Guten Morgen, Walther,
dieses Sonett assoziiere ich mit dem November, denn in diesem Monat ist mir immer genau so zumute. Dann geht der Herbst in den Winter über, es wird neblig und kalt. Die Bäume haben ihr Laub abgeworfen, und statt dem Grün "herrscht" das Grau vor.
Es gibt hier auch eine zweite Ebene der Deutung. Da bei mir selbst der "Spätsommer" gerade allmählich zum "Herbst" wird, kann mich mir gut vorstellen, wie es sein wird, wenn in einigen Jahren der "Herbst" in den "Winter" übergeht. Wir Menschen haben ebenfalls unsere "Jahreszeiten" ...
Ich möchte kurz die Kadenzen anmerken, denn sie "unterstreichen" den Inhalt. Überhandnehmender Nebel, nackt und bloß, kriechende Feuchte, große Schatten - der Inhalt der ersten Strophe ist "härter", die männlichen Kadenzen passen sehr gut dazu.
In Strophe zwei verwendest du weibliche Kadenzen, auch der Inhalt (die "Wortwahl") wird "weicher". Ein lächelnder Winter, eine sich mühende Sonne, nicht gewinnen (verlieren steht hier nicht), gerinnender Morgendunst, ein Baum, umfächelnde (Nebel)schwaden.
Ebenso erwähnenswert finde ich die Enjambements. In S1: "... Wie groß / Die Schatten werden, ..."; Von S1 zu S2: "Der Winter" (am Anfang der Strophe); von S2 zu S3: "... eine Schwere / Legt sich ..."; von S3 zu S4: "... Die Kehre / Vollzogen, ..." - auch eine "optisch" gelungene "Kehre"; in S4: "... ins Graue, / ins Engbegrenzte. ...", nach dem Wort Engbegrenzte "begrenzt" der Punkt tatsächlich.
In der Synthese der beiden Terzette lässt du die männlichen und weiblichen Kadenzen "verschmelzen".
Ein ernsthaftes Lob für Struktur und Aufbau! Das ist hier ganz hervorragend gelungen.
Ich sehe hier ein LI, das an einem (Herbst)morgen "aus dem Fenster blickt", und feststellt, dass die Welt unter seinem Blick "verschmiert". Werden die Konturen durch Tränen unscharf? Man spricht ja auch vom "Fenster zur Seele" ...
Das LI empfindet eine Schwere, die seine Sicht "trübt". Der Baum - symbolisiert er hier das "lebendige Grün", die "Lebensfreude"? Mir scheint die Tatsache, dass er nicht zu einer "festen Form gerinnen" kann eine Metapher für einen "Verlust".
Ich weiß nicht, ob eine "Kehre" notwendig ist, oder ob der Spätherbst/Winter nicht auch von "alleine kommt". Diese "Wendung" kann ich nicht ganz "einordnen". Wendet das LI sich vom "Weg ins Graue" "ab" oder wendet es sich ihm "zu"?
Die letzte Strophe sagt mir, dass das LI seine "Welt" als "enger" betrachtet, für ihn wird sie "kleiner".
Zitat:
Der Blick hindurch verschmiert ins Ungenaue.
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Das nachlassende Sehvermögen im Alter; Tränen; "echter" Nebel ... in jedem Fall ist die "Durchsicht" verschmiert, das "Draußen" und die "Zukunft" sind nur mehr vage und ungenau zu erkennen.
Ein schönes, sehr melancholisches und trauriges Gedicht. Ich lasse diese "Stimmung" auf mich wirken - und gebe zu, dass ich mich heute schon weigere, diese Stimmung "aufkommen" zu lassen.
Älter werde ich, aber ich werde tun, was ich kann, um (nach Möglichkeit!) nie
alt zu sein.

Gerne gelesen und kommentiert.
Liebe Grüße
Stimme