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Alt 09.05.2010, 03:21   #18
Pedro
Erfahrener Eiland-Dichter
 
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26

Habe heute Morgen einen Teil vom Kies auf die Gartenwege verteilt. Ihn zu bekommen war mit Theater verbunden.
Ich bestellte ihn in Tomé, versprochen wurde, ihn am Nachmittag zu liefern. Er kam erst nach drei Tagen, nachdem ich reklamiert hatte, nachgefragt hatte, ob die Firma bereit sei, einen Teil der Arbeitslöhne derer zu übernehmen, die auf die Anlieferung warteten und deren Löhne ich bezahlen müsse.
Ich gehe den Berg hinunter, komme ans Meer. Direkt am Strand stehen Hütten, in denen die Ärmeren wohnen. Einfach dahin gebaut, teilweise recht schief, Schwemmholz wurde verwendet. Alles wurde in der Farbe angestrichen, die gerade verfügbar und billig war.
Irgendwann wird eine Welle kommen und alles wegspülen. Die Menschen da wissen das, haben aber kein eigenes Land, auf dem sie ihre Hütten bauen könnten.
Etwas abseits steht eine kleinere Hütte, die Farbe hat der Regen abgewaschen, hier wohnte Claudia.
Ich klopfe an die Tür, höre nach längerer Wartezeit schlurfende Schritte. Eine Frau macht die Tür einen Spalt auf, erkennt mich dann und lässt mich herein.
Claudias Mutter, sie ist in diesem Jahr sehr viel älter geworden. Sie schaut mich an und schüttelt den Kopf, ihre Haare hängen ihr ins Gesicht. Ihre Augen fallen auf, sie sind blau, genauso blau wie Claudia sie hatte.
Küche und Wohnzimmer sind ein Raum, alles sehr sauber. Auf dem Herd stehen Töpfe. Am Tisch ist nur ein Stuhl. Sie geht in einen Nebenraum und holt einen weiteren. Wir setzen uns an den Tisch.
„Möchten Sie einen Kaffee?“ fragt sie, nachdem sie mich längere Zeit angesehen hat.
„Ja, gerne.“
Sie steht wieder auf, bringt eine kleine Dose Nescafé an den Tisch, Milch und Zucker, gießt heißes Wasser in zwei Tassen.
Ich rühre in dem Kaffee herum, als wenn es da etwas gäbe, was sich nicht auflösen würde. Ich versuche Zeit zu überbrücken. Mir fehlen die Worte, ich weiß nicht, wie ich anfangen soll, was ich sagen soll. Vielleicht hätte ich gar nicht herkommen sollen.
„ Werden Sie wieder bis Ende Februar hier bleiben ?“fragt sie.
„Ja, in Deutschland ist es jetzt sehr kalt.“
Sie schaut mich an, steht vom Stuhl auf , geht ans Fenster und schaut längere Zeit hinaus. Dann dreht sie sich zu mir um.
„Claudia hat viel von Ihnen erzählt, fast kenne ich Sie.“
Ich schaue die Bilder an, die an den Wänden hängen. Bilder von berühmten Malern, aus Zeitungen herausgerissen.
In einer Ecke klebt ein Zeitungsausschnitt an der Wand. Von meinem Stuhl aus kann ich die fett gedruckte Überschrift lesen:
Junge Frau nimmt sich das Leben, nachdem sie vergewaltigt wurde.
Ich frage mich, warum hat ihre Mutter das aufgehängt, als Hilfe zur Erinnerung braucht sie das wohl nicht.
Frau Palma hat meinen Blick verfolgt.
„Ja, das ist jetzt auch schon wieder ein Jahr her, aber mir ist es, als wenn es gestern gewesen wäre“, sagt sie und streicht ihre Schürze glatt, „ ich glaube nicht, dass sie sich umgebracht hat. Sie hätte mich niemals alleine gelassen.“
Ich weiß immer noch nicht, was ich sagen soll, wie ich die Frau trösten könnte. Sie merkt, dass ich aufstehen und gehen will.
„Bitte bleiben Sie noch ein bisschen hier“, sagt sie, „es tut mir gut, wenn ich mit jemanden sprechen kann, der Claudia gekannt hat.“
Ich bleibe sitzen und schaue auf den Tisch. Die Frau legt immer wieder den Kaffeelöffel von einer Seite auf die andere, rückt die Zuckerdose hin und her.
„Ja, die Claudia hatte es nie leicht. Alles fing an, als sie etwa 14 Jahre alt war. Ich habe sie auf das Gymnasium nach Tomé geschickt, sie sollte es einmal besser als ich haben. Aber da hat sie sich nicht wohl gefühlt. Mit Jungen wollte sie keine Kontakte haben, konnte wohl auch keine normale Beziehung zu männlichen Jugendlichen aufbauen. Als sie vierzehn war, hat sie ihr Vater vergewaltigt. Ich hätte ihn fast umgebracht. Er ist dann weggegangen. Mit sechzehn hat sie ein Nachbar vergewaltigt, wir haben ihn nicht angezeigt, nie mit anderen darüber geredet, hatten Angst, dass man uns nicht glauben würde, der Claudia die Schuld geben würde.
