mir geschah,
Und wie das wurde, was ich sah.

Uns barg der Wald vor Sonnenschein
Das ist der Frühling fiel mir ein.
Kurzum, ich sah, daß jetzt auf Erden
Die Menschen sollten Götter werden.
Nun wußt ich wohl, wie mir geschah,
Und wie das wurde, was ich sah.


Novalis

Erich Kykal 31.12.2012 09:12

Rainer Maria Rilke - Das Stundenbuch (von der Armut und vom Tode)
 
Denn sieh: sie werden leben und sich mehren
und nicht bezwungen werden von der Zeit,
und werden wachsen wie des Waldes Beeren,
den Boden bergend unter Süßigkeit.

Denn selig sind, die niemals sich entfernten
und still im Regen standen ohne Dach;
zu ihnen werden kommen alle Ernten,
und ihre Frucht wird voll sein tausendfach.

Sie werden dauern über jedes Ende
und über Reiche, deren Sinn verrint,
und werden sich wie ausgeruhte Hände
erheben, wenn die Hände aller Stände
und aller Völker müde sind.

Erich Kykal 31.12.2012 09:29

Rainer Maria Rilke - Mir zur Feier (Auszüge)
 
Die armen Worte, die im Alltag darben,
die unscheinbaren Worte, lieb ich so.
Aus meinen Festen schenk ich ihnen Farben,
da lächeln sie und werden langsam froh.

Ihr Wesen, das sie bang in sich bezwangen,
erneut sich deutlich, dass es jeder sieht;
sie sind noch niemals im Gesang gegangen
und schauernd schreiten sie in meinem Lied.




Ich bin zu Hause zwischen Tag und Traum.
Dort wo die Kinder schläfern, heiß vom Hetzen,
dort wo die Alten sich zu Abend setzen,
und Herde glühn und hellen ihren Raum.

Ich bin zu Hause zwischen Tag und Traum.
Dort wo die Abendglocken klar verklangen
und Mädchen, vom Verhallenden befangen,
sich müde stützen auf den Brunnensaum.

Und eine Linde ist mein Lieblingsbaum;
und alle Sommer, welche in ihr schweigen,
rühren sich wieder in den tausend Zweigen
und wachen wieder zwischen Tag und Traum.



Du musst das Leben nicht verstehen,
dann wird es werden wie ein Fest.
Und lass dir jeden Tag geschehen
so wie ein Kind im Weitergehen
von jedem Wehen
sich viele Blüten schenken lässt.

Sie aufzusammeln und zu sparen,
das kommt dem Kind nicht in den Sinn.
Es löst sie leise aus den Haaren,
drin sie so gern gefangen waren,
und hält den lieben jungen Jahren
nach neuen seine Hände hin.



Vor lauter Lauschen und Staunen sei still,
du mein tieftiefes Leben;
dass du weißt, was der Wind dir will,
eh noch die Birken beben.

Und wenn dir einmal das Schweigen sprach,
lass deine Sinne besiegen.
Jedem Hauche gieb dich, gieb nach,
er wird dich lieben und wiegen.

Und dann meine Seele sei weit, sei weit,
dass dir das Leben gelinge,
breite dich wie ein Feierkleid
über die sinnenden Dinge.



Schau, wie die Zypressen schwärzer werden
in den Wiesengründen, und auf wen
in den unbetretbaren Alleen
die Gestalten mit den Steingebärden
weiterwarten, die uns übersehn.

Solchen stillen Bildern will ich gleichen
und gelassen aus den Rosen reichen,
welche wiederkommen und vergehn;
immerzu wie einer von den Teichen
dunkle Spiegel immergrüner Eichen
in mir halten, und die großen Zeichen
ungezählter Nächte näher sehn.



Ich war ein Kind und träumte viel
und hatte noch nicht Mai;
da trug ein Mann sein Saitenspiel
an unserm Hof vorbei.
Da hab ich bange aufgeschaut:
"Oh Mutter, lass mich frei..."
Bei seiner Laute erstem Laut
brach etwas mir entzwei.

