Gedichte-Eiland

Gedichte-Eiland (http://www.gedichte-eiland.de/index.php)
-   Finstere Nacht (http://www.gedichte-eiland.de/forumdisplay.php?f=18)
-   -   Eine deutsche Weihnacht (http://www.gedichte-eiland.de/showthread.php?t=4814)

Seeräuber-Jenny 26.12.2009 00:53

Eine deutsche Weihnacht
 
Die Glocken klingen laut zum Weihnachtsfeste,
ein Stern blinkt hell wie eine Leuchtreklame.
Ein Fettfleck ziert das Abendkleid der Dame,
ein Rotweinklecks des Hausherrn weiße Weste.

Am Christbaum flackern letzte Kerzenreste.
Im Kripplein liegt ein Kind. Wie war sein Name?
Es ist längst tot, zu schwach war Jesses Same,
und jung zu sterben war vielleicht das Beste.

Im Garten kaut der Sohn auf der Zigarre,
stiert in die Nacht - die Nacht, in der sie wachten,
er und sein Freund, stets griffbereit die Knarre,

gemeinsam über Herrenwitze lachten,
jetzt liegt er unterm Schnee in Leichenstarre.
Und bald geht es erneut hinaus zum Schlachten.

Leier 26.12.2009 10:57

Liebe Seeräuber-Jenny,


das ist ein grausig gutes Weinachtssonett, bei dessen Lektüre es einen kalt überläuft.
In der ersten Strophe sehe ich die Kriegsgewinnler, in der zweiten eine der durch Entbehrungen gezeichnete Familie.
Die beiden Terzette befassen sich mit dem Weihnachts-Front-Urlaub?
Aufrüttelnd, auch wenn ich falsch interpretiere.

Lieben Gruß
von
cyparis

Seeräuber-Jenny 26.12.2009 13:56

Ahoi Leier,

deine Interpretation ist fast richtig.

Die reichen Eltern des jungen Mannes feiern Weihnachten, als ob nichts wäre. Das Kind mit der Friedensbotschaft liegt vergessen in der Krippe. Der junge Mann, auf Fronturlaub, muss bald wieder los ins Kriegsgetümmel, und man lässt ihn ziehen, denn er hat ja seine Pflicht fürs Vaterland zu erfüllen. Die Einen sterben jung, die Anderen schwimmen immer oben, wie Fettaugen auf der Brühe.

Ich dachte an den 1. Weltkrieg, aber ich glaube, das Gedicht über eine deutsche Weihnacht ist zeitlos, denn auch heute sterben wieder junge Männer in Afghanistan.

Lieben Gruß
Seeräuber-Jenny

Leier 26.12.2009 14:00

Liebe Seeräuber-Jenny -

und ich dachte an den 2. Weltkrieg - aber wo sind da schon große Unterschiede.
Wenn das Kind in der Krippe gemeint ist - da mach ich mir aber schwere Gedanken!

Friedliebenden Gruß
von
cyparis

Seeräuber-Jenny 26.12.2009 14:03

Ahoi Leier,

die Friedensbotschaft des Kindes ist zweitausend Jahre alt. Fand sie Gehör? Nein!

Lieben Gruß
Seeräuber-Jenny

Abraxas 27.12.2009 03:23

Hallo Seeräuber-Jenny,

eine fabelhafte Idee hattest du da! :)

Zitat:

Die Glocken klingen laut zum Weihnachtsfeste,
ein Stern blinkt hell wie eine Leuchtreklame.
Ein Fettfleck ziert das Abendkleid der Dame,
ein Rotweinklecks des Hausherrn weiße Weste. -- gut formuliert (Satzbau).

Am Christbaum glimmen letzte Kerzenreste,
darunter liegt ein Kind. Wie war sein Name?
Es ist längst tot, zu schwach war Vaters Same
und jung zu sterben sicherlich das Beste.

Im Garten raucht der Sohn eine Zigarre, -- grenzwertig: "eine" betont man üblicher Weise "eine" (Xx), hier verlangt das Metrum aber, es "eine" (xX) zu betonen; das ist hier aber noch okay, finde ich.
stiert in die Nacht und denkt dran, wie sie wachten, -- normaler Weise würde man das "stiert" betonen; hier verlangt das Metrum, das nicht zu tun. Ist auch etwas grenzwertig, aber auch noch im Bereich des tolerablen, wie ich finde.
er und sein Freund, stets griffbereit die Knarre, -- hier ist das "er" im natürlichen Sprachrhythmus zu stark und der Jambus betont den Vers eher seltsam.

gemeinsam über Herrenwitze lachten.
Jetzt liegt er unterm Gras in Leichenstarre.
Und bald geht es erneut hinaus zum Schlachten.
Meine Meinung: ein bischen bügeln und das Teil ist glatt wie Seide; ist ja im Grunde genommen nur eine kleine Falte. ;)
An sich finde ich es wie gesagt klasse. :)

LG,
Abraxas

Seeräuber-Jenny 28.12.2009 21:32

Ahoi Abraxas,

danke für deine nützlichen Tipps. Habe noch ein bisschen am Text gebügelt, ich glaube, jetzt sind die letzten Fältchen raus.

