Thema: Potzblitz!
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Alt 06.01.2016, 13:10   #9
wolo von thurland
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Hallo charis

Ich kannte dieses Rilke-Ding nicht.
Es gefällt mir sehr. Die selbstverliebte Nabelschau tritt hinter der Lust am Gestalten zurück.
Sicher könnte ein geschmeidiger Dichter auch diese Verse in ein metrisch dahinklapperndes, gereimtes Gedicht verandeln, ohne dass es peinlich würde.
Aber ich bin schon schwer beeidnruckt davon, wie Rilke mit Hilfe von Variation des Daktylus und der Kadenzen, der Laute, der Zeilenlänge, eine Dramaturgie schafft, die so selbstverständlich, so leicht scheint, dass man beim ersten Lesen gar nicht nachdenken muss, einfach die Musik sehen und im Kopf hören kann.

Dieser Text widerspricht in meinen Augen keinen von meinen Aussagen (gut, ich erinnere mich nicht an jeden Senf, den ich von mir gebe), sondern bestätigt mich eigentlich nur. Falls du das anders siehst, würde ich gerne deine Sicht erfahren.

Ich empfinde die Sprachmeldie an einzelnen Stellen allerdings anders als du. Das ist m.E. wichtig, weil meine Sicht vielleicht deutlicher die daktylische Grundstruktur zeigt und daher auch deutlicher die bewussten Abweichungen davon.
Der Daktylus dominiert wohl, weil es um wehende Fahnen und grosse Stürme und wogendes Meer geht .Etwas gar abgedroschen vielleicht schon damals, die Metapher vom wogenden Meer und vom Stum für die brodelnden Innereien des Dichters... Aber gute Kunst ist einfache Kunst, das gilt von Goethe über Rilke bis Brecht und weiter.

Nun aber mal meine Abweichungen von deinen Markierungen (grün) und Rilkes Abweichungen vom Daktylus (unterstrichen):

Ich bin wie eine Fahne von Fernen umgeben.
Ich ahne die Winde, die kommen, und muss sie leben,
während die Dinge unten sich noch nicht rühren:
die Türen schließen noch sanft, und in den Kaminen ist Stille;
die Fenster zittern noch nicht, und der Staub ist noch schwer.

Da weiß ich die Stürme schon und bin erregt wie das Meer.
Und breite mich aus und falle in mich hinein
und werfe mich ab und bin ganz allein
in dem großen Sturm.

Wir haben also einen zum Thema Daktylus passenden mit 8 „auftaktigen“ Zeilen (Ein „Auftakt“ kann auch zwei Silben umfassen, genau wie er in der Musik auch zwei oder mehr Noten umfassen kann).

Die eine Z3 ohne Auftakt leitet über zum Blick auf die Dinge, die nicht wogen, auf die Stille, auf den schwer liegenden Staub, welchem das Aufgewühlt Werden erst bevor steht. Damit könnte man ihre Akzent setzende Ausnahmestellung rechtfertigen, vergleichbar einem dreieckigen Warnschild auf der Strasse. Ausserdem schliesst sie an eine weibliche Kadenz in Z2 an, d.h. der Übergang ins Stille-Bild geschieht nahtlos. Würde hier nochmals eine zweiten, durch Zeilenschaltung abgesonderten unbetonten Silbe folgen, müsste man diesen Gegensatz mehr in Gedanken vollziehen, so aber wird er durch die Gestaltung hervorgehoben. Eigentlich ein Muss für einen wirklich guten Dichter wie Rilke.

In Z4 und 7 weicht Rilke in meinen Augen im Zusammenhang mit der dort bestehenden Mittecäsur, welche nur schon deshalb richtig ist, weil sie den dominierenden Rhythmus variiert, eine andere Tönung der Farbe erreicht, aber auch syntaktisch vollkommen normal ist (siehe oben: gute Kunst ist einfache Kunst). Dass Rilke diese Cäsuren durch Verkürzung der Senkung abfedert, wirkt wie der Syntax geschuldet, ist aber gleichzeitig ein raffinierter Trick, um die Cäsur nicht den Melodiefluss unterbrechen zu lassen, die kleine Pause soll keine grosse werden.

