Gedichte-Eiland

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Erich Kykal 23.12.2015 20:04

Unerhörte Mahnung
 
Bedenkt, ihr Denker, Träumer, Utopisten:
Das Volk ist dumm und tötet ohne Reue,
es hasst das Unbekannte und das Neue,
darin latent Veränderungen nisten!

Die tumbe Masse predigt gern Parolen,
die simpel sind und keinen Geist verlangen,
so lang sie ihrer Herzen hohles Bangen
beschwichtigen und ihr Gemüt erholen.

Bedenkt, ihr Weltverbesserer und Lehrer:
Kein Grund mag edler, würdiger und hehrer
als eurer sein, sich in die Welt zu tragen -

der Menschen Häme wird euch niederringen,
wird eurer spotten, euch zum Schweigen bringen,
wenn ihr es wagt, die Wahrheit laut zu sagen!

Thomas 24.12.2015 05:46

Lieber Erich,

das"auch" in der Schlusszeile stört mich ein wenig. Mir ist "Euch, welche Wahrheit uns zu sagen wagen." eingefallen, oder ähnlich.

Liebe Grüße Thomas

Erich Kykal 24.12.2015 09:47

Hi, Thomas!

Gemeint ist, dass jene, die die Wahrheit nicht nur zu erkennen und zu denken, sondern AUCH öffentlich zu sagen wagen, schon immer den Zorn der Rücksichts- und Gehirnlosen auf sich gezogen haben.
Früher hat man sie auf Scheiterhaufen verbrannt oder sonstwie hingerichtet, heute werden sie unter Shitstorms begraben oder sonstwie lächerlich oder unmöglich gemacht. Und in Diktaturen und ähnlichen Systemen natürlich immer noch gefoltert, ermordet - oder einer Gehirnwäsche unterzogen!

Daher auch das doppeldeutige Wortspiel des Titels: Bezogen sowohl auf das, was die Idealisten tun - zu mahnen, was manche unerhört finden --- als auch auf die Botschaft des Sonetts an nämliche Idealisten - dass sie nämlich trotz solcher Ermahnungen, es zu unterlassen, ihre Botschaft in die Welt tragen und zumeist an der Borniertheit und Feigheit ihrer Mitmenschen scheitern, die Mahnung an sie also unerhört bleibt.

Dein Vorschlag ist leider metrisch unkorrekt (beginnt betont und mit einem Hebungsprall).

LG, eKy

Agneta 24.12.2015 10:03

ich gebe dir recht, lieber Erich, die tumbe Masse ist eine große Gefahr.
Was mich etwas stört, ist, dass du es auf das Volk im allgemeinen ausweitest. Es gibt im Volk ja eben auch die nicht Tumben, die nicht zur Masse gehören wollen.
Und! es gibt die Anführer, die die führungslose Masse in die falsche Richtung drängt. Sie sind die Auslöser.
Demagogen, religiös oder politisch fanatisch und machtbesessen.
Insofern störe ich mich am Begriff "Volk".
Ich gebe dir recht, dass unbequeme Wahrheitssager nicht zu den Beliebten gehören. Ob die Häme sie niederringt, das liegt allerdings an jedem einzelnen.
Und, was man vielleicht auch nicht vergessen sollte, die Wahrheit ist immer subjektiv...
Schau mal :
Bedenkt, ihr Denker, Träumer, Utopisten:
Das Volk ist dumm und tötet ohne Reue,
es hasst das Unbekannte und das Neue,
darin latent Veränderungen nisten! X

das "darin" ist als Konjunktion im Deutschen nicht so gebräuchlich, eher "worin" oder ein Relativsatz. Mag aber sein, dass das im Österreichischen anders ist.:)

LG und dir ein schönes Fest wünscht Agneta:Blume:

Erich Kykal 24.12.2015 10:40

Hi, Agneta!

Im lyrischen Kontext ist ein "darin" ebenso gebräuchlich wie ein "worin", zumindest bei Gebrauch älterer Sprachhabung.