Ich wusste, eh sein Sang begann:
Es wird mein Leben sein.
Sing nicht, sing nicht, du fremder Mann:
Es wird mein Leben sein.
Du singst mein Glück und meine Müh,
mein Lied singst du und dann:
Mein Schicksal singst du viel zu früh,
so dass ich, wie ich blüh und blüh, -
es nie mehr leben kann.

Er sang. Und dann verklang sein Schritt, -
er musste weiterziehn;
und sang mein Leid, das ich nie litt,
und sang mein Glück, das mir entglitt,
und nahm mich mit und nahm mich mit -
und keiner weiß wohin...




Es ist noch Tag auf der Terasse.
Da fühle ich ein neues Freuen:
wenn ich jetzt in den Abend fasse,
ich könnte Gold in jede Gasse
aus meiner Stille niederstreuen.

Ich bin jetzt von der Welt so weit.
Mit ihrem späten Glanz verbräme
ich meine ernste Einsamkeit.

Mir ist, als ob mir irgendwer
jetzt leise meinen Namen nähme,
so zärtlich, dass ich mich nicht schäme
und weiß: ich brauche keinen mehr.



Der Abend ist mein Buch. Ihm prangen
die Deckel purpurn in Damast;
ich löse seine goldnen Spangen
mit kühlen Händen, ohne Hast.

Und lese seine erste Seite,
beglückt durch den vertrauten Ton, -
und lese leiser seine zweite,
und seine dritte träum ich schon.



Ich fürchte mich so vor der Menschen Wort.
Sie sprechen alles so deutlich aus:
Und dieses heißt Hund und jenes heißt Haus,
und hier ist Beginn und das Ende ist dort.

Mich bangt auch ihr Sinn, ihr Spiel mit dem Spott,
sie wissen alles, was wird und war;
kein Berg ist ihnen mehr wunderbar;
ihr Garten und Gut grenzt grade an Gott.

Ich will immer warnen und wehren: Bleibt fern.
Die Dinge singen hör ich so gern.
Ihr rührt sie an: sie sind starr und stumm.
Ihr bringt mir alle die Dinge um.



Nenn ich dich Aufgang oder Untergang?
Denn manchmal bin ich vor dem Morgen bang
und greife scheu nach seiner Rosen Röte -
und ahne ein Angst in seiner Flöte
vor Tagen, welche liedlos sind und lang.

Aber die Abende sind mild und mein,
von meinem Schauen sind sie still beschienen;
in meinen Armen schlafen Wälder ein, -
und ich bin selbst das Klingen über ihnen,
und mit dem Dunkel in den Violinen
verwandt durch all mein Dunkelsein.



Die Nacht ist wie eine schwarze Stadt,
wo nach stummen Gesetzen
sich die Gassen mit Gassen vernetzen
und sich Plätze fügen zu Plätzen,
und die bald an die tausend Türme hat.

Aber die Häuser der schwarzen Stadt, -
du weißt nicht, wer darin siedelt.

In ihrer Gärten schweigendem Glanz
reihen sich reigende Träume zum Tanz, -
und du weißt nicht, wer ihnen fiedelt...



Das ist die Sehnsucht: wohnen im Gewoge
und keine Heimat haben in der Zeit.
Und das sind Wünsche: leise Dialoge
täglicher Stunden mit der Ewigkeit.

Und das ist Leben. Bis aus einem Gestern
die einsamste von allen Stunden steigt,
die, anders lächelnd als die andern Schwestern,
dem Ewigen entgegenschweigt.

Chavali 01.06.2013 17:01

Trutz, Blanke Hans
 
Hier habe ich ein tolles Gedicht entdeckt:

Trutz, Blanke Hans

Detlev von Liliencron

Heut bin ich über Rungholt gefahren,
Die Stadt ging unter vor sechshundert Jahren.
Noch schlagen die Wellen da wild und empört,
Wie damals, als sie die Marschen zerstört.
Die Maschine des Dampfers schütterte, stöhnte,
Aus den Wassern rief es unheimlich und höhnte:
Trutz, Blanke Hans.

Von der Nordsee, der Mordsee, vom Festland geschieden,
Liegen die friesischen Inseln im Frieden.
Und Zeugen weltenvernichtender Wut,
Taucht Hallig auf Hallig aus fliehender Flut.
Die Möwe zankt schon auf wachsenden Watten,
Der Seehund sonnt sich auf sandigen Platten.
Trutz, Blanke Hans.


