Thema: In Glas
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Alt 27.11.2011, 09:05   #6
Stimme der Zeit
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Guten Morgen, Cebrail,

ich möchte gerne dieses Gedicht kommentieren, und das aus "eigenem Antrieb". Nach unserem "Chat-Gespräch" gestern finde ich es sehr interessant, die verschiedenen "Deutungsebenen" zu betrachten. Besonders durch die Tatsache, dass, wie erwähnt, dieses Gedicht eine "Oberfläche" besitzt und noch eine "Ebene" darunter. Die "Oberfläche" kann auch ich klar erkennen, dabei handelt es sich um die Darstellung einer Jahreszeit: Dem Winter.

In diesem Zusammenhang betrachtet, stellt der Titel "In Glas gegossen" eine Metapher für "Eis" dar. Es ist kalt, der Raureif überzieht die Dächer, die Bäume sind kahl und die Menschen frieren. Der Himmel erscheint "steinern", das assoziiere ich mit der grauen Farbe. Die "Gedanken schweifen nach Süden", das kann sowohl ein Urlaubswunsch sein (den wir wohl alle ab und zu hegen, um uns der "Kälte" zu entziehen) oder auch der Wunsch nach dem Ende des Winters, die Sehnsucht nach Frühling und Sommer. Auf dieser "Ebene" ist der "verschlossene See" gefroren, mit einer dicken Eisschicht überzogen, so dass er den "Wunsch in sich einschließt" (worunter auch etwas so simples wie mangelnde finanzielle Möglichkeiten verstanden werden kann, also eine Urlaubsreise nur ein "Wunsch" bleibt). Das "Schweigen im Schwarz der Nacht" deutet dann auf die langen Nächte und die kurzen Tage des Winters hin; und auch auf die durch Schnee und Eis "gedämpften Geräusche" (durch Schnee und Eis ist ein Winter tatsächlich "leiser", es fehlen ja auch z. B. die Gesänge der Vögel o. Ä.). Im Winter sind auch wir Menschen weniger aktiv, manche leiden sogar (jahreszeitlich bedingt) unter depressiven Stimmungen, was in diesem Fall durch das "in Glas gegossene Herz" dargestellt wird. So viel zur "ersten Ebene".

Gestern erklärtest du mir deine eigene "zweite Ebene". Wenn du erlaubst, dann möchte ich gerne meine aufzeigen, die mir eine "dritte" zu sein scheint. Im Laufe der Zeit stellte ich beim Kommentieren fest, dass ich häufig etwas "Anderes" herauslese, als der "Autor" hineinlegte. Das hängt schlicht mit dem "Standpunkt des Betrachters" zusammen. Daher denke ich, dass im Grunde genommen jedes Gedicht eine "zweite" Ebene aufweist; im eigentlichen Sinn sogar noch mehr, denn zehn Leser würden "zehn Ebenen" vorfinden - je nach persönlicher Sichtweise. Von da her wäre die "zweite Ebene" des Verfassers "seine Sichtweise". Und es ist selten, besonders auf der, ich nenne sie mal "verborgenen Ebene", dass es dabei zu einer wirklichen "Übereinstimmung" kommt. (Was dadurch bedingt ist, dass wir Individuen mit individueller Wahrnehmung sind. )

"Meine" zweite Ebene erkennt im Gedicht die metaphorische Darstellung einer Zweierbeziehung. In der Beziehung herrscht "Winter", die Gefühle sind "erkaltet" - mit einer "Eisschicht" überzogen. Dabei handelt es sich um eine "innere Kälte", die dafür sorgt, dass die Welt ebenfalls auf diese Art und Weise wahrgenommen wird. Auch hier sehe ich das Glas als Metapher für Eis. Der Himmel, als Metapher für "Freude, Glück" ist "kalt, hart, grau" - wie aus "Stein". Auch das lese ich als "erstarrte Gefühle". Die "nackten Bäume" sehe ich dann als "mangelnde Lebendigkeit", das Grün und die Blätter fehlen. Sie "zerschneiden den Wind" - wobei der "Wind" hier eine Metapher für "Bewegung und Aktivität" bzw. ein "Vorwärts" ist. Das "stille Greifen nach den Sternen" deutet auf (vergebliche) Hoffnungen hin, die offensichtlich nicht "laut" werden; daraus schließe ich, dass nicht mehr miteinander geredet wird, die Hoffnungen und Wünsche werden einander nicht mehr anvertraut.

