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Alt 11.06.2016, 20:08   #1
Erich Kykal
TENEBRAE
 
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Hi, Jongleur!

Poesie als Weltflucht? Bei manchen viellecht, aber ich möchte es eher als Welt- oder Selbstreflexion sehen: Wir Dichter verarbeiten, was uns bewegt, mit gereimten oder ungereimten Worten, und je nach Färbung des Charakters und/oder des bisherigen Erfahrungshintergrundes sowie des lyrischen Talents entstehen dann eben mehr oder weniger wertige Ergebnisse, sowohl was die Sprachhabung als auch was die inhaltliche Aufarbeitung betrifft. Der gravierende Unterschied zu anderen ist, dass wir diese Worte nicht nur denken, sondern aufschreiben und öffentlich machen. Dabei ist es die Form, die uns vom gemeinen Erzähler, Prediger oder Demagogen unterscheidet. Gerade diese Form ermöglicht es unserem Publikum auch, bei aller Emotionalität und Bewunderung der Sprache intellektuelle Distanz bezüglich der Inhalte zu gewinnen.

Lyrik, die politisch/moralisch manipulieren will, gibt es auch (siehe patriotische oder religiöse Liedtexte oder Aufrufe, Hymnentexte, kritische Texte, Schmalzdrücker oder emotionale Lyrik, die mit Negativbeispielen etwas erreichen will).
Nun, dem Menschen, der schreibt, kann man Sendungsbewusstsein nicht absprechen oder ihn dafür verdammen, aber zweierlei sollte dabei wohl bedacht werden: WOFÜR man sich stark macht, bzw. WOVON man andere überzeugen will - und auf welche ART UND WEISE dies geschieht! Da wird es leicht allzu pathetisch, tränendrüsendrückerisch oder einseitig wertend, da wird mit Gefühlen und niederen Instinkten gspielt, Unüberprüftes behauptet, usw... - die Liedtexte der hypersensiblen Supergutmenschen sowie die der Neonazimetalbands sprechen da ganze Bände für jeden psychoanalytisch nicht Unbeleckten ...

Aber die Zeit ist ein hervorragender Filter: Welche Lyrik überdauert sie länger? - Es ist jene, die authentisch ist, wo der Dichter ganz bei sich war und nichts weiter wollte, als die richtigen Worte zu finden, ohne weiter zu werten! All die pathetischen Aufrufe für eine Moral, einen Kaiser, ein Vaterland oder einen Gott ... sie verlieren sich mit der Verschiebung der Konflikte, dem Fortschreiten der Geschichte - denn wofür sie geschrieben wurden, ist grundsätzlich (und meist auch glücklicherweise) kurzlebiger als die Sprache, in der sie dafür verfasst wurden.

LG, eKy
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Weis heiter zieht diese Elend Erle Ute - aber Liebe allein lässt sie wachsen.
Wer Gebete spricht, glaubt an Götter - wer aber Gedichte schreibt, glaubt an Menschen!
Ein HAIKU ist ein Medium für alle, die mit langen Sätzen überfordert sind.
Dummheit und Demut befreunden sich selten.

Die Verbrennung von Vordenkern findet auf dem Gescheiterhaufen statt.
Hybris ist ein Symptom der eigenen Begrenztheit.
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