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Walther 26.03.2015 17:21

Gewissenlose
 
Gewissenlose


Herr Becher kam vom guten Wege ab:
Er schrieb nicht, was er sah, woran er glaubte,
Als ihm das Staatsamt sein Gewissen raubte.
Er scheiterte in Gänze, aber knapp.

Als man die Klitterung einmal entstaubte,
Da brach das Versmaß fast den dürren Stab.
Er liegt in einem kühlen Hauptstadtgrab:
Ich sah ihm zu, als sich ein Baum entlaubte.

Johannes, der viel Schierlingsbecher mischte,
Beschwor die Größe einer Mordsfigur,
Die meuchelnd durch ein langes Dunkel zischte:

Der Stählerne war nichts als Machtgier pur.
Als Becher sich in Urach einst erfrischte,
Da schrieb er noch Sonette von Statur.

Erich Kykal 01.08.2019 10:45

Hi Walther!

Hab mich mal über den Herrn Becher schlau gemacht, damit ich weiß, worum es sich bei deinem "sonderpreisgekrönten" Sonett dreht.
Sein lyrisches Werk kenne ich nicht, aber politische Idealisten sind für mich romantische Realitätsverweigerer - bestenfalls gefährlich!

Das Sonett ist gut geschrieben, einzig das "zischen" in der Bedeutung einer raschen Bewegung erscheint mir arg gemeinsprachlich und passt für mich nicht zur sprachlich-lyrischen Wertigkeit des Textes.
Die Sätze sind etwas kurz für meinen lyrischen Geschmack, was den Text eher knackig wirken lässt denn sonetthaft fließend.

Das Reimschema der Quartette ist gewendet, die Kadenzen im ganzen Werk wechseln im Regelmaß.

Was ich nicht verstanden habe: "Ich sah im zu, als sich ein Baum entlaubte." - Was will das Bild besagen? Sah das LyrIch dem Herrn Becher zu, wenn ja, wobei? Oder sah es der Beerdigung zu, weil ja vom Grab die Rede war? Hier wäre das "ihm" verwirrend, denn als Person war es da ja quasi nicht mehr anwesend.

Insgesamt gelungen und gern gelesen (wenn auch spät - muss mir damals entgangen sein ... :o)! :)
Wundert mich, dass das damals auch niemand sonst kommentiert hat, aber in diesem Forum hier gibt es ja immer wieder mal traurig inaktive Phasen (wir sind ja gerade wieder in einer - in meinem Archiv zB. liegen derzeit 17 unkommentierte Werke herum ...), und vielleicht war das damals auch eine.

LG, eKy

Walther 25.08.2019 12:00

lb eKy,

dieses sonett hat bei Uracher Lyrikpreis eine Ehrung erfahren. man muß als poet sich dessen bewußt sein, daß man den leser*innen zwar etwas abverlangen darf, aber durch sich dadurch nicht das recht erwirbt, beachtung zu finden. :)

warum sich der baum entlaubte? es herbstete. und das bild der doppelte vergänglich- und vergeblichkeit war gedichtbedingend.

lg W.

Erich Kykal 25.08.2019 13:20

HI Walther!

Verzeih, wenn ich da nochmal nachhake:

Du hast also im Herbst das Grab dieses Herrn Becher besucht? Oder die Beerdigung fand im Herbst statt?

Die Phrase "Ich sah ihm zu" suggeriert jedenfalls, dass das LyrIch einem LEBENDIGEN bei etwas zusah (bei einem inaktiven Toten hätte das LyrIch ja nur den Sargträgern und Totengräbern zugesehen), ansonsten müsste es bei ersterer Deutung heißen:

Ich besuchte ihn (oder: sein Grab), ...",

bzw. bei letzterer Deutung:

"ich sah zu, wie man ihn begrub ..."

Beides passt so natürlich nicht ins Metrum, aber rein sprachlich wäre das so verständlich.

Deine Wortwahl im ersten Teil besagter Zeile fügt sich für mich einfach semantisch nicht ins Bild, preisgekrönt oder nicht. (Ich will deine Leistung nicht herabwürdigen, nur verstehen ...)


LG, eKy

Walther 26.08.2019 15:40

Lb eKy,

es ist für ein gedicht unwichtig, in welcher jahreszeit sich ein baum entlaubt. es ist die metapher und die stimmung, die das bild erzeugt.

es geht nicht um preiswürdig oder nicht. das hätte ich besser gelassen mit diesem hinweis, wie ich jetzt schuldvoll eingestehe. allerdings gibt es hier keinen fehler, egal wie sehr du nachhakst. und es gibt auch nicht mehr erläuterung, weil sie gar nicht nötig ist.

lg W.


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