Auch der Schnee (ich sehe dabei eine "Schneedecke" vor mir) ist wie eine "kalte Schicht", die die Träume und Wünsche "zudeckt" und das "südliche Schweifen der Gedanken" stellt den Wunsch dar, dass die Beziehung "auftauen" möge, also das Sehnen nach dem "Sommer", nach Wärme, Nähe und lebendigen Gefühlen; der Wunsch nach "Bewegung".

Der (in meiner Imagination) mit einer (dicken) Eisschicht überzogene See stellt diesbezüglich ein "Synonym" für die "Gesamtheit der Wünsche und Sehnsüchte" dar. Diese bleiben jedoch "unter der Eisschicht verschlossen". Das "Schweigen im Schwarz der Nacht" sehe ich als eine Metapher sowohl für tatsächliches nächtliches Schweigen (auch nachts wird nicht miteinander gesprochen), als auch für Hoffnungslosigkeit und eine Art "Verfinsterung"; in der Beziehung gibt es keine "hellen Tage" mehr.

Das "in Glas gegossene Herz" bedeutet dann ebenfalls, das die Gefühle (symbolisiert durch das Herz) von einer Eisschicht überzogen sind.

Zitat:
bis die Sonne, die Sonne wieder scheint.
Unter diesen Gesichtspunkten betrachtet, stellt der letzte Vers sowohl die Hoffnung dar als auch die Bereitschaft, nicht aufzugeben. Denn das ist keine Frage, sondern als "Feststellung" formuliert: "bis die Sonne" - damit wird vorausgesetzt, dass es geschieht. Daher nimmt das vorher recht "düstere" Gedicht hier eine "Wendung". Das wird noch verstärkt durch die Tatsache, dass hier das "Kreuzreimmuster" durchbrochen wird: "Nacht" und "scheint" reimen sich nicht. Hinzu kommt noch die Repetitio "die Sonne, die Sonne" und der Wechsel zu einem trochäischen Versbeginn, gefolgt von einem daktylischen Versfuß.

Auch bemerkenswert der identische Reim "gegossen" - sowohl die Welt als auch das Herz. Oder das "Eine bedingt durch das Andere", je nach Sichtweise.

Formal bemerkte ich lediglich zwei Stellen, die ich (aber nur als Hinweis für die Zukunft) kurz anmerken möchte:

Zitat:
der Raureif (ist) weiß aufs Dach geflossen,
Das ist nur meine persönliche Sichtweise, die Ellipse wirkt auf mich deshalb nicht ganz gelungen, weil ich das "Fehlen bemerke"; wenn es sehr gut gelungen ist, dann wird ein fehlendes Wort eben "nicht bemerkt" ...

Zitat:
Wenn Bäume nackt den Wind zerschneiden
und still nach Sternen greifen,
im Schnee geduckt die Träume leiden: - hier fände ich einen Doppelpunkt besser, da auch hier wieder eine Ellipse vorliegt
Gedanken südlich schweifen.
Wobei der Doppelpunkt lediglich eine "Notlösung" darstellt , da Ellipsen, die sich von einem Vers per Zeilenübergang in den Folgevers ziehen, immer etwas sehr Schwieriges sind.

Und noch eine Anmerkung zum gewählten Metrum: Ich finde, dass der vierhebige Jambus hier gut passt; das liegt daran, dass der "Inhalt" für ein "Gefühl" der Schwere und Monotonie sorgt - und das wiederum sorgt dafür, dass auch der Rhythmus des Metrums so "wirkt". (Ich finde, das Metrum allein ist nur die "Hälfte", ebenso wie der "Inhalt". Das "Zusammenspiel der Kräfte" sorgt meines Erachtens nach für die "Gesamtwirkung", die durchaus "mehr als die Summe ihrer Teile" sein kann.)

Es ist ein schönes und tiefsinniges Gedicht, das mehrfache Betrachtungsweisen ermöglicht - und mir sehr gut gefällt, messe meinen Anmerkungen also nicht zu viel Gewicht bei. Mir fällt es eben auf, dass es an diesen Stellen nicht so "rund" läuft wie in den anderen Teilen des Gedichts, und ich mache lediglich darauf aufmerksam, um vielleicht behilflich zu sein.

Sehr gerne gelesen und kommentiert.

Liebe Grüße

Stimme
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Geändert von Stimme der Zeit (27.11.2011 um 09:10 Uhr) Grund: Kleine Korrektur.
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