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Alt 06.04.2017, 18:31   #6
Aphrodite
Schaumgeboren
 
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Hallo EV,

Klavierbauer, sehr spannend; das nur vorweg. Wenn Du wirklich so neu in der Lyrik bist, wie Du in Deiner Vorstellung schreibst, sehe ich schon ein gewisses Talent, auch, wenn ein paar Stile durcheinander gehen - aber vielleicht führt auch gerade diese Tatsache zu einer gewissen Authentizität.

Dennoch - durcheinander gehen, meiner Meinung nach, auch einige syntaktische Bezüge, beginnend in den ersten Versen des Gedichts. Ich bin nicht im sprachlich wissenschaftlichen Bereich tätig - vielleicht mag sich zu meinen Anmerkungen auch jemand äußern, der auf diesem Gebiet bewanderter ist als ich.

Zitat:
Durch der Morgenröte dichtem(?) Rauch, steigt aus Dörferessen müder Dunst.
Das von mir markierte Wort ist zweifelsohne der Dativ Singular von "dicht" - der Satz wird allerdings mit "Durch" eingeleitet, was meines Wissens nach den Akkusativ bedingt. Das folgende "der Morgenröte" würde ich als Genitiv auffassen, was den folgenden Dativ (s.o.) allerdings - meiner Ansicht nach - komplett allein stehen ließe. Der Hauptsatz ist offensichtlich "Aus Dörferessen steigt müder Dunst"; den kann ich soweit nachvollziehen. Den einleitenden Nebensatz des Gedichtes, der eine Begründung oder Lokalität enthält allerdings überhaupt nicht.

Selbst wenn ich mal annehme, dass es nicht dichtem, sondern dichten heißen soll, würde dort im Klartext stehen: Durch den dichten Rauch der Morgenröte, steigt müder Dunst aus Dörferessen. Das macht zwar syntaktisch Sinn, aber inhaltlich doch recht wenig - ich will mich damit aber auch nicht zu lange aufhalten und bitte einfach darum, mir zu zeigen, wo mein Gedankengang fehl läuft.

Vers 3 kann ich syntaktisch und inhaltlich nachvollziehen, finde allerdings den Übergang zu Vers 4 und Vers 4 selbst nicht sonderlich geglückt. In Deiner neuen Version hast Du ein Komma am Übergang der Zeilen eingebaut. Entsprechend würde ich das folgende Die schon einmal klein schreiben.
Ansonsten finde ich den Übergang vom dörfisch/städtischen Bild (Rauch, (Dörfer-)Essen, Qualm, Dunst, auch den NebelSCHLAUCH finde ich als Bild eher technisch angehaucht, wenn man sich die Alternativen überlegt) zur Natur recht, hm, ruppig(?) gestaltet. Auch V4 selbst finde ich - nicht nur aufgrund der Inversion - sprachlich und bildlich nicht sonderlich geglückt. Erstens gehe ich mit dem Bild nicht konform, dass die Natur für uns etwas (in diesem Falle "Kunst") gebiert, aber das steht jedem Schreiber natürlich frei, seine eigene Idee zu haben - aber dem Leser seine Intention derart keulen-artig ins Gesicht zu knallen und sie als definitiv hinzustellen empfinde ich als keine schöne Lösung, à la "Die Natur erzeugt für uns im Tal Kunst" - finde Dich damit ab, lieber Leser, oder lass es bleiben.

In Strophe 2 wird dann sehr überschwänglich der eigentliche Baum eingeführt.

Zitat:
In erblühten Wiesen thront der Baum,
eine echte Weide voll mit Trauer.
Ihre Bletter sind der Wiesensaum -
hinter ihr der rote Fuchs auf Lauer.
Vorweg - thront man nicht eher "auf" etwas? Und warum die Wiese pluralisieren, wenn es doch lt. Titel um einen Baum geht? Zumindest für mich erzeugt dieser Kunstgriff hier keine besondere Wirkung sondern scheint mir viel eher der Effekthascherei zu dienen.

Stilistisch gefällt mir in dieser Strophe vor allem die Diskrepanz zwischen thronen und Trauer, assoziiere ich thronen doch eher mit stolzer Erhabenheit. Durch das gleichzeitige Einführen der Trauer wird dem Leser hier schöner interpretatorischer Spielraum geboten (den ich allerdings nicht mit meiner Interpretation fülle, das es mir erst einmal darum geht, Dir Dinge im Basis-Gerüst Deines Textes aufzuzeigen, die mir auffallen und zu sehen, wie Du darauf reagierst).

Nun zu Deinem Neologismus, Kofferwort, wie auch immer - das geht nicht. Ich begrüße Kreativität, aber die von Dir erdachte Transfer-Leistung kannst Du einfach von keinem Leser erwarten. Vor allem(!) in einem Werk, das in seinen syntaktischen Bezügen (meines Erachtens) schwächelt, wird sich jeder Leser beim Wort Bletter denken "oha, jetzt ist darüber hinaus sogar ein Rechtschreibfehler drin". Das hat sich ja auch z. B. Chavali gedacht, die Dein Werk, bis auf ein paar Peanuts, ausdrücklich gelobt hat.