Mitten im Ozean schläft bis zur Stunde
Ein Ungeheuer, tief auf dem Grunde.
Sein Haupt ruht dicht vor Englands Strand,
Die Schwanzflosse spielt bei Brasiliens Sand.
Es zieht, sechs Stunden, den Atem nach innen
Und treibt ihn, sechs Stunden, wieder von hinnen.
Trutz, Blanke Hans.

Doch einmal in jedem Jahrhundert entlassen
Die Kiemen gewaltige Wassermassen.
Dann holt das Untier tief Atem ein,
Und peitscht die Wellen und schläft wieder ein.
Viel tausend Menschen im Nordland ertrinken,
Viel reiche Länder und Städte versinken.
Trutz, Blanke Hans.

Rungholt ist reich und wird immer reicher,
Kein Korn mehr faßt der größeste Speicher.
Wie zur Blütezeit im alten Rom,
Staut hier täglich der Menschenstrom.
Die Sänften tragen Syrer und Mohren,
Mit Goldblech und Flitter in Nasen und Ohren.
Trutz, Blanke Hans.

Auf allen Märkten, auf allen Gassen
Lärmende Leute, betrunkene Massen.
Sie ziehn am Abend hinaus auf den Deich:
Wir trotzen dir, blanker Hans, Nordseeteich!
Und wie sie drohend die Fäuste ballen,
Zieht leis aus dem Schlamm der Krake die Krallen.
Trutz, Blanke Hans.

Die Wasser ebben, die Vögel ruhen,
Der liebe Gott geht auf leisesten Schuhen.
Der Mond zieht am Himmel gelassen die Bahn,
Belächelt der protzigen Rungholter Wahn.
Von Brasilien glänzt bis zu Norwegs Riffen
Das Meer wie schlafender Stahl, der geschliffen.
Trutz, Blanke Hans.


Und überall Friede, im Meer, in den Landen.
Plötzlich wie Ruf eines Raubtiers in Banden:
Das Scheusal wälzte sich, atmete tief,
Und schloß die Augen wieder und schlief.
Und rauschende, schwarze, langmähnige Wogen
Kommen wie rasende Rosse geflogen.

Trutz, Blanke Hans.

Ein einziger Schrei – die Stadt ist versunken,
Und Hunderttausende sind ertrunken.
Wo gestern noch Lärm und lustiger Tisch,
Schwamm andern Tags der stumme Fisch.
Heut bin ich über Rungholt gefahren,
Die Stadt ging unter vor sechshundert Jahren.

Trutz, Blanke Hans?






Es geht hier um die die Rungholtsage, nach der die reiche, aber gottlose Stadt Rungholt

durch eine Sturmflut vernichtet wurde.
In der zweiten Strophe wird die Nordsee als Mordsee bezeichnet.







LG Chavali


Dana 03.07.2013 21:01

Das Lied vom Dichter
 
Das Lied vom Dichter (Heinrich Seidel)

Was ein gerechter Dichter ist,
Macht Verse fast zu jeder Frist,
Er reitet seinen Pegasum
Und dichtet Alles um und um.

Darum wird er auch selten fett,
Denn morgens früh in seinem Bett,
Bevor ein Andrer kaum erwacht,
Hat er schon ein Sonett gemacht.

Terzinen werden eingestippt,
Wenn er den Blümchen-Kaffee nippt;
Verzehrt zum Frühstück er sein Ei,
Macht er ein Triolett dabei.

Und wenn er seine Suppe isst,
Er löffelweis' die Jamben misst,
Und wenn er seinen Braten kaut,
Im Geiste er Trochäen baut!

Thut weiter nichts in dieser Welt,
Darum hat er auch nie kein Geld!
Dies kümmert ihn zu keiner Frist,
Weil's auch ein Stoff zum Dichten ist.

Hat er kein Bett, hat er kein Haus,
So macht er ein Gedicht daraus!
Hat er ein Loch im Rock, im Schuh
So stopft er es mit Strophen zu!