Lieben Gruß
Seeräuber-Jenny

Abraxas 29.12.2009 01:08

Hallo,

jup, eigentlich einwandfrei.

Zitat:

stiert in die Nacht und denkt an die durchwachten
Dieser Vers ist nun entweder total elegant, oder in sich unpassend. :D
Einerseits richtig pfiffig, den Leser durch die erstmalige benennung der Nacht, danach beim Lesen von "durchwachten" einen Rückschluss auf "Nacht" -> Nächte machen zu lassen. Andererseits wäre es grammatisch exakter, wenn zuvor statt "Nacht" ohnehin "Nächte" stünde; da man aber nicht in die Nächte stieren kann, hat sich das ohnehin erledigt. Das kann man aber auch einfach unter künstlerischer Freiheit verbuchen und gut. :D

Gute Arbeit!


LG,
Abraxas

Seeräuber-Jenny 29.12.2009 14:06

Ahoi Abraxas,

aye, künstlerische Freiheit, aber eben noch nicht vollkommen. Nun, mit dem ersten Terzett bin ich noch nicht ganz zufrieden. Ich grüble, aber bisher ist mir nichts Besseres eingefallen. Über Anregungen würde ich mich freuen.

Ich möchte dir recht herzlich danken, dass du mein Sonett mit Rat und Tat begleitest.

Lieben Gruß
Seeräuber-Jenny

Abraxas 29.12.2009 14:42

Hallo Seeräuber-Jenny,

gerne doch.

Das erste Terzett?

Zitat:

Im Garten kaut der Sohn auf der Zigarre,
stiert in die Nacht und denkt an die durchwachten
mit seinem Freund, stets griffbereit die Knarre,
Vielleicht gefällt dir:

Im Garten kaut der Sohn auf der Zigarre,
bedenkt der Nächte Schatten, der durchwachten,
mit seinem Freund, stets griffbereit die Knarre,


Da hätteste sogar noch ne Metapher drin für möglicherweise erlebte, üble Dinge. :)


LG,
Abraxas

Seeräuber-Jenny 29.12.2009 15:50

Ahoi Abraxas,

Zitat:

bedenkt der Nächte Schatten, der durchwachten,
Das geht leider nicht, weil "durchwacht" sich meines Erachtens auf die Schatten beziehen würde. Aber ich fürchte, von "stiert in die Nacht" werde ich mich verabschieden müssen. Habe nun die zweite Zeile geändert.

Zitat:

Im Garten kaut der Sohn auf der Zigarre
gedenkt der vielen Nächte, der durchwachten,
mit seinem Freund, stets griffbereit die Knarre,
Besser so?

Lieben Gruß
Seeräuber-Jenny

Abraxas 29.12.2009 16:41

Hallo Seeräuber-Jenny,

Zitat:

Das geht leider nicht, weil "durchwacht" sich meines Erachtens auf die Schatten beziehen würde.
Ja, das war auch so gewollt. "Schatten" stünde hier als Metapher für die in den besagten Nächten durchlebten (üblen) Erlebnisse der beiden. Das würde also durchaus ebenfalls gut zum Kontext passen.

Deine Idee lässt diese Metapher weg und stellt den (ursprünglich gewollten?) ausschließlichen Bezug zu den "Nächten" her.

Beide Verse sind in meinen Augen gut, passend und daher natürlich auch ohne weitere Bedenken einsetzbar.

Ich bin allerdings ein Freund von Text, der sich einem nicht beim ersten Blick sofort offenbart und gebe einer guten Metapher in einem Gedicht mehr Priorität, als direkten Aussagen. Das finde ich lyrischer bzw. lyrisch eleganter. Und als Leser kitzelt mich sowas auch mehr, als "Klartext" es tut.

Dieses Werk ist aber dein Baby und ich bin hier "nur" Kommentator. Also nimm den Vers, der dir am besten gefällt. Hübsch ist das Baby so oder so! :)


LG,
Abraxas

Seeräuber-Jenny 29.12.2009 23:21

Edit:

Ahoi Abraxas,

zwar gefallen mir die "Schatten" der Vergangenheit als Metapher sehr gut, doch sprachlich wäre es nicht korrekt. "Durchwacht" würde sich ja auf die Schatten beziehen, und es gibt keine durchwachten Schatten. Ich versuche mich ja in meinen Gedichten möglichst wenig rätselhaft auszudrücken.

