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Alt 21.08.2014, 08:47   #8
Falderwald
Lyrische Emotion
 
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Hi Chavi,

dein Text wirft viele Fragen auf und wenn ich ehrlich bin, dann kann ich keine davon mit Sicherheit beantworten.

Letztlich ist es ja so, dass der Dichter oder der Schriftsteller sich in vielen Fällen in eine Rolle hinein begibt, in der er versucht, sich in eine bestimmte Person und / oder Situation hineinzuversetzen.

Das heißt, er ist kreativ und versucht Situationen und Personen zu erschaffen.
Dabei bleibt es aber immer nur bei der Vorstellung, wie etwas aussehen oder jemand sein könnte, also im Konjunktiv.
Es sind nur Möglichkeiten, die in vielen Fällen mit der Realität nichts zu tun haben, denn wer kann sich schon als "normaler Mensch" z.B. in das wahre Wesen eines Schänders oder Selbstmörders hineinversetzen?
Es bleibt lediglich ein Versuch und die Kunst dabei ist, so glaubwürdig wie möglich dabei zu sein, um somit vielleicht das Herz des Lesers zu erreichen und zu treffen.

So gesehen bleiben solche Dinge immer und ausschließlich fiktiv, solange der Autor nicht explizit das Gegenteil behauptet.

Zumindest will ich einen Großteil meiner Texte so verstanden wissen. Ich gehe also auf eine gewisse Distanz zu ihnen und möchte nicht mit ihnen gleichgesetzt werden.

Ich will versuchen, es mal so zu erklären:

Ein Text ist zunächst einmal ein Konstrukt oder eine Konstruktion, also ein Gebilde, ein Ding, eine Form, ein Gegenstand, eine Gestalt, ein Objekt, ein Produkt oder, abwertend, ein Machwerk.

Das ist genau so, als würde ein Flugzeugingenieur einen Jet konstruieren.
Sicherlich fließt sein persönliches Wissen und sein technisches Geschick bei dieser Konstruktion ein und sehr wahrscheinlich auch sein individueller Geschmack in Form und Gestaltung, aber wer käme auf den abwegigen Gedanken, dieses Konstrukt, dieses Ding, diesen Jet mit dem Ich des Ingenieurs gleichzusetzen, bzw. dass dieses etwas über ihn aussagen könnte?
Wir sprechen hier ja auch von Kunst, nämlich von der Ingenieurskunst.

Warum also sollte das in der Kunstrichtung Literatur, hier speziell der Lyrik, anders sein?

Thomas Mann sagte 1953 in "Der Künstler und die Gesellschaft":

"Denn man weiß ganz genau, daß der Künstler kein moralisches Wesen ist, daß sein Grundtrieb das Spiel ist und nicht die Tugend, ja daß er sich in aller Naivität herausnimmt, mit den Fragestellungen und Antinomien (Widersprüchen) der Moral auch nur dialektisch (in Gegensätzen denkend) zu spielen."

Dem ist eigentlich nichts mehr hinzuzufügen.

So kann ich also die Fragen, die dein Text aufwirft, auch nicht beantworten.

Es wäre nämlich überheblich, anhand des Kunstwerks, hier des Textes, Rückschlüsse auf den Autor zu ziehen und somit auch moralisch äußerst fragwürdig.

Wer dies praktiziert, offenbart damit nicht nur seine Unfähigkeit, sondern auch seine Geisteshaltung, indem er seine eigene Interpretation missbraucht, indem er ein Kunstwerk personifiziert.

Das funktioniert aber nur bei den darstellenden Künsten, Theater, Tanz, Film, wo der Künstler das Kunstwerk selbst ist.

Doch niemals bei den bildenden Künsten, der Musik oder den verschiedenen Literaturgattungen, in denen selbständige Kunstwerke erschaffen werden.

Alles andere ist Blabla und dummes, moralisches Gewäsch, genauer gesagt ein Dogma, ähnlich den religiösen Dogmen, in denen allen Dingen durch einen kreativen Schöpfer göttliche Eigenschaften zugesprochen werden und offenbart somit eine geistige Haltung, die durch kompromissloses Festhalten an ideologischen Grundsätzen gekennzeichnet ist und das Handeln bestimmt, was man auch als eine Art von Fundamentalismus bezeichnen könnte.


In diesem Sinne habe ich dein Gedicht gerne gelesen und mich mit den berechtigten Fragen näher auseinandergesetzt, obwohl ich keine direkten Antworten darauf liefern konnte...


Liebe Grüße

Bis bald

Falderwald
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Oh, dass ich große Laster säh', Verbrechen, blutig kolossal, nur diese satte Tugend nicht und zahlungsfähige Moral. (Heinrich Heine)



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