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Alt 29.04.2010, 06:59   #16
Pedro
Erfahrener Eiland-Dichter
 
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24

Es wird langsam dunkel, als ich nach Coliumo zurück komme. Bei Don Marcelo brennt Licht. Ich klopfe an die Tür, er öffnet. Ich schaue ihn an und sage: „Claudia Palma.“
Er sagt: „Bitte kommen Sie herein.“
Er scheint nicht erstaunt über meinen Besuch zu sein.
„Setzen Sie sich bitte.“
Wir sitzen uns gegenüber, er hat eine Flasche Wein aufgemacht und gießt uns ein. In einer Ecke hängt ein Familienbild, er, seine Frau und sein Sohn Victor, der auf dem Foto etwa zehn Jahre alt ist. Sie umarmen sich gegenseitig, die Frau sieht ihn an, so wie man jemanden ansieht, den man sehr lieb hat.
Er sieht, dass ich das Bild anschaue.
„ Ja, sagt er dann, „das war einmal. Ein Augenblick kann das Leben ändern.
Jetzt lebe ich hier allein, meine Frau habe ich seit damals nie wieder gesehen, meinen Sohn sehe ich kaum. Im Januar war er vierzehn Tage hier, länger hat er es mit mir wohl nicht ausgehalten. Er weiß nicht, warum meine Frau sich von mir getrennt hat, hat mich nie gefragt, lebt bei ihr und kommt sehr selten vorbei.“
Er nimmt einen großen Schluck aus seinem Glas und schüttelt den Kopf. „Wie das alles gekommen ist, kann ich bis heute nicht fassen. Ich habe alles verloren, was für mich einen Wert hatte, mir ist es egal, wenn Sie mich jetzt anzeigen werden.“
Mit einer Hand streichelt er über ein Sofakissen, sehr zärtlich, als wenn es sich um eine Person handeln würde.
„ Wenn man dafür bezahlen kann, was ich getan habe, habe ich bezahlt. Die Claudia war damals sechzehn, hat bei uns geputzt, meine Frau brachte meinen Sohn zu einer Geburtstagsfeier. Und ich saß damals auf dem Sofa, war nicht mehr ganz nüchtern und sah der Claudia zu. Sechzig Jahre alt war ich damals, ein alter Bock, der scharf auf ein junges attraktives Mädchen war, das meine Tochter hätte sein können.
Ich sagte zu ihr, dass sie sich einen Moment neben mich setzen sollte, ich müsse etwas mit ihr besprechen. Die Claudia hat zunächst gar nicht gemerkt, was da in mir ablief, erst als ich sie umarmt habe, hat sie angefangen sich zu wehren, aber da war es schon zu spät für sie. Ich habe sie auf das Sofa gedrückt und mich auf sie geworfen. Und dann ist es passiert und meine Frau kam herein.
Sie hat nichts gesagt, hat die Claudia nach Hause gebracht, ihre Sachen gepackt und ist mit unserem Sohn weggefahren. Was sie zu Claudias Mutter gesagt hat, weiß ich nicht.
Ich war völlig verzweifelt, wusste nicht, was mit mir passiert war.
Ich habe dann versucht, wieder gut zu machen, was nicht wieder gut zu machen war.
Dem Gymnasium, auf das Claudia ging, habe ich eine großzügige Geldspende gemacht und dafür gesorgt, dass die Claudia es kostenlos besuchen konnte, das Gleiche habe ich später für die Universität getan, an der Claudia „Krankenschwester“ studierte, später dafür gesorgt, dass sie in einer Klinik angestellt wurde. Ihrer Mutter habe ich eine Arbeitsstelle bei Bekannten besorgt und ihren Lohn aufgebessert. Weder Claudia noch ihre Mutter haben von alldem gewusst, sie hätten meine Hilfe wohl auch nicht angenommen. Warum Claudias Mutter mich nicht angezeigt hat, weiß ich bis heute noch nicht. Und jetzt ist Claudia tot!“

Inzwischen haben wir beide die Flasche Wein leer getrunken, ich schaue den Mann an. Er ist kaputt.
Er hat mich nicht gefragt, woher ich von der Vergewaltigung weiß. Wahrscheinlich nimmt er an, dass mir Claudia davon erzählt hat.

Ich stehe auf und gehe zur Tür.
„Bitte zeigen Sie mich erst morgen an. Ich müsste noch etwas erledigen“, sagt er zu mir.
„Ich werde Sie nicht anzeigen“, sage ich zu ihm und gehe hinaus.
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>Die Kritiker nehmen eine Kartoffel, schneiden sie zurecht, bis sie die Form einer Birne hat, dann beißen sie hinein und sagen: „Schmeckt gar nicht wie Birne.“< (Max Frisch)
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