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Alt 03.01.2016, 21:08   #4
wolo von thurland
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Hallo Erich Kykal

Vielen Dank für die ausführliche Kritik und die Eigenbearbeitung..
Obwohl mich beim Wort „Sprachhabung“ bis in die Knochen schaudert, weiss ich es zu schätzen, wenn du die meinige an Stellen lobenswert findest.

Inhaltlich stellst du s1z3/4 in Frage. Natürlich hast du Recht damit. Ich leite daraus positiv ab, dass meine anderen Einfälle für dich durchaus mehr oder minder als Transporteure von Bildern oder Bedeutungen taugen mochten. Obwohl vielleicht ein Leser oder Hörer bereits bei der ersten Zeile die Nase rümpfen möchte ob so viel lyrischer Verfremdung.
Nun, du hast, so viel ich mich erinnere, selbst schon darauf hingewiesen, wie eine erste Zeile sich in einem festsetzt und einen nicht mehr frei lässt, bis man weitere Verse drangehängt und eventualiter sogar etwas daraus gemacht hat, was anderen wie ein Gedicht vorkommt.
Mir geschieht solches auch, nur anders: Weitere Verse und Reime schliessen sich wie zufällig an, indem sie einer irgendwo mal Teil meiner selbst gewordenen Melodie und/oder einem ebensolchen Rhythmus folgen. So bin ich denn eher überrascht, dass der Text als Ganzes in den Augen des Lesers sinntragend und verstehbar erscheint. Stellt sich die Frage, ob ich mir zutraue, die monierten Zeilen durch etwas zu ersetzen, das nicht nur eine mir, sondern auch einem allfälligen Leser zugängliche Melodie und (Un-)Logik aufweist...

Deine übrigen Probleme mit meinem Text sind mir ein wichtiger Hinweis darauf, dass ich bei solcherart freiem Umgang mit Vers und Strophe (Du weißt vielleicht, dass ich auch in der strengen Fesselung durch ein „Versmaß“ oder eine „Strophenform“ - Metrum benütze ich ungern, weil es für mich von der Musik her betrachet auch in der Lyrik nicht das bedeutet, was viele darunter verstehen - dass ich auch dann der Variation, der Abweichung, der Spielerei, der Verzierung das Wort rede und gerne „metrisch saubere“ Texte als langweilig und als Geleiere bezeichne.),
dass ich bei solch fereiem Umgang wie im vorliegenden Fall nicht davon ausgehen darf, dass Melodie und Rhythmus sich auch tatsächlich problemlos mit einer relativ freien Form verheiraten, wenn sie es zunächst in meinem Kopf tun.
Gut, ich könnte mein „Quasi ein Sonett“ nun weiteren Probanden vorlegen und gucken, wie es denen damit geht. Aber das wäre lächerlich.
Zur Hebungszahl in Sonetten machte ich gerade eine schöne Erfahrung, als ein Forenkollege mir seine Übersetzung eines französischen Sonetts vorlegte und ich entdeckte, dass sein fünfhebiger deutscher Iambus auf einem vierhebigen „vers libre“ des Originals basierte (nur die Silbenzahl war gleich...). Nun, er hat es geschafft, den teilweisen Marsch-Charakter seiner ersten Fassung auszumerzen und ein elegantes deutsches Ding daraus zu machen, welches auch die sprachlichen Feinheiten des Originals weitgehend transportiert.

Zur Frage der Kadenzen weiss ich leider nicht viel.
Immerhin scheint es, dass es nicht ganz zutrifft, dass früher die Regel „männlich“ vorgeschrieben haben soll, wenn wir uns z. B. das folgende Sonett von William Shakespeare anschauen. (Der übrigens nicht nur hier sogar die vor einiger Zeit durch Agneta heftig kritisierten Daktylischen Wörter einbaut.):

Look in thy glass and tell the face thou viewest

Now is the time that face should form another;

Whose fresh repair if now thou not renewest,

Thou dost beguile the world, unbless some mother.

For where is she so fair whose uneared womb

Disdains the tillage of thy husbandry?

Or who is he so fond will be the tomb

Of his self-love, to stop posterity?

Ich mache mich noch auf die Suche nach den von dir erwähnten „klassischen Sonettregeln“ welche als Reimschema im Quartett abba verlangen würden. Bisher habe ich noch nie solches angetroffen.(Auch hier tanzt Shakespeare wieder deutlich aus der Reihe, siehe oben.)

