Einzelnen Beitrag anzeigen
Alt 12.06.2016, 12:44   #2
Jongleur
Hallig-Dichter
 
Registriert seit: 05.05.2016
Ort: Großstadt
Beiträge: 63
Standard

Hallo Erich,

Zitat:
Poesie als Weltflucht? Bei manchen viellecht, aber ich möchte es eher als Welt- oder Selbstreflexion sehen: Wir Dichter verarbeiten, was uns bewegt...dabei ist der gravierende Unterschied zu anderen, dass wir diese Worte nicht nur denken, sondern sie aufschreiben und öffentlich machen.
Lieber Erich, da bin ich etwas anderer Meinung: Poesie definiert der Duden neben "stimmungsvoll" auch als "Zauber". Zaubern bedeutet für mich, die Sinne der Zuschauer zu verwirren, damit der Trick gelingt. Die Trickkiste des Autors sind die Stilmittel, mit deren Hilfe er seine profanen Gedanken verstärkt, eindringlicher macht. Und DAS verlangt viel Übung.

Zitat:
Dabei ist es die Form, die uns vom gemeinen Erzähler, Prediger oder Demagogen unterscheidet.
Auch hier widerspreche ich. Etwas bitter lächelnd. Unsere heutigen Stilmittel sind noch immer die der Alten Griechen. Und die veranschaulichten die Wirkung überzeugender Rhethorik gern an berühmten Reden.
Eine gute Rede unterscheidet sich für mich nicht prinzipiell von einem Gedicht. Sie kann lyrische Verse enthalten oder - zum Beispiel als Einwand in einer Debatte benutzt - sogar reines Gedicht sein.
Priester, Demagogen oder Dichter unterscheidet mMn lediglich die jeweilige Mission. Während die einen sich für Gott oder das Volk ins Zeug legen, tut das der Dichter für sein Seelenheil.

Zitat:
Gerade diese Form ermöglicht es unserem Publikum auch, bei aller Emotionalität und Bewunderung der Sprache intellektuelle Distanz bezüglich der Inhalte zu gewinnen.
Der Poet sucht mit bewegenden Worten die Gefühle seiner Leser ... und schafft so intellektuelle Distanz zum Inhalt???

Das mag ein ja Dichter bestenfalls über sein Werk denken. Für mich dient jegliche Sprache lediglich der Kommunikation und der Sprechende verfolgt eigennützige Absichten. Dabei mag es seine Absicht sein, einen intellektuellen Abstand zu den Inhalten seiner Rivalen herzustellen. Aber wohl kaum zu den eigenen Inhalten.

Viele bewegenden Gedichte artikulieren einen inneren Zwiespalt. Aber enden sie wirklich unentschieden?

Betrachten wir das mal den Schluss deines Gedichtes:
Zitat:
Ach je, wir kühlen
aneinander ab auf viele Arten!
Das klingt für mich nicht zerrissen. Das klingt eher erleichtert, abgeklärt.

Und wie erreichst du das? Mir fällt zunächst das "wir" auf. Plötzlich sitzen alle Bösen in einem Boot: die wirklichen und die vermeintlichen. Begleitet von deinem Seufzer "Ach je" und der irgendwie ja auch beruhigenden Feststellung, dass sich ja ALLE aneinander abkühlen. Das klingt für mich ähnlich intellektuell distanziert wie: "Ach je, und am Ende müssen wir alle sterben".

Für mich findet der Autor im Gedicht nicht zu den bewegenden Worten, die er im begleitendem Kommentar fand, als er sich ungeschützt als "sozialen Krüppel" bezeichnete.
Automatisch fiel mir die "Krüppelbewegung" ein. Und die verstörenden Aktionen ihres bekanntesten Vertreters Franz Christoph, der unter anderem Bundespräsident Karstens öffentlich mit seinen Krücken schlug, um einen Gerichtsprozess zu bewirken, in dem er das verlogene Mitgefühl der Gesellschaft mit den wirklichen Leben von Krüppeln konfrontieren wollte. Leider verzichtete Karstens auf eine Anzeige....

Zitat:
Welche Lyrik überdauert sie länger? - Es ist jene, die authentisch ist, wo der Dichter ganz bei sich war und nichts weiter wollte, als die richtigen Worte zu finden, ohne weiter zu werten! All die pathetischen Aufrufe für eine Moral, einen Kaiser, ein Vaterland oder einen Gott ... sie verlieren sich mit der Verschiebung der Konflikte, dem Fortschreiten der Geschichte - denn wofür sie geschrieben wurden, ist grundsätzlich (und meist auch glücklicherweise) kurzlebiger als die Sprache, in der sie dafür verfasst wurden.
Ja! ...
Jongleur ist offline   Mit Zitat antworten