Die "Poesiehaftigkeit" die Du im Rahmen "Letter" ansprichst bietest Du dem Leser in Deinem Text auch nicht wirklich. Nicht, weil er nicht poetisch ist (für einen Anfänger ist er sogar ziemlich poetisch), aber weil Deine Wortwahl eher auf darstellende, ästhetische, bildende Kunst schließen lässt, ein Gemälde. Unter diesen Umständen solltest Du eher nicht erwarten, dass der Leser eine Übertragung in den Rahmen der Buchstaben leisten kann, die darüber hinaus auch erst einmal voraussetzt, dass er das Kofferwort erkennt und es richtig auflöst - schließlich könnte es alles mögliche bedeuten. Versuch macht klug, aber ich würde auch einfach zu den Blättern zurück.

Durch den einleitenden Ausruf in Strophe 3 machst Du ganz klar "diese bunten Wiesen" zum Thema. Entsprechend sind Vers 2 und Vers 3 syntaktisch wieder schwach.

Zitat:
All das Leben freskenhaft durchzogen(?),
jeder Mensch kann sich in ihr belesen.
Zuerst einmal haben die 2 Teilsätze - abgesehen vom Komma - überhaupt keinen Bezug zueinander. Weder die Sätze davor, noch die Sätze danach können - für mich - irgendeine Verbindung zu diesem Zweiteiler herstellen.
Ihr macht nur Sinn, wenn sich jeder Mensch in der Trauerweide (oder welchem Teil von ihr auch immer) belesen kann - diese steht aber als Bezugswort längst nicht mehr zur Verfügung, da Du die bunten Wiesen mit Nachdruck (Ausrufezeichen) eingeführt hast. Entsprechend müsste es rein syntaktisch "kann sich in ihnen belesen" heißen. Aber dass der Mensch sich in den bunten Wiesen belesen kann, willst Du ja nicht ausdrücken. Auch der erste Teilsatz scheint ohne Bezug - ein gängiges Problem von Ellipsen, weswegen ich sie vermeide. Aber selbst wenn wir den vollen Satz hätten, ungefähr: Das ganze Leben ist freskenhaft durchzogen, jeder Mensch kann sich in ihr(?) belesen; ist die Sinnhaftigkeit dieses Ausdrucks ungefähr 0. Ist es nicht eher so, dass das ganze Leben ein einziges Fresko ist und nicht von etw. freskenhaft durchzogen wird (Passiv?) - und malt nicht eher der Mensch sein eigenes und das Fresko der Natur, statt sich darin zu belesen? - aber das driftet ins Interpretatorische ab und da will ich nicht hin.

Meine ersten Werke, so vor 8, 9 Jahren waren Deinen in ihren Stärken und Schwächen ähnlich. Ich habe damals Kritiken wie diese bekommen und schreibe Dir eine in diesem Umfang, um von dem Wissen, das an mich herangetragen wurde, etwas zurück- bzw. weiterzugeben. Dich habe ich für diese Arbeit ausgesucht (so eine Kritik dauert gut und gerne 2-3 Stunden), weil Du Dich sehr förmlich, mit gutem Deutsch und lyrisch begeistert vorgestellt hast. Ich habe nichts dagegen, wenn man sich nur Komplimente macht und nur die kleinsten Fehler aufzeigt - es ist beim Kommentieren lediglich nicht mein Ansatz. Für mich steht außerdem - dichterische Freiheit hin oder her - der Umgang mit Sprache im absoluten Mittelpunkt der Lyrik und da sehe ich bei Dir die größten Schwächen, wie oben aufgezeigt. Das ist aber - in meinen Augen - völlig normal und soll Dich persönlich weder angreifen, noch entmutigen - im Gegenteil. An dieser Stelle sei auch noch gesagt, dass ich auch Dein anderes Werk in "Ausflug in die Natur" bereits gelesen habe - aber das ist sprachlich, in meinen Augen, so verkorkst, dass ich mich dort nicht herangewagt habe. Bei Interesse kann ich Dir gerne - im Stile wie hier - etwas dazu schreiben; dort fiele es mir allerdings schwerer als hier, positive Aspekte aufzuzeigen.

Wie dem auch sei; ich freue mich, dass Du zur Lyrik gefunden hast und dass Du mit Rilke, der auch zu meinen Lieblingen zählt, an einen der ganz Großen geraten bist. Wenn es Dir nur um den Spaß beim Schreiben geht und Dir sprachliche Grenzen relativ egal sind und Du den Rahmen der sog. dichterischen Freiheit ausschöpfen müsstest, bist Du bei mir falsch, da Lyrik für mich ein Kunsthandwerk mit vielerlei Ansprüchen ist. Wenn Du gerne tiefer in die Materie eintauchen möchtest und Dich auf obigem Niveau (also so zwischen Halbwissen und ein bisschen Ahnung) austauschen möchtest, komm gerne auf mich zurück.

Liebe Grüße und viel Freude hier,

Aphrodite

PS: fee war schneller
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