Nichts ist zu gross, nichts ist zu klein:
Er sperrt's in seine Verse ein.
Nur was man nicht besingen kann,
Das sieht er als ein Neutrum an.

Der Frosch, der auf der Wiese hüpft,
Die Maus, die in ihr Löchlein schlüpft,
Der Käfer, der im Teich ersoff,
Sind alle miteinander "Stoff".

Was kühn noch in die Lüfte strebt,
Was schon die Erde umgebebt,
Ob heil und ganz, ob kurz und klein -
In seinen Vers muss es hinein!

So zählt er seine Silben ab
Vergnügt bis an sein kühles Grab,
Und unter seinen letzten Band
Schreibt "finis" hin des Todes Hand.

Was ein gerechter Dichter ist,
Benutzet auch die letzte Frist,
Macht eine Grabschrift noch zuvor
Und legt sich auf sein Dichterohr.

Die Leute stehen trauervoll
Dann um sein Grab und schauervoll.
Ein Jeder denkt sich, was er will,
Doch meist: "Gottlob, nun ist er still!"

Es wächst dann in der Jahre lauf
Dort eine Zitterpappel auf;
Und ob der Wind schläft oder wacht:
Die Blätter flüstern Tag und Nacht!

Chavali 14.04.2014 22:24

Charles Baudelaire
 
Sehr schön, Dana :)

Lange haben wir kein Lieblingsgedicht mehr eingestellt.
Mir fiel neulich dieses in die Hände bzw. vor Augen:

Tod der Armen

Es ist der Tod, der Trost und Leben schenkt;
Er ist das Ziel, das einzig Hoffnung macht,
Ein Elixier, das uns berauschend tränkt,
Und Mut gibt, durchzuhalten bis zur Nacht,

Durch Sturm und Schnee ist er das schwache Licht,
Für uns am dunklen Horizont entzündet;
Ist jene Bleibe, die das Buch verspricht,
wo man zur Rast ein Mahl und Schlummer findet,

Ein Engel, dessen Finger lockend zeigen
Den Schlaf und Träume, die uns übersteigen;
Armen und Nackten er ein Bett bereitet;

Der Götter Ruhm, der Speicher, der nie leer,
Der Armen Beutel, Heimat von jeher,
Das Tor, das uns zu fremden Himmeln leitet!


Charles Baudelaire



*




Falderwald 15.04.2014 18:25



Sonett


Die lange Winternacht will nimmer enden,
Als käm’ sie nimmermehr, die Sonne, weilet;
Der Sturm mit Eulen um die Wette heulet;
Die Waffen klirren an den morschen Wänden.

Und off’ne Gräber ihre Geister senden:
Sie wollen, um mich her im Kreis vertheilet,
Die Seele schrecken, daß sie nimmer heilet; -
Doch will ich nicht auf sie die Blicke wenden.

Den Tag, den Tag, ich will ihn laut verkünden!
Nacht und Gespenster werden vor ihm fliehen:
Gemeldet ist er schon vom Morgensterne.

Bald wird es licht, auch in den tiefsten Gründen:
Die Welt wird Glanz und Farbe überziehen,
Ein tiefes Blau die unbegränzte Ferne.

Weimar 1808.

Arthur Schopenhauer, 1788-1860

Chavali 07.05.2014 16:54

Theodor Storm
 
Einer meiner Lieblingsdichter: Theodor Storm



Gedenkst du noch?

Gedenkst du noch, wenn in der Frühlingsnacht
Aus unserm Kammerfenster wir hernieder
Zum Garten schauten, wo geheimnisvoll
Im Dunkel dufteten Jasmin und Flieder?
Der Sternenhimmel über uns so weit,
Und du so jung; unmerklich geht die Zeit.

Wie still die Luft! Des Regenpfeifers Schrei
Scholl klar herüber von dem Meeresstrande;
Und über unsrer Bäume Wipfel sahn
Wir schweigend in die dämmerigen Lande.
Nun wird es wieder Frühling um uns her,
Nur eine Heimat haben wir nicht mehr.

Nun horch ich oft, schlaflos in tiefer Nacht,
Ob nicht der Wind zur Rückfahrt möge wehen.
Wer in der Heimat erst sein Haus gebaut,
Der sollte nicht mehr in die Fremde gehen!
Nach drüben ist sein Auge stets gewandt:
Doch eines blieb - wir gehen Hand in Hand.