Sie war einfach zu schön. Die Leute haben gesagt, dass sie wohl glaube, etwas Besseres zu sein, eingebildet und arrogant sei. Dabei hat sie nur Angst gehabt. Ich glaube, dass sie nie freiwillig mit einem Mann geschlafen hat, schlafen konnte.“
Mir wird jetzt so manches klar, „Schlaf bitte mit mir, alter Mann“, hat Claudia gesagt. Sie hatte noch nie freiwillig mit einem Mann geschlafen und wollte wissen, wie das ist.
Und „zwei Mal hat mir Gott nicht geholfen“, hat sie gesagt. Jetzt sind es drei Mal.
„Und so hat auch alles aufgehört. Ich glaube, dass die Nachbarn wissen, wer sie vergewaltigt hat, dass sie meinen, die Claudia sei schließlich selbst an allem schuld“, sagt Frau Palma.
Fast ohne Unterbrechung hat Frau Palma ihre Anklagen und ihren Kummer herausgestoßen. Sie schaut mich jetzt verzweifelt an.
„Sie waren der erste Mann, mit dem sie eine Beziehung begonnen hat, den sie als Freund gesehen hat. Hat sie mit Ihnen geschlafen?“
Ich zögere meine Antwort hinaus. Wird sie es verstehen, wenn ich ihr erkläre, dass ich im Normalfall alle Möglichkeiten und meine Erfahrungen benutzt hätte, um mit so einer Frau ins Bett zu kommen? Wird sie mich nicht für einen alten geilen Bock halten, der die Gelegenheit ausgenutzt hat, mit einer jungen, attraktiven Frau Geschlechtsverkehr zu haben? Wird sie mir glauben, dass alles ganz anders war? Dass Claudia zu mir gesagt hat: „Ich möchte jetzt mit dir schlafen?“
„Ja, ich habe ein Mal mit ihr geschlafen. Sie hat es gewollt“, sage ich dann.
„Ich glaube Ihnen.“ Sie rührt in ihrer Kaffeetasse herum.
„Glauben Sie an Gott?“ fragt sie mich.
Das Gleiche hat mich Claudia einmal gefragt.
„Nein“, sage ich, „ich bin Atheist“!
„Ich glaube, Claudia hat an Gott geglaubt, darum ist sie auch immer wieder zur Jungfrau gegangen.
Ich habe auch einmal an Gott geglaubt“.
„Und jetzt?“
„Jetzt nicht mehr!“ sagt sie leise.
„Ihre Tochter hat mich als arm bezeichnet, weil ich nicht an Gott glaube, da hast du ja keinen, der dich trösten kann, hat sie gesagt.“
„Mich hat kein Gott getröstet, mich tröstet kein Gott, mir hilft kein Gott und Claudia hat auch kein Gott geholfen!“
Ich stehe auf, gehe zur Tür. Sie begleitet mich. Ich nehme sie in den Arm, sie weint und meine Augen sind feucht.
„Danke, dass Sie die Mörder gefunden haben,“ sagt sie, „aber das hilft jetzt auch nichts mehr.“
Ich wundere mich, dass sie weiß, dass ich die Täter gesucht habe.
Ich hatte sie vor Claudias Tod nur einmal gesehen, sie sieht anders aus, ist hagerer, ihr Gesicht hat sich versteinert. Da ist wohl nie mehr ein Lachen darin, nicht einmal die Spur eines Lächelns.

Und dann sehe ich wieder diese typische Bewegung. Genau wie Claudia zieht sie die Schultern hoch, lächelt mühsam, als wollte sie sagen: „Da kann man nichts machen“.
Ihr Blick streift mich wie der Wind das Gras.
Sie steht einfach nur da, der traurigste Mensch, den ich je gesehen habe.
Ich sehe sie an und denke, ja, eigentlich kann man nichts machen.
Ich gehe aus dem Haus und drehe mich nicht mehr um.



27

Ich stehe auf dem Flugplatz, alleine. Ich sagte ja schon, dass ich Abschiede hasse. Ich gehe zum Flugschalter, um einzuchecken. Ausgang 4, 10.30 Uhr.
Ich laufe in Richtung Ausgang. Da steht einer, der auch in diesem Jahr viel älter geworden ist: Rubén.
Er umarmt mich. Wir sagen beide nichts.



Ende
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>Die Kritiker nehmen eine Kartoffel, schneiden sie zurecht, bis sie die Form einer Birne hat, dann beißen sie hinein und sagen: „Schmeckt gar nicht wie Birne.“< (Max Frisch)
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