Die übrigen Abweichungen vom Daktylus kann man als Rhythmisierung der Phrasen (=sich um ein (oder mehrere parallele Verben drehende Wortgruppen; auch Sätze oder Teilsätze genannt) in der Sprache, zusammenhängende Melodiegrundbausteine in der Musik, möglicherweise auch Zeilen in der Lyrik) und damit des Ganzen verstehen oder als Betonung wichtiger Stellen (die z.B. im wogenden Meer harte Akzente setzen wie „ganz allein“ oder „grossen Sturm“. Gut auch beides, je nach Stelle.
Besonders erwähnenswert ist auch hier wieder die abgesetzte Z6, welche ein Auf udn Ab von Trochäus und Iambus auf uns loslässt, welches bestens die Erregung des Meeres wie des Dichter symbolisiert.

Bezüglich der Zeilenlänge fällt auf, dass sie zunimmt, wenn die Welle sich aus dem ruhigen Meer erhebt.
Und abnimmt, wenn diese Welle wieder fällt.
Anfangs „von Fernen umgeben, sich noch nicht rührend“.
Zu maximal 6 Hebungen in Z4 und, nach einer „Zwischenzeile Z5“ auch in Z6 (mit der Strophen-Cäsur vorher, aber reimend an die Z5 anschliesend, genial!).
Und schliesslich zu 2 Hebungen in der Schlusszeile und Inhalt, welche durch Alliteration und auch als inahltlicher Gegensatz mit der überlangen „Stille“-Zeile Z4 korrespondiert (schlicht genial!)

Reimlos? Alles andere als das! Wenn Rilke hier das Reimen sein lässt zugunsten der Alliteration von Sturm und Stille, dann kann man sich sehr wohl „seinen Reim drauf machen“, weil es Sinn macht, und zwar so viel, dass es kaum rein intuitivem Schaffen entspringen kann. Ansonsten muss ich meiner Intuition mal beine machen!

Noch zum Wechsel der Kadenz:
Am Gipfel der Dramaturgie, wo die Welle sich überschlägt, wo der Dichter im schwer liegende Staub schon den Hurrikan ahnt, wo er „in sich hinein fällt“, wo er „ganz allein im grossen Sturm“ ist, da kommen die harten, männlichen Kadenzen und lösen die ruhigen, weiblichen ab.
Und was tut der raffinierteb Kerl noch zusätzlich, um uns das schlaffe Segel um die Ohren zu schlagen? Er pointiert das Schlagen des nassen Segels nicht durch eine weitere, uns ins Stocken bringende Zdeile ohen Auftakt, sondern durch einen zweimaligen Phrasen- und Zeilenanfang mit dem anderswo zu Recht verpönten „und“, ehe die letzte Zeile mit einem echten Auftakt auf den „grossen Sturm„ hin zuläuft, der keine neue Phrase bildet, sondern Teil der am Ende von Z8 angefangenen ist.
Und logischerweise bleibt die Z9 eine Halbzeile, denn dieser Sturm findet innerlich statt und wir können ihn uns nur denken.

Wenn du Erich Kykal und mich verfolgst, dann wirst du logischerweise nicht sehen können, was rhythmische Phrasiereung oder all dieses Gerede beinhaltet, denn wir können Rilke höchstens bewundern, seine Technik (oder seine „Intuition“) packen wir nicht. Naja, EKy vielleicht, das musst du selber erforschen.

Wo ist der Wert dieser grossartigen Kunst Rilkes? Müsste ein Dichter nicht Themen beackern, die tiefer gehen, breiter angelegt sind als diese weinerliche Nabelschau hier?
Zumindest ist es erwiesen, dass die Frauen Rilke zu Füssen lagen. Für mich wäre das schon mal ein erstrebenswetrer Wert von Kunst.
Und er gab mir Gelegenheit zu einem Versuch, dir zu erklären, was einer der Hintergründe für das Gezänk um Forengedichte ist.
Und es gibt mir einen Stoss, noch mehr als das halbe Dutzend Rilkegedichte zu lesen, welchen ich bisher begegnet bin.

Danke und Gruss
wolo

Geändert von wolo von thurland (06.01.2016 um 13:20 Uhr)
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