Lailany 03.07.2014 06:32

Mechtildis unter der Buche (Ludwig Strauss)

Auszug:

Als sie seufzte, wurden Geister
Wach in Bäumen, letzten Blumen,
Schwebten auf und schwebten nieder,
Webten fein ein glänzend Leinen,
Nahmen ihr die schlichten Kleider,
Hüllten sie ins Sterbeleinen
Tauchten in die künftigen Tage,
Griffen in die künftigen Sommer,
Wählten Rosen, sie zu schmücken,
Weiße Rosen für die Stirne,
Rote Rosen für die Brust.
Als die Bilder in den Augen
Der Mechtildis sanft erloschen,
Füllte ihren Blick ein zarter,
Innrer Schimmer grünen Laubs.

Chavali 08.07.2014 19:19

Das Feuerschiff
 
Das Feuerschiff

(Ballade)


von Heidedichter Hermann Löns


Zitat:

Zitat von Wiki
Hermann Löns (* 29. August 1866 in Culm bei Bromberg in Westpreußen; † 26. September 1914
bei Loivre[1] in der Nähe von Reims, Frankreich)
war ein deutscher Journalist und Schriftsteller.
Schon zu Lebzeiten ist Löns, dessen Landschaftsideal die Heide war, als Jäger,
Natur- und Heimatdichter sowie als Naturforscher und -schützer zum Mythos geworden.



Von Ehrgeiz, Habsucht, Liebe, Haß, von Hoffnung und von Furcht ist leer
Die Brust, das Wrack liegt morsch und mürb verfaulend in dem Hafen;
Und was sie fünfzig Jahre hetzte, spornte, peitschte hin und her
Ist stumm, verloschen, ausgebrannt und endlich eingeschlafen.

Und ist das Herz auch kalt und tot; sie starren gierig in die Flut
Schon stundenlang; kein Fischlein will an ihren Angeln beißen;
Manch halbvergeßner Fluch erschallt voll Ungeduld und wilder Wut,
Das Meer ist geizig und es läßt sich heute nichts entreißen.

Und ist auch lange abgeräumt des Lebens reichgedeckter Tisch,
Und kalt das Herz, dem Freuden, Schmerzen, Angst und Hoffnung mangeln,
So bleibt als heiß ersehntes Ziel ein spannenlanger Fisch,
Nach dem sie stieren Auges täglich angeln, angeln, angeln.

Lailany 13.07.2014 06:11

Aus
"Hugdietrichs Brautfahrt" von Wilhelm Hertz.

Dieser Auszug fasziniert mich deshalb so sehr, weil er eindrucksvoll die Kraft der Bildersprache demonstriert.
Aus der schier überwältigenden Fülle der hier in 28 Kurzzeilen geschilderten Eindrücke und Einzelheiten ließe sich ein exquisites Gemälde schaffen. In solchen Momenten wünsche ich mir nichts sehnlicher, als malen zu können.

Sie trug ihn am Gestad entlang
Und glitt durch einen Felsengang.
Der mündete nach kurzer Zeit
In eine Grotte hoch und weit.
Still kreist die Fluth mit dichtem Schaum,
Und grüne Dämm'rung füllt den Raum;
Nur durch der Wölbung Ritzen bricht
In Streifen goldnes Tageslicht.
Doch durch die Pfeilerhallen,
Da geht ein seltsam Schallen,
Ein Klimpern und ein Klirren,
Ein Schnurren und ein Schwirren:
Es sitzt mit schilfdurchflocht'nem Haar
Am Webstuhl rings der Nixen Schar.
Die Stühle sind von schlankem Bau,
Korallenroth und veilchenblau,
Die Muschelschifflein hüpfen,
Die Perlenfäden schlüpfen,
Und von des Meersterns Spule rollt
Melodisch das geschmeid'ge Gold.
Sie weben Schleier und Gewand,
Zu fein der feinsten Menschenhand.
Sie weben Mäntel ohne Gleichen,
Unschätzbar in der Erde Reichen,
Mit lichten Wappenschildern
Und wundersamen Bildern
Aus uralt dunkeln Sagen
Von längst vergess'nen Tagen.

