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Alt 01.01.2017, 04:48   #3
Angelika
Erfahrener Eiland-Dichter
 
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Lieber Erich, du bemängelst meine Stilistik, und aus deiner Sicht hast du natürlich recht, wenn du die Glätte des Ausdrucks bevorzugst und jede persönlichen Äußerung des Autors ausgemerzt wünschst. Aber heutzutage lebt ein Gedicht nicht von der geglätteten Schönheit, sondern davon, dass der Leser merkt: Hier spricht einer wie ich, er spricht mich an. Das "heutzutage" ist wichtig, Erich. Da stehen wir wohl auf zwei verschiedenen Seiten der stilistischen Barrikade.

Ich will dir das mal an einem Beispiel zeigen. Ich hatte geschrieben:

Erworbenes verlor an Wert und Glänzen.
So manches Mal hörst du im Rücken Lachen.

Du korrigierst:

Zutiefst Erworbenes verlor sein Glänzen,
so manches Mal hörst du im Rücken Lachen.

Ich denke, das "zutiefst" gehört in die Kategorie Schwulst, denn wie kann man etwas "zutiefst" erwerben? Man erwirbt es oder erwirbt es nicht. Und ich habe ganz bewusst einen Punkt hinter "Glänzen" gesetzt. Dadurch vermeide ich den Zusammenhang mit dem Lachen hinter dem Rücken, denn dieses Lachen wird vermutlich nicht auf das "zutiefst Erworbene" zurückzuführen sein, sondern auf den abgelebten Stolz auf das "zutiefst Erworbene". Du aber stellst durch das Komma einen Zusammenhang her. Das ist eine inhaltliche Veränderung, und davor sollte man sich als Rezensist bzw. Kritiker hüten. Und das ist eben eine Standpunktfrage. Und da bin ich genau bei deinen eigenen Gedichten. Ich fand sie immer sehr gekonnt, wunderte mich aber immer, warum sie mich nicht ansprechen. Bis ich dahinter kam, dass du jedes Wörtchen, das mir als Leserin den Dichter "öffnen" würde, durch Ausweichen in "Schönheit" vermeidest und dadurch dem Gedicht eine gewisse Sterilität gibst. Was du als Poet sagen willst, befindet sich bei dir hinter einem Vorhang chemisch gereinigter Worte und Wörter und machen sie gewollt oder ungewollt zu einem Muster vergangener Lyrik, die der Gegenwart rein formal kaum noch etwas zu sagen hat.
Ich habe mich öfter mal gefragt, warum so schwülstig, lieber Erich? Es geht doch auch ganz anders, wie man an vielen guten Beispielen modernen gereimten Gedichts sehen kann.

Dass ich mit dieser Einschätzung nicht daneben tippe, beweist doch deine vermutliche Abneigung oder Unkenntnis des freien Verses, mit dem du nach eigener Aussage eigentlich nichts anzufangen weißt. Ich komme vom freien Vers und habe mir das gereimte Gedicht erst später zu Gemüte geführt, und zwar mit allen Schikanen, technisch sowohl als auch inhaltlich. Und da liegt wohl der Punkt deines Missvergnügens beim Lesen meiner Gedichte, denn sie baden nicht in Schönheit, sondern in Klarheit des Gedankens und des Ausdrucks, will ich jedenfalls annehmen.

Ich bin ja nun schon ein älteres Kaliber und mit der Neo-Avantgarde habe ich auch nichts im Sinn, ist vielleicht falsch, aber ich habe da nur "Avantgarde" hinsichtlich des Formalen gefunden, nicht aber des Inhaltlichen, was erst Avantgarde überhaupt ausmacht, und so weiß ich, dass diese "Avantgarde" irgendwo im Wüstensand der Lyrik verschwinden wird. Und nun glaube nicht, dass ich vielleicht dieses Gedicht auf dich gemünzt hätte. Nein, so etwas liegt mir fern, mich interessieren bestimmte gesellschaftlich-psychologische Vorgänge an sich, und das, glaube ich jedenfalls, habe ich ausgedrückt. Nichtsdestotrotz freue ich mich immer, wenn du als der "Sonett-Papst" deinen geneigten Blick auch mal auf meine Versuche richtest, den Ausdruck des freien Verses ins gereimte Gedicht zu bringen.

Heute ist der 1. Januar 2017, es ist noch nicht 6:00 Uhr, und da wünsche ich dir, lieber Erich, Gesundheit und weitere Schaffensfreude. Überzeugen kann ich dich nicht, bleib, wie du bist, ich habe nur mal meine Gedanken zu diesem Thema in diese paar Zeilen gefasst, und hoffe, du nimmst sie mir nicht allzu übel.

Liebe Grüße
Angelika
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