Allerdings hast du recht, dass gerade im klassischen Sonett möglichst starke Metaphern verwendet werden sollten. Der "Klartext" wirkte allzu simpel.

Nun habe ich eine Lösung gefunden, die weniger erzwungen wirkt und auch auf die Schatten hindeutet.

Zitat:

Im Garten kaut der Sohn auf der Zigarre,
stiert in die Nacht - die Nacht, in der sie wachten,
er und sein Freund, stets griffbereit die Knarre,

gemeinsam über Herrenwitze lachten,
jetzt liegt er unterm Gras in Leichenstarre.
Und bald geht es erneut hinaus zum Schlachten.
Lieben Gruß
Seeräuber-Jenny

Abraxas 30.12.2009 01:12

Hallo Seeräuber-Jenny,

Zitat:

zwar gefallen mir die "Schatten" der Vergangenheit als Metapher sehr gut, doch sprachlich wäre es nicht korrekt. "Durchwacht" würde sich ja auf die Schatten beziehen, und es gibt keine durchwachten Schatten.
Genau das ist ja der Kniff daran. Wenn man eine Metapher deutet, bezieht man sich auf das, was hinter der Metapher steht; sie ist lediglich Symbol.
Natürlich gibt es de Facto keine durchwachten Schatten. Hier wären ja auch nicht wortwörtlich Schatten gemeint, sondern das, wofür die Schatten stehen, sonst wär es keine Metapher, sondern einfach nur irgendein Wort. Verstehst du das? Und deshalb wäre es lyrisch definitiv "korrekt" - als Metapher eben.

Die Verse, wie sie in deinem letzten Post stehen, empfinde ich übrigens als Rückschritt. Statt sie so zu wählen, würde ich an deiner Stelle eine der beiden vorherigen Ideen bevorzugen, also entweder:

Zitat:

Zitat von Abraxas
(ge-)bedenkt der Nächte Schatten, der durchwachten,

oder:

Zitat:

Zitat von Seeräuber-Jenny
gedenkt der vielen Nächte, der durchwachten,


"stiert in die Nacht - die Nacht, in der sie wachten," ist zwar auch ganz gut, aber birgt wieder das kleine Betonungsproblemchen bei "stiert in", natürlicher Sprachrhythmus und so - deswegen Rückschritt.


LG,
Abraxas

Seeräuber-Jenny 30.12.2009 11:09

Ahoi Abraxas,

ich werde das Gedicht nun vorläufig lassen wie es ist. "Stiert" mag nicht metrisch sein, doch passt es zu der unheimlichen Szenerie dieser Nacht, die allgegenwärtig ist.

Das "Gras" in der letzten Strophe hatte mir auch noch nicht so gut gefallen. Heute fällt draußen Schnee, und so kam ich auf die Idee, "Schnee" draus zu machen. Der passt besser zum Tod und zur Leichenstarre.

Nochmals Danke.

Lieben Gruß
Seeräuber-Jenny

Abraxas 30.12.2009 14:40

Hallo Seeräuber-Jenny,

wie du magst, gern geschehn.

Eins sei aber noch begradigt, wenn du gestattest:

Zitat:

"Stiert" mag nicht metrisch sein
Jedes Wort ist metrisch, immer - jedes Wort hat stets seinen eigenen Sprachrhythmus, der sich im Satzgefüge zwar ggf. ändert, aber nie verloren geht.


N'guten Rutsch ins Neue!
-Abraxas

Seeräuber-Jenny 09.01.2010 01:13

Ahoi Abraxas,

von dem Wort "stiert" vermochte ich mich nach wie vor nicht zu trennen. Doch habe ich an dem Gedicht einige Änderungen vorgenommen, vor allem in S2, weil diese missverstanden werden konnte.

Und natürlich hast du recht, dass jedes Wort metrisch ist. Über die Betonung lässt sich manchmal streiten, wie schon oft in Diskussionen deutlich wurde, und wenn das Gedicht mündlich vorgetragen wird, hat man darüber hinaus auch noch mal die Möglichkeit, Betonungen zu variieren.

Danke für diesen Hinweis. Die sture Ixerei mag ein Hilfsmittel sein, kann jedoch manchmal in die Irre führen, wenn die inhaltliche Aussage darunter leidet.

