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Walther 08.05.2011 19:48

Stille erwandert
 
Stille erwandert


Es war ein Weg, es war ein Steg, die Brücke,
Die einen weiten Bogen spannte, hing
An Seilen. Stille. Da! Ein Schmetterling
Entfaltet seine Flügel: Ich zerpflücke

Mein Schicksal, das ich in die Wälder sing,
Die an den Hängen lehnen. Ich ersticke
An Tränen, die ich meinen Träumen schicke,
Als ich den letzten, dunklen Berg bezwing.

Hier stehe ich, wo viele vor mir standen,
Und sehe Wipfel an die Gipfel branden:
Sie tragen ihre Höhe als Tonsur.

Die Hoffnung kam mir mit der Zeit abhanden,
Wie alle Jahre in der Hast verschwanden:
Was bleibt von mir zurück? Wer bin ich nur?

Stimme der Zeit 17.05.2011 16:51

Hallo, Walther:),

ich muss zugeben, dieses Mal habe ich "Schwierigkeiten" mit deinem Gedicht. :o

Es beginnt mit dem Titel: "Stille erwandert". Die Conclusio deines Gedichts lässt das LyrIch voller Fragen "zurück". Nach der "Reise in die Innenwelt" hinterfragt es sich selbst und sein Leben. "Stille" kann ich damit nicht wirklich in einen stabilen Bezugsrahmen setzen.

Für eine Erklärung wäre ich dankbar, denn für mich würde (inhaltsbezogen) "Stille" entweder für das Erreichen eines Zustands "innerer Ruhe" oder für ein "Verstummen" aus (beispielsweise) der "inneren Resignation" heraus stehen ...

Mein zweites Problem liegt im "zeitlichen Rahmen". Hier wechseln (für mich) Vergangenheit und Gegenwart zu oft "hin und her". Vom zeitlichen Zusammenhang her fehlt mir die "Zeitlinie", die mich durch die Wahrnehmungs- und Gedankenwelt führt.

Strophe 1 beginnt in der Vergangenheit, geht dann in die Gegenwart über; Strophe 2 bleibt, ebenso wie Strophe 3, im Präsens. Dann, in Strophe 4, erneut Präteritum, wobei allerdings Vers 4 erneut in die Gegenwart wechselt. Tut mir leid, aber ich verliere dabei den "roten Zeitfaden". Ich hoffe, du bist nicht gekränkt, ich beschreibe nur, wie es auf mich wirkt.

Das betrifft auch das "Als" in Strophe 2, Vers 4 - hier schreibst du "bezwing", aber dort sollte eigentlich (meiner Meinung nach) "Als ich ... bezwang" stehen - womit dort wieder ins Präteritum "übergewechselt" würde. :confused:

Das macht für mich den "Zeitrahmen" etwas verwirrend, da durch die "zeitliche Unruhe" ein Widerspruch zur "Stille" entsteht, ich hoffe, ich kann verdeutlichen, was ich damit meine.

Ich möchte aber auf keinen Fall sagen, dass es schlecht geschrieben ist! Außerdem bist du ein bisschen selbst schuld an meinen "Ansprüchen": Dieses Gedicht ist einfach nicht so gut, wie ich glaube, dass du kannst ... ;):)

Der Inhalt an sich sagt mir zu, meine Schwierigkeiten bestehen nur aufgrund der strukturellen Umsetzung.

Zitat:

Es war ein Weg, es war ein Steg, die Brücke,
Die einen weiten Bogen spannte, hing
An Seilen. Stille. Und ein Schmetterling
Entfaltet seine Flügel: Ich zerpflücke
Mir scheint das LyrIch eine ältere Person zu sein, die noch einmal durch die Erinnerungen seines Lebens "wandert". Der Lebensweg, der vom Heute über die "Brücke" der Erinnerung zurück in die Vergangenheit führt. Die "Seile" interpretiere ich als Erlebnisse oder Erfahrungen, die die "Brücke" halten (tragen). Der "Schmetterling", der (armes Ding!;)) symbolisch "zerpflückt" wird, stellt für mich ein sehr schönes, vielleicht sogar (damals) unbeschwertes Erlebnis dar; das "Zerpflücken" deutet entweder auf eine analytische Betrachtung des gegenwärtigen LyrIchs hin oder auf einen Rückblick, als es jünger war und aus Unwissenheit/Unachtsamkeit etwas Schönes "zerstörte" - das LyrIch "zerpflückt" sich selbst zugleich mit dem Schmetterling - oder es treffen vielleicht auch zwei, möglicherweise sogar alle Sichtweisen zugleich zu. Hier ist viel Interpretationsspielraum.

Zitat:

Mein Schicksal, das ich in die Wälder sing,
Die an den Hängen lehnen. Ich ersticke
An Tränen, die ich meinen Träumen schicke,
Als ich den letzten, dunklen Berg bezwing.
Auch die "Wälder", in die ein "Lied des Schicksals" gesungen wird, haben für mich eindeutig einen symbolhaften Charakter. Bäume können Freunde oder Hinternisse sein, je nachdem. Sie stehen hier meines Erachtens auch für Erlebnisse/Erinnerungen und (möglicherweise) auch für Menschen, denen das LyrIch im Laufe seines Lebens begegnet ist. Die "Hänge" sehe ich vor meinem geistigen Auge als Metapher im Sinne von "Berge und Täler" bzw. "Abhänge", also das Auf und Ab, das Scheitern und die Erfolge des Lebens - denn in Vers 4 wird dann auch ganz direkt die Metapher "Berg" verwendet. Das "Bezwingen des letzten, dunklen Berges" verstehe ich als das Letzte, was akzeptiert werden muss: Menschliches Leben endet irgendwann, diese Erkenntnis ist für das LyrIch offenbar schwer zu bewältigen, es fordert einiges an Selbstüberwindung (das "Überwinden von Bergen"). Es scheint Vieles zu geben, das bereut wird, viele Träume, denen "nachgeweint" wird, da sie sich nicht erfüllt haben. "Ersticken" deutet darauf hin, dass Manches davon dem LyrIch schwer zu schaffen macht ...

Zitat:

Hier stehe ich, wo viele vor mir standen,
Und sehe Wipfel an die Gipfel branden:
Sie tragen ihre Höhe als Tonsur.
In Strophe 3 steht der "Protagonist" da, "wo viele vor ihm standen". Ja, nicht alle Menschen wagen es, in der Reflektion des Vergangenen nach dem eigenen Selbst und dem Sinn des Lebens zu suchen, aber dennoch haben doch recht viele den Mut dazu. (Hier gefällt mir der Binnenreim "Wipfel/Gipfel", eine kleine Spielerei von dir?) Die Wipfel der Bäume branden an die Gipfel der Berge, eine "Baumflut" an Erinnerungen. Die Formulierung "sie tragen ihre Höhe als Tonsur" sehe ich (erneut symbolisch) für die Erkenntnis des nahenden Endes - der "Gipfel" ist kahl - dort wachsen keine Bäume mehr. Von dort aus geht es also nicht mehr "weiter".

Zitat:

Die Hoffnung kam mir mit der Zeit abhanden,
Wie alle Jahre in der Hast verschwunden:
Was bleibt von mir zurück? Wer bin ich nur?
Das LyrIch zieht in Strophe 4 das "Fazit" seines Lebens. Verlorene Hoffnungen, es wird die Entdeckung gemacht, dass in der "Hast" wohl die Jahre "untergingen", sie "kamen abhanden". Ihm müssen die einstigen Ziele, die zum "Hetzen" verführten, im Rückblick wohl irrig bzw. unwichtig vorkommen. Wenn ich mich "hinein versetze", wurde nicht bemerkt, dass es dadurch am Leben "vorbeigeeilt" ist - und deshalb das Meiste (Wichtigste) "verpasst" hat. Das "gipfelt" in Vers 4: Nichts von Bedeutung wurde getan, nichts Wertvolles erreicht, nichts Bleibendes geschaffen. Der "Gipfel" der Selbsterkenntnis: Wer bin ich nur - wenn ich Nichts erreicht habe und Nichts von mir bleibt - dann bin ich vielleicht selbst ... Nichts.

