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Alt 27.04.2010, 16:19   #15
Pedro
Erfahrener Eiland-Dichter
 
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22

Ich stehe an der Bushaltestelle in Tomé. Was für ein Verkehr hier herrscht, die Autos rasen vorbei, am Straßenrand ein Gedränge, jeder will zuerst über die Straße. Ich werde von hinten gestoßen, falle fast auf die Straße, kann gerade noch zurück springen, fast hätte mich ein Lastwagen überfahren.

Ich sitze im Bus und fahre nach Viňa. Direkt von Tomé aus, neun Stunden dauert die Fahrt. Hier wohnen Freunde von mir, ein chilenisches Ehepaar, Hardy und Jaqueline. Sie lebten vier Jahre lang im selben Ort in Deutschland wie ich. Er hat da seinen Doktor in Philosophie gemacht. Wir waren sehr befreundet, ich habe viel von ihm gelernt.
Ein Luxus – Bus ist das, Liegesitze, klimatisiert und Fernsehen. Wir kommen nach Chillán, ich steige aus, rauche eine Zigarette. Nach zehn Minuten geht es weiter. Ich schlafe ein.

Ich sehe Claudia im Gras liegen, sie schreit und wehrt sich, zwei Männer fallen über sie her. Ich sehe die Männer nur von hinten, kann sie nicht erkennen, aber eine bayrische Trachtenjacke trägt keiner von ihnen.
Ich will Claudia helfen, kann mich nicht bewegen. Sie hört auf, sich zu wehren, schaut zu meiner Terrasse hinauf.

Mein Busnachbar fragt mich, ob mir übel sei, ob es mir nicht gut gehe, ich hätte furchtbar gestöhnt.
Ich fühle mich völlig kaputt, schwitze, obwohl der Bus klimatisiert ist. Ich sage zu meinem Nachbarn, dass ich schlecht geträumt hätte, ein furchtbarer Alptraum, an den ich mich aber nicht erinnern könne.
Ich denke darüber nach, was El Pato erzählt hat. Der Victor hat ihm also berichtet, wie die Tat abgelaufen ist. Einige Sachverhalte erscheinen mir jetzt merkwürdig. Der Victor hat gesagt, dass die Claudia sich zunächst angezogen hätte, bei der Leiche wurde keine Schuhe gefunden, dass die Claudia seinen Vater beschuldigt hätte, sie vergewaltigt zu haben, dass sie ihn und die beiden anzeigen würde.
Warum hat Victor seinen Vater verraten?
Warum hat die Claudia sich wieder angezogen, ihre Schuhe aber nicht? Sie wollte die Täter anzeigen und ist dann plötzlich von den Felsen gesprungen?
Warum hat Campana gesagt, dass El Pato ein schlechter Mensch sei?
Woher hat Juan gewusst, dass einer der Täter nicht aus dem Viertel war?
Seltsam erscheint mir auch, dass El Pato nicht sofort bereit war, die Sache aufzuklären, gemeint hat, dass das aussichtslos sei.
Rubén hat geglaubt, dass El Pato seinem Onkel in Coliumo beim Fischen geholfen hat, möglicher Weise in der Zeit, als die Sache mit Claudia passiert ist. Er wäre dann in Coliumo gewesen.
El Pato hat abgestritten, dass er in Coliumo war, gesagt, dass er bei einem Onkel in Viña gewesen sei, Eisenwarenhandlung Gomez. Ich werde diese Eisenwarenhandlung suchen und versuchen herauszukriegen, ob El Pato wirklich da war.
Ich lese ein bisschen, schlafe immer wieder ein. Um 19.00 Uhr kommen wir in Viña an, steigen aus, suchen unser Gepäck, und ich sehe den Mann aus dem Elendsviertel wieder. Er saß wohl hinten im Bus.

Hardy holt mich vom Busbahnhof ab, wir essen zusammen, trinken Rotwein und reden über Philosophie und Literatur. Morgen werden wir nach Olmué fahren, da haben die Eltern von Jaqueline ein Landhaus.
Sie ist ein Einzelkind, einzige Tochter. Ihr Vater scheint einen Haufen Geld zu haben. Er besitzt ein Apartment in Miami, kam für eine einzige Nacht nach Deutschland gereist. Er hat ihr ein großes Auto geschenkt.

Am nächsten Vormittag setzt mich Hardy im Zentrum ab, ich habe gesagt, dass ich nach einem Geschenk für meine Frau suchen werde.
Im Telefonbuch suche ich die Adresse der Eisenwarenhandlung Gomez heraus.
Mit einem Taxi fahre hin, finde einen ziemlich kleinen Laden vor.
Ein älterer Mann steht hinter dem Ladentisch, ich frage ihn, ob El Pato da sei.
„ El Pato“, sagt er, der ist nicht da, er war aber im Februar hier und hat mir bei der Arbeit geholfen.“
Über die Antwort bin ich erstaunt, ich erfahre etwas, wonach ich gar nicht gefragt hatte. Es ist fast so, als wenn der Mann auf meine Frage vorbereitet war.
Ich schaue mich um, hier gibt es fast alles. Wasserleitungsrohre liegen in einer Ecke, Werkzeuge hängen an der Wand. Ich überlege, was ich den Mann noch fragen kann.
Das Telefon klingelt irgendwo im Hinterzimmer. Der Mann bittet mich, einen Moment zu warten und verlässt den Laden.
Eine Frau kommt aus dem Hinterzimmer, wahrscheinlich die Frau des Mannes, mit dem ich gerade gesprochen habe. Etwa sechzig Jahre ist sie alt, ihre dunklen Haare hat sie hinter dem Kopf zu einem Dutt gebunden, fast so, wie sie meine Großmutter immer hatte.
„Kennen Sie El Pato“, frage ich sie.
„Ja, natürlich, dass ist der Sohn einer Schwester meines Mannes. Aber den habe ich schon viele Jahre nicht gesehen.“
Ich verlasse schnell den Laden, gehe die Straße hinunter, setzte mich in ein kleines Restaurant und bestelle einen Kaffee.
Hardy holt mich dann ab, ich habe ihn angerufen. Wir fahren aufs Land. Das Haus hat ein Schwimmbad, das Wetter ist großartig, aber ich kann das alles nicht richtig genießen.
Hardy fragt mich, warum ich so viel nachdenke, über einen Krimi sage ich, den ich gerade schreibe.








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Das hat nicht geklappt, Ernesto hat sich zu blöd angestellt, aber der Deutsche hat nichts gemerkt.
Der ist doch tatsächlich nach Viňa gefahren und hat gefragt, ob ich im Februar da war. Gut, dass ich Ernesto zu meinem Onkel geschickt habe und der auf die Frage vorbereitet war. Ernesto hat ihm erzählt, dass ich verdächtigt werde, eine Bank im Februar mit anderen zusammen überfallen zu haben, hat ihm gesagt, dass da sicherlich irgendein Geheimpolizist bei ihm vorbei kommen wird. Er soll sagen, dass ich im Februar bei ihm war.
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>Die Kritiker nehmen eine Kartoffel, schneiden sie zurecht, bis sie die Form einer Birne hat, dann beißen sie hinein und sagen: „Schmeckt gar nicht wie Birne.“< (Max Frisch)

Geändert von Pedro (28.04.2010 um 03:35 Uhr)
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