Thema: Selbstavatare
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Alt 03.04.2017, 17:48   #3
Erich Kykal
TENEBRAE
 
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Hi Sy!

Das Gedicht bezieht sich auf die "gesichtslose Menge", die Masse der Fremden, unter denen man Fremder ist, die gleichgültigen, unbewegten Mienen der Passanten. "Unter vielen allein" könnte man auch sagen, aber zum Teil ist die Gesellschaft an sich konturloser, anonymer, gleichgültiger geworden. "Geht mich nichts an!" oder "Bloß nicht einmischen!" oder "Könnte eine Falle sein!" oder "Ich will keine Schwierigkeiten!" oder "Igitt! Ich will den nicht anfassen!" sagt sich mancher, der an einem Kollabierten vorbeigeht, der vielleicht ohne seine Hilfe stirbt - mitten in der City, am hellichten Tag!

Avatare bezeichnen heute "Platzhalter" für das eigene Ich, die eigene Persona im Internet, wenn man anonym bleiben möchte, aus welchen Gründen auch immer. Die Unpersönlichkeit, die hohle Fassade dieser Maskierung erinnert an/ist übertragbar auf diese gleichgültige Menge: sie alle tragen irgendwie Masken, als seien sie gar nicht bei sich, sondern würden nur gefühlslose Puppen fernsteuern, entweder von daheim oder als Passagiere im eigenen Körper - sie verhalten sich, als ginge die reale Welt sie gar nicht (mehr) an!

Mittlerweile soll es Menschen geben, die ernstlich glauben, ihr "wahres Leben" finde in der Cyberwelt statt und nicht in der Wirklichkeit, bzw. ihre Avatare im Netz sind ihnen wirklicher als das, was sie in der Realität darstellen.
Überträgt man das Bild der "vorgespiegelten Persona" auf diese Wirklichkeit, erscheinen die meisten Passanten in den Großstädten eben auch wie Puppen, unpersönliche Hüllen, die so tun, als ginge das Leben um sie sie gar nichts an, als durcheilten sie es nur, weil sie eben gerade müssten. - Selbstavatare eben, Scheinpersönlichkeiten, Masken im weitesten Sinne ...

Man kann sich auch fragen, ob die in S1 erwähnte "Stadt" eine echte ist oder eine im Cyberspace, ob du in der "echten Realität" spazieren gehst oder durch ein computergenerieres Scheinbild wandelst, den eigenen Avatar fernsteuernd - die Grenzen verschwimmen mehr und mehr ...
Spieler in Computerspielwelten erkennen die Avatare von Mitspielern nach einer Weile im Spiel als wirklich so existente Wesen an - da fragt man sich doch ...

LG, eKy
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Weis heiter zieht diese Elend Erle Ute - aber Liebe allein lässt sie wachsen.
Wer Gebete spricht, glaubt an Götter - wer aber Gedichte schreibt, glaubt an Menschen!
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Die Verbrennung von Vordenkern findet auf dem Gescheiterhaufen statt.
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