These, Antithese (hier Ergänzung) und Synthese finde ich sehr stimmig und hier ist auch der "rote Faden" einwandfrei vorhanden. :)

Also: Das Sonett gefällt mir sehr gut (sonst würde ich hier keinen "Roman" verzapfen), der Inhalt ebenso wie Metrum und Form. Nur die "Zeitsprünge" bringen mich durcheinander. Soll damit auf die innere Zerrissenheit bzw. Verwirrung des LyrIchs hingewiesen werden, dann finde ich das (leider) nicht wirklich gelungen. Kurz und gut: Hier bin ich die "Verwirrte". :confused:

Zum Schluss möchte ich nur sagen: Das sind alles nur meine ureigensten Gedanken und Eindrücke! Ich kann mich ja auch vollkommen irren. :o

Sehr gerne gelesen - und "zerpflückt".:D

Liebe Grüße

Stimme der Zeit

Walther 23.05.2011 19:26

Hallo Stimme der Zeit,

zuerst, offtopic, herzlichen Glückwunsch zu Deiner neuen Aufgabe hier. Ich wünsche Dir viel Erfolg und danke Dir, daß Du diese wichtige Aufgabe übernommen hast.

Ich bitte vielmals um Entschuldigung, daß ich mich erst jetzt melde, aber ich war sehr viel unterwegs die letzten Wochen. Im Folgenden versuche ich auf Deine ausführliche Kritik in der dafür erforderlichen Form einzugehen.

Wie Du siehst, habe ich oben Deinen Vorschlag für ein zusätzliches Komma in S2Z4 umgesetzt. Außerdem habe ich S1Z3 neu formuliert, um damit den Wendepunkt im Gedicht deutlicher hervorzuheben, der ja auch die Zeitenwende hervorbringt.

In der Tat hat das Sonett eine klassische Innen-/Außenstruktur, die ja das Dialoggedicht Sonett in seinen Formvoraussetzungen auszeichnet. Die Natur dient hier als Initiator und Rahmen für einen inneren Prozeß, der zur Frage aller Fragen führt.

In der Tat "standen" auf dem Gipfel viele vor dem LyrIch und natürlich "kam die Hoffnung mit der Zeit abhanden", denn das ist ja ein Prozeß, der in der Vergangenheit begann und auch heute noch andauert. Die Zeitenwechsel sind also korrekt und passen auch zum Perspektivenwechsel zwischen Wandern, Sehen und Sinnieren.

Nun ist ein Gedicht für einen Autor immer selbstredend. Letztlich ist es die Lesersicht, der sich der Autor stellen muß. Ich hoffe, Deine Frage beantwortet zu haben und wünsche Dir Frohes Dichten und Werken.

LG W.

Chavali 23.05.2011 19:54

Lieber Walther,

dein Gedicht ist für mich selbstredend.
Besonders auch der Titel gefällt mir:
Man kann sich tatsächlich die Stille erwandern, indem man Wege sucht und geht,
die abseits sind und auf denen man Ruhe zum Nachdenken hat.

Nun ist das hier ja kein Naturgedicht, in dem eine ruhige Bergtour o.ä. beschrieben wird,
sondern es werden Gedanken beleuchtet, die auf tiefes In-sich-Reinhören schließen lassen.
Das kann natürlich auch bei einem Wald- und Berspaziergang geschehen.
Ich würde deinem Gedicht deshalb eine Doppeldeutigkeit verleihen ;)


Sehr gern gelesen und darüber nachgedacht hat mit lieben Grüßen,
Chavali

Walther 27.05.2011 20:37

Lb. Chavali,

danke für Deinen Eintrag. Ich freue mich über jeden konstruktiven Eintrag unter (nicht nur) meinen Texten! :)

LG W.


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