Chavali 13.07.2014 10:51

Liebe Kiwi :Kuss

das ist wirklich fantastisch.
Zu meiner Schande muss ich gestehen, diesen Dichter nicht zu kennen.
Aber jetzt doch, dank Wikipedia ;)

Diese bildgewaltige, aber doch geschmeidige und fast zärtliche Sprache gefält mir auch sehr!
Bei Gelegenheit werde ich mir das ganze Werk googeln!

Danke - wieder was gelernt :Blume:

Liebe Grüße ins sturmgeschüttelte oversea land :o
Chavi

Lailany 13.07.2014 15:22

Liebe Chavi,
ich kannte Wilhelm Hertz auch nicht. Hatte nicht mal den Namen vorher gehört.
Durch Ferdi bin ich auf ihn aufmerksam geworden.
Übrigens:
Hier im Faden darf ja auch diskutiert werden, oder? Wenn nicht, dann lösch bitte meinen Beitrag einfach, Chavi.

Du, das Werk 'Hugdietrichs Brautfahrt' ist supertoll! Aber halt episch. :)
Mir macht das nix aus, ich lieeeeeebe lange Werke.
Du findest das ganze Stück Online.
Ich mag Hertz wegen seines unterhaltsamen Schreibstils. :)

LG von Ev

Chavali 15.07.2014 17:06

Liebe Kiwi,
Zitat:

Hier im Faden darf ja auch diskutiert werden, oder?
ja, aber gerne doch können wir hier kommentieren und diskutieren, ja, das ist sogar erwünscht ;)

Für eine neues Lieblingsgedicht fiel mir Edgar Allan Poe ein, die viele düster-mysteriöse Gedichte
und Geschichten schrieb.
Bevor ich das zum Lesen einstelle, schick ich dir noch eine Tasse heißen Kiwi-Tee, weil du es kalt hast :o

Liebe Grüße, katzi https://encrypted-tbn3.gstatic.com/i...1yUPGPloJV5ChQ


Das Geisterschloß

Edgar Allan Poe


In der Täler grünstem Tale
Hat, von Engeln einst bewohnt,
Gleich des Himmels Kathedrale
Golddurchstrahlt ein Schloß gethront.
Rings auf Erden diesem Schlosse
Keines glich;
Herrschte dort mit reichem Trosse
Der Gedanke – königlich.

Gelber Fahnen Faltenschlagen
Floß wie Sonnengold im Wind -
Ach, es war in alten Tagen,
Die nun längst vergangen sind! –
Damals kosten süße Lüfte
Lind den Ort,
Zogen als beschwingte Düfte
Von des Schlosses Wällen fort.

Wandrer in dem Tale schauten
Durch der Fenster lichten Glanz
Genien, die zum Sang der Lauten
Schritten in gemeßnem Tanz
Um den Thron, auf dem erhaben,
Marmorschön,
Würdig solcher Weihegaben,
War des Reiches Herr zu sehn.

Perlen- und rubinenglutend
War des stolzen Schlosses Tor,
Ihm entschwebten flutend, flutend
Süße Echos, die im Chor,
Weithinklingend, froh besegen
– Süße Pflicht! –
Ihres Königs hehres Prangen
In der Weisheit Himmelslicht.

Doch Dämonen, schwarze Sorgen,
Stürzten roh des Königs Thron. –
Trauert, Freunde, denn kein Morgen
Wird ein Schloß wie dies umlohn!
Was da blühte, was da glühte
– Herrlichkeit! –
Eine welke Märchenblüte
Ist's aus längst begrabner Zeit.

Und durch glutenrote Fenster
Werden heute Wandrer sehn
Ungeheure Wahngespenster
Grauenhaft im Tanz sich drehn;
Aus dem Tor in wildem Wellen,
Wie ein Meer,
Lachend ekle Geister quellen –
Weh! sie lächeln niemals mehr!
















Cebrail 16.07.2014 21:44

He, dann darf ich auch einmal ;-).
Ich liebe Poes Gedichte und auch manche seiner Geschichten.

Besonders Annabel Lee.