Dass ich in S1Z2 das "Volk" pauschal aburteile, liegt wohl daran, dass ich selbst mich nie wirklich als Teil einer Gemeinschaft fühlte, immer Aussenstehender war, der bestenfalls so tat, als würde er dazugehören!
So gesehen hieß es immer: Ich - und die "anderen". Das mag meine Sicht eingeengt haben. Natürlich weiß ich, dass nie das GANZE Volk ein Mob ist oder grölend und skandierend durch die Strassen zieht und Flüchtlingsheime anzündet oder Synagogen! Aber die "schweigende Mehrheit" ist auch schuldig, wenn sie solches zulässt und nicht deutlich genug unterbindet.

In diesem Zusammenhang sei aus den "Moabiter Sonetten" von Albrecht Haushofer zitiert, der 1945 kurz vor der Eroberung Berlins durch die Soviets von SS-Wachen in der Kerkerhaft erschossen wurde. Er hatte als Berater der Dienststelle Ribbentrop begonnen und sich später doch dem Widerstand angeschlossen.
Die 80 Moabiter Sonette hatte er die Monate davor in der Zelle geschrieben!

SCHULD

Ich trage leicht an dem, was das Gericht
mir Schuld benennen will: an Plan und Sorgen.
Verbrecher wär ich, hätt ich für das Morgen
des Volkes nicht geplant aus eigner Pflicht.

Doch schuldig bin ich. Anders als ihr denkt!
Ich musste früher meine Pflicht erkennen,
ich musste schärfer Unheil Unheil nennen,
mein Urteil hab ich viel zu lang gelenkt ...

Ich klage mich in meinem Herzen an:
Ich habe mein Gewissen lang betrogen,
ich hab mich selbst und andere belogen -

ich kannte früh des Jammers ganze Bahn.
Ich hab gewarnt - nicht hart genug und klar!
Und heute weiß ich, was ich schuldig war.


LG, eKy

Thomas 24.12.2015 15:14

Lieber Erich,

ich vergaß, Tonbeugungen magst du absolut nicht.

Das "auch" verstehe ich ohne Erklärung so nicht. Wie wäre es z.B. mit:
"wenn ihr die Wahrheit kennt und wagt zu sagen!"

Liebe Grüße
Thomas

Erich Kykal 24.12.2015 16:02

Hi, Thomas!

Mit SO einer Inversion?! Ernsthaft?:rolleyes:

Ach, bitte quäle dich nicht so mit diesem einen Wort. Hast du meine Erklärung nicht gelesen?
Ich verspreche, ich werde mir diese Zeile nochmal überlegen ...

LG, eKy

Thomas 25.12.2015 10:53

Lieber Erich,

vielleicht geht ja etwas mit "sagen wagen". Lass mich wissen, wenn dir etwas eingefallen ist, damit ich nichts übersehe und dich loben kann.

Liebe Grüße Thomas

charis 25.12.2015 16:35

Lieber Eky,

Wiederum: Ich kann mir gut vorstellen, was dich bewegt, das kann ich gut verstehen. Ich finde aber, es wäre auch hier etwas mehr "Wirklichkeit" angesagt - nur mein Gefühl -, denn ich traue auch den "Weltverbesserern und Lehrern" nicht wirklich. Deshalb meine etwas zynischere Lesart, der Terzette:

Bedenkt, ihr Weltverbesserer und Lehrer:
Kein Grund mag edler, würdiger und hehrer
sein, eure Wahrheit aller Welt zu sagen -

der Menschen Häme wird euch niederringen,
wird eurer spotten, euch zum Schweigen bringen:
Ihr sollt die Dornenkronen stolz ertragen!

Lieben Gruß
charis

Erich Kykal 25.12.2015 18:03

Hi, Thomas!

Das kann dauern - ich habe nämlich kein Problem mit der Formulierung der letzten Zeile.;)


Hi, charis!

Deine Einwände sind berechtigt, und die Ambivalenz der gewählten Begriffe ist mir durchaus klar. Ich gehe allerdings davon aus, dass die Leser aus dem restlichen Inhalt des Gedichtes darauf zu schließen vermögen, auf welche Art Träumer und Denker hier angespielt wird: Natürlich jene, die nach allen sozialen Maßgaben "gut" sind und Rücksicht nehmen.

Danke auch für deine Abwandlung der Terzette, aber das hat mir zuviel Pathos und Anspielung auf Religiöses (Dornenkrone), zudem beginnt die letzte Zeile des ersten Terzetts bei dir bei natürlicher Betonung mit einem Senkungsprall.

LG, eKy


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