Wo ich dir leider überhaupt nicht folgen kann: Wenn du von Auftakten sprichst.
Entweder wir betrachten die Zeile rein verstechnisch, dann gibt es Trochäen, Iamben usw. usw. Solche haben keinen Auftakt. Ihre erste Silbe ist schwer oder leicht, lang oder kurz, klingend oder mit wenig Klang (z.B. „ist“, „schätzt“), und betont oder unbetont. Betonung aber lässt sich variieren. Muss variiert werden. Darf aber nicht sinnwidrig variiert werden. Sonst wird statt Lyrik Geleier draus. Eine besondere Form stellt im Deutschen der Iambus dar, weil das Deutsche eine Riesen Menge von trochäischen und daktylischen Wörtern kennt. Da geschieht es schnell, dass man die erste, schwächliche Silbe einer iambischen Zeile als „Auftakt“ versteht. In anderen Sprachen, welche sich der lateinischen Tradition verpflichtet fühlen, fällt die erste Silbe im iambischen Vers weniger schnell diesem Missverständnis zum Opfer (vgl. z.B. oben Shakespeare: „Thou dost beguile“ oder „Look in thy glass“! Was sagts du dazu als Englischlehrer?)
Oder man betrachtet es rein von der Musik her. Dann haben wir vielleicht neben einem spürbaren Metrum einen spürbaren Takt. Und der beginnt normalerweise auf den „Schlag“, also auf der „ Eins“, und die wäre auf der zweiten Silbe, da nachher eine unbetonte und eine nächste betonte folgen. Dem ersten „Schlag“ im iambischen Vers ginge also ein Auftakt voran. So ein Auftakt kann aber durchaus aus mehreren oder einem langen Ton bestehen. Auch da würde ein „Look / in thy glass“ oder ein „Thou / dost beguile“ nicht auffallen.
Wie immer man das nun aber betrachtet: In meinen Augen geht es nicht an, rhythmisch varaintenreich, aber gut (oder halbwegs gut) gesetzte Musik oder Lyrik zu „verbessern“, indem man draus einen Radetzky- oder anderen Marsch macht. Da bist du mMn völlig auf dem Holzweg und mit dir wahrscheinlich etliche Literaten.

edit:
dein "auftakt-problem" in s1 und s2 wäre eines, wenn es um musik ginge und die zeilenanfänge musiklinienanfänge wären. dann stünden takten mit auftakt solche ohne auftakt gegenüber.
wenn man es verstechnisch betrachtet, gibt es iambische und trochäische zeilen. (was in einem sonett sehr, sehr ungern gesehen wird!)
was es nicht gibt: betonte und unbetonte auftakte.


Noch etwas: Von "undifferenzierte Stellen" ist einem Hoobbydichter wie mir tatsächlich abzuraten, da bin ich deiner Meinung. Ob sie nun am Zeilenanfang (den du Auftakt nennst) oder sonstwo stehen. Besonders wenn er sich den "Luxus" leistet, ein Versmaß zu "zertrümmern" wie hier. Im Versmaß drin und von berufener Hand geht das aber sehr wohl, als Beispiel kann auch hier mMn das zitierte Shakespeare-Stück dienen.
Ich möchte als kleine Rechtfertigung meiner selbst aber anführen, dass ich eigentlich in meinem bescheidenen Text keine "undifferenzierten Stellen" sehe. Ich finde sie Betonungsmäßig, wenn auch vielleicht verwirrend, eindeutig, einschließlich der Stellen mit Hebungsprall nach dem "Kaum".


Kleinschreibung mag heute noch eine „Manie“ sein. In zwanzig Jahren werden wir mit der deutschen Rechtschreibung nicht mehr groß von der Anfangsbuchstabenhabung anderer Sprachen abweichen, dessen bin ich mir sicher. Aber meinen Text oben kann ich, wenn ihn jemand lesen will, ohne Skrupel mit Versalien versehen. (Leider kommen aber die Zeiten, wo Mönche die wunderschönen Anfangs-Versalien noch meisterhaft ausgemalt haben, nicht wieder. denke ich.) Ein bisschen froh bin ich, dass du mir versicherst, ich stünde nicht im Verdacht, mit der Kleinschreibung vom lyrischen Mängeln ablenken zu wollen.)

Lieber Erich Kykal
Du hast in deinen Kommentar unheimlich viel Stoff und Mühe investiert. Ich danke sehr dafür. Es kann sein, dass ich eine wichtige Bemerkung von dir übersehen habe. Ich bitte, das zu verzeihen und Rückmeldung zu machen.
Schön, dass nun deine Sicht als (natürlich unvollkommene, durch die Vorgabe eingeengte) von dir korrigierte Version meines Textes neben meinem zu sehen ist. Das schauen sich die eiligen Leser bestimmt gerne an. Wie du aus meiner Antwort gemerkt hast, ist sie für mich nicht übernehmbar.

Uff! Gute Nacht!
wolo

Geändert von wolo von thurland (04.01.2016 um 07:48 Uhr) Grund: edit (s.o.)
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