Ich setze es mal im Original hier rein und dahinter die Übersetzung,
welche ich aber nicht wirklich gelungen finde.


Anabel Lee (E.A. Poe)

It was many and many a year ago,
In a kingdom by the sea,
That a maiden there lived whom you may know
By the name of Annabel Lee;
And this maiden she lived with no other thought
Than to love and be loved by me.

I was a child and she was a child,
In this kingdom by the sea:
But we loved with a love that was more than love -
I and my Annabel Lee;
With a love that the winged seraphs of heaven
Coveted her and me.

And this was the reason that, long ago,
In this kingdom by the sea,
A wind blew out of a cloud, chilling
My beautiful Annabel Lee;
So that her high-born kinsmen came
And bore her away from me,
To shut her up in a sepulchre
In this kingdom by the sea.

The angels, not half so happy in heaven,
Went envying her and me -
Yes! that was the reason (as all men know,
In this kingdom by the sea)
That the wind came out of the cloud one night,
Chilling and killing my Annabel Lee.

But our love it was stronger by far than the love
Of those who were older than we -
Of many far wiser than we -
And neither the angels in heaven above,
Nor the demons down under the sea,
Can ever dissever my soul from the soul
Of the beautiful Annabel Lee;

For the moon never beams without bringing me dreams
Of the beautiful Annabel Lee;
And the stars never rise but I feel the bright eyes
Of the beautiful Annabel Lee;
And so, all the night-tide, I lie down by the side
Of my darling -my darling -my life and my bride,
In the sepulchre there by the sea -
In her tomb by the sounding sea.



Übersetzung

Es war vor vielen, vielen Jahren,
In einem Königreich nahe dem Meer,
Dort lebte ein Mädelein, von dem du vielleicht weißt
Mit Namen Annabel Lee.
Und dieses Mädelein, sie lebte ohne and'ren Gedanken,
Als mich zu lieben und von mir geliebt zu sein.

Ich war ein Kind und sie war ein Kind,
In diesem Königreich nahe dem Meer;
Und wir liebten eine Liebe, gar mehr als eine Liebe
Ich und meine Annabel Lee;
Mit einer Liebe, die die Engel darob
Begehrten, ihre und meine.

Und dies war der Grund, lange bevor,
In diesem Königreich nahe dem Meer,
Ein Sturm blies aus den Wolken, stahl
Meine schöne Annabel Lee;
Sodass ihr hochgeborener Verwandter kam
Und nahm sie fort von mir,
Um sie einzusperren in ein Grab
In diesem Königreich nahe dem Meer.

Die Engel, nicht halb so glücklich im Himmel,
Beneideten sie und mich-
Ja!- Dies war der Grund, wie die Männer wissen,
In diesem Königreich nahe dem Meer.
Als der Wind aus den Wolken sprang bei Nacht,
Kühlte und mordete meine Annabel Lee.

Doch uns're Liebe war stärker bei weitem als die Liebe
Von den Älteren,
Von weit Weiseren als wir-
Und weder die Engel oben im Himmel,
Noch die Dämonen tief unten im Meer,
Können jemals trennen meine Seele und die
Der schönen Annabel Lee.

Der Mond niemals strahlt, ohne mir Träume zu bringen
Von der schönen Annabel Lee.
Und die Sterne niemals steigen, doch ich fühle ihre Augen
Der schönen Annabel Lee.
Und so, jede flutende Nacht, liege ich an der Seite
Meines Liebling- mein Liebling- mein Leben und meine Braut,
Im Grab dort nah dem Meer,
In ihrer Grabesstätte nahe dem tosenden Meer.


Gruß
C.

Lailany 17.07.2014 02:14

Hallo Cebrail,
Poes Werke sind wunderbar. Seinen Raben jedoch konnte er mM nach nie toppen. :)
Die 7 Jahre, die er angeblich daran gearbeitet hat, machen sich bezahlt für die Ewigkeit. :)

Dass die Übersetzung dieses Werkes nicht gelungen ist, hast Du sehr milde ausgedrückt.
Sie ist schlicht und einfach schauderhaft.
Darf man erfahren, wer Annabel Lee so geschändet hat?:o

LG von Lai :)


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