Thema: Walther
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Alt 10.10.2011, 22:26   #5
Stimme der Zeit
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Hallo, Galapapa,

sie hieß Bärbel. Heute ist sie eine Frau, älter als ich und lebt im Heim, da ihre Mutter zu alt geworden ist, um sie noch versorgen zu können. (Das weiß ich, weil ich den Ort meiner Kindheit gelegentlich aufsuche.)

Als ich ein Kind war, wusste ich immer nicht, wie ich mich ihr gegenüber verhalten sollte. Ich war irgendwie froh, wenn ich ihr nicht begegnete. Auf den Gedanken, sie zu hänseln oder Ähnliches wäre ich nie gekommen, aber ich war sehr unsicher. Warum? Nun, sie war eben "anders" und ich wollte nichts "falsch machen" oder etwas "Falsches sagen". Die Erwachsenen waren mir da keine Hilfe, denn eine hilfreiche Erklärung bekam ich nicht, an der ich mich hätte orientieren können. Statt dessen gab es viele abfällige Bemerkungen, die ich nicht verstand - Bärbel tat doch niemandem was?

Als Kind wurde ich durch das Verhalten der Erwachsenen in meinem Umfeld nur noch mehr verunsichert ...

Allerdings brachte mich das nicht dazu, selbst so zu denken, darüber bin ich froh. (Heute mehr denn je.) Ich war ein Kind, dem man hätte erklären können, was eine geistige Behinderung ist und dass man sich eigentlich "normal" verhalten kann, man darf nur nicht zu kompliziert reden. Aber das wusste ich damals nicht. Ich sah die dicken, großen Brillengläser und die "anderen" Gesichtszüge. Tja ...

Im Gegensatz zu Walther in deinem Gedicht wurde sie nicht verspottet oder gehänselt, die abfälligen Reden fanden nur "heimlich" statt. Das lag daran, dass ihre Mutter damals eine sehr resolute Persönlichkeit war, die selbst "gestandenen Mannsbildern" einen Heidenrespekt abnötigte. Sie sorgte auch dafür, dass ihre Tochter immer "gepflegt" war. Ich schätze, nur deshalb gab es da nichts "Offenes".

Zur Erklärung: Heute ist mein früherer Wohnort Stadtrand, aber in meiner Kindheit war es ein richtiges "Dorf", in jeder Hinsicht.

Nun, es gibt auch Positives zu berichten: Bärbel machte eine (behindertengerechte) Ausbildung (damals mit Seltenheitswert!) und, soweit ich weiß, ist sie seither immer berufstätig gewesen. Ihre Mutter zog sie alleine groß - und ohne deren Beherztheit und Kampfeswillen wäre das sicher nicht möglich gewesen. Hut ab vor dieser Frau, die jetzt leider selbst im Pflegeheim ist.

Aber das zeigt mir etwas sehr Wichtiges auf: Wenn der familiäre Rückhalt stimmt, dann muss das Schicksal von Walther nicht sein. Das macht mich wirklich traurig, denn - wo war seine Familie, um sich gut um ihn zu kümmern? Das ist eines der Armutszeugnisse der Menschheit, wenn Mütter ihre Kinder nur lieben, wenn sie "gesund und perfekt" sind. Was überhaupt keine Liebe ist ...

Edit:

Lieber Galapapa, warum, weiß ich nicht, aber irgendwie drang es nicht ganz zu mir durch, offenbar "entschlüpfte" mir beim Schreiben des Kommentars, dass im Gedicht erwähnt wird, er habe keine Mutter mehr und nur zwei Brüder, die offenbar mehr Zuneigung zum Inhalt diverser Flaschen hatten, anstatt sich um ihn zu kümmern. Also: Entschuldige, ich revidiere und entschuldige mich für meine "geistige Abwesenheit". Vielleicht war ich irgendwie in "meiner Geschichte" zu tief drin und "vergaß" es irgendwie? Die oberen Bemerkungen lasse ich aber trotzdem stehen, denn selbst wenn es bei Walther so nicht der Fall war, geschieht es doch oft genug. Nochmal: Tut mir leid!

Auch mich hat dein Gedicht tief berührt, es hat Erinnerungen geweckt, mich aber auch zornig gemacht.

Liebe Grüße

Stimme
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Geändert von Stimme der Zeit (11.10.2011 um 16:39 Uhr) Grund: Offenbar ist mir ein Teil des Gedichtinhalts "entschlüpft", Ergänzung hinzugefügt.
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