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Alt 02.01.2017, 06:50   #5
Angelika
Erfahrener Eiland-Dichter
 
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Beiträge: 180
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Lieber Erich, hier geht es um Literatur, und ich will jeden Anklang an Persönliches in meiner Antwort vermeiden, verstehe mich also nicht falsch. Ich liebe die Literatur wahrscheinlich genauso wie du und habe mir Vorlieben für bestimmte Dichter oder Werke genauso wie du angeeignet.

Was Rilke angeht, so hat er mit seinen Ergebenheitserklärungen an Mussolini seine eigenen Texte so sehr beschädigt, dass sie für mich unlesbar geworden sind, denn der Mensch ist das Werk genauso, wie das Werk der Mensch ist.
Über seine Affinität zum italienischen Faschismus wird heute verständlicherweise geschwiegen. Die Rilke-Manie will ich dir nicht ankreiden, da bist du nicht der einzige, das zeigt mir aber, dass du gesellschaftliche Gegebenheiten vom Dichter trennen kannst, ich kann es nicht. Und das zeigt außerdem, dass ich nicht falsch erkannt habe: Deine lyrischen Bestrebungen und Sehnsüchte beziehen sich auf eine Vergangenheit, die im Nebel der Geschichte zu Recht versunken ist. Rilke war ein Kind seiner Zeit, genauso wie wir beide Kinder unserer Zeit sind.

Das "zutiefst": Ich habe nichts dagegen, nur kann ich deiner Argumentation nicht folgen. Ich setze bei allem, was der Mensch erwirbt, voraus, dass er dies mit Wissenseifer und heißem Herzen tut, um dein Wort zu gebrauchen: zutiefst. Sonst erwirbt man es nämlich nicht, sondern trägt den Dr. phil. als Orden für erduldete Leiden. Das ist nun aber Illusion, du weißt, wer und auf welchem Wege so manch einen Dr. phil. erworben hat, entstanden ist oftmals ein Beamter der Philosophie. Solche Füllsel versuche ich weitestgehend zu vermeiden, die Substantive nicht zu schmücken, sondern sie selbst undekoriert sprechen zu lassen. Das ist eine unterschiedliche Herangehensweise an den sprachlichen Ausdruck. Ich beklage an deinen Gedichten, dass sie mich vor lauter Bemühung um Perfektion emotional nicht ansprechen. Deine Inhalte gefallen mir, nicht alle, aber oft, ich habe aber beim Lesen immer das Gefühl, die Ausführung gehört in eine verflossene Zeit, sie geht mich nichts mehr an.

Worte, "die dir entfließen". Da wird es für mich leicht kriminell, um es mal so auszudrücken. Worte und Wörter entstehen im Kopf, da entfließt nichts. Denn jedes Gedicht ist eben auch Handwerk, dies vor allem. Da steckt für mich so ein kleines Geniedenken hinter. Nein, Erich, Genies sind wir hier alle nicht, wir sind schlichte Gedichtemacher. Ja, natürlich, meiner Ansicht nach hast du dich vorwiegend mit der lyrischen Literatur des 19. Jahrhunderts beschäftigt, das ist nicht anstößig, man muss sie kennen, aber man sollte nicht versuchen, nun auch selber "wie Rilke" etc. zu schreiben. Das ist Epigonentum, und du weißt, welchen Stellenwert es in der Literaturgeschichte einnimmt. Wir sind lyrische Laien, Erich. Natürlich hat jeder von uns irgendein Idol, dem er versucht nahezukommen, aber zum Glück bist du nicht Fan von Klopstocks Oden geworden.

Etwas, was entscheidend für das Gelingen eines Gedichtes, ist: Die Form ist nur das Gefäß, in das die dichterische Wahrheit eingebettet ist. Kurz gesagt: Inhalt vor Form, die du "Stimmung" nennst. Du spezialisierst dich sehr auf die Form, während das Inhaltliche ab und an, wie ich festgestellt habe, für dich etwas zweitrangig wird, um eine bestimmte Formulierung anbringen zu können. Es ist allerdings egal, auf welchem Wege ein Gedicht entsteht, entscheidend ist das Ergebnis. Dass du aber am Formalen klebst, das ist für mich unübersehbar. Vielleicht ist diese Formulierung zu hart, zu eindeutig für dich, entschuldige. Das Problem dabei ist aber: Erst, wenn beide auf gleicher Höhe sind, Inhalt und Form, erst dann entsteht das wirklich gute Gedicht. Und das ist ja unser aller Ziel, das wirklich gute Gedicht zu schreiben bzw. schreiben zu können.

Was du an meinen Gedichten als linkisch empfindest, ist das Bemühen, die Lyrik aus den genieverklärten Wolken wieder auf die Erde zurückzuholen. Ich versuche so zu schreiben, dass mich ein an Gedichten Interessierter verstehen kann, eben die heutige Sprache lyrisch zu formen. Da ist eine Menge Umgangssprache dabei, die ich bewusst einsetze. Mit "humpelnder Attitüde" hat das nichts zu tun. Die ist sogar nicht immer logisch, aber sie hat hoffentlich den Pfiff, den man braucht, um den Leser anzusprechen. Was nicht heißt, dass ich nun in den Niederungen der Umgangssprache suhlen will, sondern ich will den schmalen Grat zwischen Hochsprache und Umgangssprache erreichen. Vielleicht gelingt mir das nicht immer, und wenn du eine Formulierung weißt, die treffender ist, bin ich dir sehr dankbar. Was aber nun die Stimmung angeht, so bin ich sicher, dass auch meine Gedichte eine Stimmung haben, aber es ist eben die Stimmung von heute. Sie ist nicht immer "lyrisch", mitunter oft sogar antilyrisch, sie ist realitätsgebunden, aber so fühlen und denken Menschen heute, und die sind ja die heutigen Leser.

Nun ist das doch länger geworden, als ich dachte, entschuldige bitte, Erich. Wir stehen eben, wie ich schon schrieb, auf zwei verschiedenen lyrischen Barrikaden. Und dagegen können wir beide wohl nichts tun. Ich hoffe, du nimmst mir manch eine vielleicht überspitzte Formulierung nicht allzu übel.

Liebe Grüße
Angelika
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