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Alt 02.01.2017, 15:43   #8
Erich Kykal
TENEBRAE
 
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Dazu nur noch diese kleine Anmerkung: Rilke starb 1926 - da war Hitler noch lang nicht an der Macht, ja noch nicht einmal öffentlich einigermaßen bekannt. Rilke schrieb einer Idealfigur, die er sich erträumte. Vorwerfen kann man ihm bestenfalls, dass er nicht ausreichend recherchierte.
Du hast es selbst gesagt: Er war ein Kind seiner Zeit, und jede Veränderung erschien ihm besser und potentiell verbessernder als die nach dem ersten WK herrschenden Zustände, von denen jeder ehrliche und aufrechte Mensch sich abgestoßen fühlen musste.
Wer nicht in jenen Zeiten gelebt hat, sollte mit Pauschalurteilen vorsichtig sein. Denk dran, dass die Nazis überhaupt erst an die Macht kommen konnten, weil so viele, die sie sonst nie gewählt hätten, von den damaligen Zuständen angewidert waren: gallopierende Inflation, Armut und Hunger, Korruption und Dünkel der Beamtenschaft und Regierungsorgane, der ungerechte "Schandfriede", die "verordnete" Weimarer Republik, die sich in endlosen Grabenkämpfen erging, weil man Demokratie noch nie geübt hatte, anstatt etwas Sinnvolles gegen die Zustände zu unternehmen.
In Österreich ging es ganz ähnlich zu, geprägt von Obrigkeitsdenken und Militarismus! Rilke sah in Mussolini und Hitler Menschen, die berufen waren, das Schicksal der Nationen zum Besseren zu wenden. Er war idealistisch und naiv, weiter nichts.
Und selbst wenn er in seinen letzten Jahren ein "Arschloch" gewesen wäre - was hat das mit seinem früheren Selbst zu tun, als er all die - eigentlich die meisten seiner - wunderbaren Gedichte schrieb? Wir ändern uns ein ganzes Leben lang ständig - 10 Jahre weiter sind wir eigentlich fast komplett andere, bloß wir merken es nicht, weil der Prozess so langsam abläuft, und weil wir das, was wir gerade sind, trotz besseren Wissens für das Ich halten, das wir im Grunde immer schon waren. Weit gefehlt!
Ich werde mich nicht von Rilke oder seinem Werk abwenden bloß wegen einiger verfehlter Briefe, oder weil Teile seines Charakters vielleicht nicht so waren, wie ich mir eine idealisierte Figur vorstelle. Um derlei glauben und so leichtfertig urteilen und verdammen zu können, bin ich selbst viel zu sehr Arschloch!

LG, eKy

PS: Von wegen der "alten Sprache": Ich bin damit aufgewachsen. Mein Vater, Deutsch-, Englisch- und Französischprofessor, zog mich in akzentfreiem lyrischem Hochdeutsch auf. Dass es Dialekt gibt (und das in Österreich!), lernte ich erst im Kindergarten!
Ich erinnere mich noch, wie eine Bekannte mir mal erzählte, wie befremdet sie damals gewesen war, wenn sie zu Besuch kam und der Fünfjährige beim Spaziergang wie folgt anhub zu sprechen: "Vater, bedecke mich, mir ist kühl am Kopfe!", wenn er sein Häubchen aufgesetzt haben wollte.

Danach wuchs ich mehr mit Hörspielen und Märchen-LPs auf als mit Fernseher, die meine Sprache noch weiter "antiquierten". Mit 16 konnte ich den halben Faust I auswendig aufsagen, weil ich ihn monatelang auf Schallplatte rauf und runter gehört hatte (Erich Ponto als Mephisto). Mein erster Kontakt mit echter Lyrik aber war, als ich 12 war, Rilke's Panther, der damals noch fixer Bestandteil des österreichischen Schullesebuchs war (heute findet man dort keine Lyrik mehr ...). Ich weinte um das gefangene, gebrochene Tier! Kein anderer Dichter konnte mich je so erreichen wie dieser. Selbst heute genügen ein paar Seiten Rilke, und mir stehen die Tränen wieder in den Augen, allein schon durch die Magie seiner Sprache.
Rilke hat das Größte gezeigt, wozu unsere Sprache fähig ist. Wie kann man so etwas "modernisieren" und "ernüchtern" wollen!?
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Weis heiter zieht diese Elend Erle Ute - aber Liebe allein lässt sie wachsen.
Wer Gebete spricht, glaubt an Götter - wer aber Gedichte schreibt, glaubt an Menschen!
Ein HAIKU ist ein Medium für alle, die mit langen Sätzen überfordert sind.
Dummheit und Demut befreunden sich selten.

Die Verbrennung von Vordenkern findet auf dem Gescheiterhaufen statt.
Hybris ist ein Symptom der eigenen Begrenztheit.

Geändert von Erich Kykal (03.01.2017 um 08:07 Uhr)
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