Lieben Gruß
Seeräuber-Jenny

Abraxas 10.01.2010 14:48

Hallo Seeräuber-Jenny,

Zitat:

wenn die inhaltliche Aussage darunter leidet
impliziert, scheint mir, dass die formale Qualität eines Gedichts sekundärer Priorität sei? Dem kann ich nicht beipflichten. Formale und inhaltliche Qualität sind für gute Verslyrik gleichermaßen wichtig; ein guter Dichter trifft in Abwägung beider Komponenten die "goldene Mitte". Ein Gedicht, welches eine dieser Komponenten bewusst für die jeweils andere zurückstellt, ist nicht gut, sondern bestenfalls mittelmäßig. Daher sollte man sich stets bemühen, beide Aspekte so gut wie möglich auszuarbeiten. :)

LG,
Abraxas

Feingeist 10.01.2010 16:21

Liebe Jenny, hoi Abraxas,

Zitat:

Zitat von Abraxas
Daher sollte man sich stets bemühen, beide Aspekte so gut wie möglich auszuarbeiten.

Genau deswegen finde ich das stiert gelungen. Es gibt mMn kein besseres Wort, um diese Art des intensiven Blickens auszudrücken. Deswegen gehört es für mich verpflichtend in dieses Sonett;

welches im Übrigen sehr gelungen ist, liebe Jenny:)

Beste Grüße

Feingeist

Seeräuber-Jenny 10.01.2010 18:55

Ahoi Abraxas,

Zitat:

Formale und inhaltliche Qualität sind für gute Verslyrik gleichermaßen wichtig; ein guter Dichter trifft in Abwägung beider Komponenten die "goldene Mitte". Ein Gedicht, welches eine dieser Komponenten bewusst für die jeweils andere zurückstellt, ist nicht gut, sondern bestenfalls mittelmäßig. Daher sollte man sich stets bemühen, beide Aspekte so gut wie möglich auszuarbeiten.
Darin sind wir im Prinzip einer Meinung. Nur will der Spagat nicht immer gelingen, so dass eines überwiegen wird. Im Zweifel würde ich mich zugunsten des Inhalts und gegen die Form entscheiden, niemals umgekehrt.

Lieben Gruß
Seeräuber-Jenny

:)

Ahoi Feingeist,

danke fürs Lob!

Aye, ich habe wirklich lange gegrübelt, ob sich für das in unserem Autorenkreis umstrittene "stiert" ("Unwort") eine Alternative finden ließe. Es ist mir nicht gelungen, denn es gibt nach meiner Intention keinen passenderen Ausdruck. Abraxas fand das Wort an dieser Stelle zwar grenzwertig, ließ es aber auch durchgehen, weil er es für treffend hielt.

Lieben Gruß
Seeräuber-Jenny

Abraxas 10.01.2010 20:04

Hallo Seeräuber-Jenny,

Zitat:

Im Zweifel würde ich mich zugunsten des Inhalts und gegen die Form entscheiden, niemals umgekehrt.
Schade, denn das macht den Unterschied zwischen Publikation, Popularität und Papierkorb aus. Außerdem sollte es stets einen Weg geben, um gewünschten Inhalt in vorgegebene Maße zu packen, sodass man als Autor immer noch zufrieden ist. Manchmal will einem dieser einfach nicht einfallen, das beweist aber nicht, dass es ihn in unserer fast unvorstellbar vielfältigen Sprache nicht gibt.

LG,
Abraxas

Seeräuber-Jenny 10.01.2010 20:25

Ahoi Abraxas,

Zitat:

Außerdem sollte es stets einen Weg geben, um gewünschten Inhalt in vorgegebene Maße zu packen, sodass man als Autor immer noch zufrieden ist. Manchmal will einem dieser einfach nicht einfallen, das beweist aber nicht, dass es ihn in unserer fast unvorstellbar vielfältigen Sprache nicht gibt.
Stimmt. Aber manchmal hat man einfach ein Brett vorm Kopf. Deswegen betrachte ich jedes Gedicht, das ich ins Forum rein stelle, als Arbeitsfassung. Kann manchmal Tage oder sogar Wochen dauern, bis man eine zündende Idee hat. Aber am Ende hat sich die Mühe gelohnt.

Bei manchen Reimen ist es schwierig, wie bei diesem Gedicht die Endreime auf -arre, denn hier sind die Möglichkeiten sehr begrenzt. OK, der Autor hat letztendlich noch die Möglichkeit, die entsprechenden Strophen komplett umzuschreiben, indem er andere Endreime sucht. Aber wer macht das schon gern?

Herrje, das Bearbeiten eines Gedichtes kann ungleich aufwändiger sein als das Original zu verfassen!

Lieben Gruß
Seeräuber-Jenny


Alle Zeitangaben in WEZ +2. Es ist jetzt 18:34 Uhr.

Powered by vBulletin® (Deutsch)
Copyright ©2000 - 2024, Jelsoft Enterprises Ltd.

http://www.gedichte-eiland.de

Dana und Falderwald

Impressum: Ralf Dewald, Möllner Str. 14, 23909 Ratzeburg