Thema: Reflexion
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Alt 18.08.2011, 21:55   #2
Falderwald
Lyrische Emotion
 
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Moin Stimme,

erst mal vorweg will ich dir sagen, daß es dir durchaus gelungen ist, denn Text um 180° exakt zu verdrehen, aber eben nur um die horizontale Achse.
Ich gehe davon aus, daß du an eine Spiegelung gedacht hast, wozu dann noch die gleichzeitige vertikale Drehung gehört hätte.
Bedingt durch deinen Nachsatz gehen wir aber im Folgenden von einer Spiegelung aus, ähnlich der Spiegelung eines Berges in einem vor uns liegenden See.

Kommen wir zum Inhalt, der ja ein philosophisches Thema anspricht.

Wir haben hier ein LyrIch und ein LyrDu.
Auf den ersten Blick erscheint es, als sei das LyrIch bei der Betrachtung seines Spiegelbilds in einen Monolog mit demselben getreteten.
Doch halt, womöglich will die Autorin uns aufs Glatteis führen, der Titel spricht von einer Reflexion, die physikalisch zwar eine Spiegelung sein kann, aber philosophisch auch das prüfende und vergleichende Nachdenken, besonders über eigene Handlungen, Gefühle und Gedanken.
Ein Besinnen, ein Nachdenken also, was ja nun doch wieder das Spiegelbild nicht ausschließt, zumal der Text selbst ja auch gespiegelt (s.o.) wird.
Doch ich bleibe skeptisch, denn die erste Zeile "Du bist nicht ich und ich bin nicht du." leitet den Text ein, so daß ich davon ausgehen sollte, daß es sich u. U. doch um zwei gänzlich verschiedene Individuen handelt, von denen eines eine These aufstellt.
Nun, dies schließt das Spiegelbild wieder nicht aus, so daß mir wohl nichts anderes übrigbleibt, als mich dem Thema von zwei Betrachtungsweisen aus zu nähern.

Variante 1

Das LyrIch ist das vernunftbegabte Subjekt und übermittelt seine Reflexionen an ein Objekt, welches sich seinen sinnlichen Wahrnehmungen und Vorstellungen erschließt, hier: ein anderes vernunftbegabtes Individuum.
Ich, das Objekt und als Empfänger dieser Überlegungen und nun selbst Subjekt, nehme diese Aussage auf. Wir sitzen und gegenüber und ich antworte Zeile für Zeile:

Zitat:
Du bist nicht ich und ich bin nicht du.
Ich bin ich und du bist du. Somit kann ich nicht du und du kannst nicht ich sein.
Es schließt sich aus.
Zitat:
Dennoch, wir sehen uns.
Wir befinden uns im Bereich der Sensibilität unserer Sinne. Ich sehe dich. Wenn du mich auch siehst, dann sehen wir uns. Das schließt sich ein.
Zitat:
Kenne ich dich, dann kennst du auch mich.
Ich habe meine eigene subjektive Vorstellung von dir als Objekt und das gilt auch umgekehrt, weshalb ich diese Aussage nur aus der daraus entstehenden negativen Schlussfolgerung heraus bejahen könnte: Weil ich dich nicht kenne, sondern nur meine Vorstellung von dir, so kannst du mich auch nicht kennen.
Es ist nicht schlüssig, denn es schließt nicht aus, daß du mich besser kennst, als ich dich oder umgekehrt oder wir beide wissen mehr, als wir voneinander annehmen, es bleibt eine Glaubensfrage.
Zitat:
Ich bin dein Du und du bist mein Ich.
Nein. Du bist zwar mein Du, aber Ich bin nicht dein Ich, sondern Ich bin dein Du. Auch wenn ich als dein Objekt von mir als "Ich" spreche.
Zitat:
Du bist dein Ich und ich bin mein Du.
Das bezweifle ich. Ich bin mein Ich, doch Du bist nicht dein Du, Du bist mein Du. Und trotzdem wird es stimmig, wenn... (s.u.)
Zitat:
Dennoch, wir sehen nicht.
Wir sehen nur unsere Vorstellung voneinander.
Zitat:
Kenne ich dich?
Kannst Du mein Ich kennen?
Zitat:
Kennst du denn mich?
Kann Ich denn dein Ich kennen?
Zitat:
Kennen wir uns?
Ich kenne mein Du von dir aus meiner Vorstellung und du kennst dein Du von mir aus deiner.
Wir kennen uns nicht, denn dein Ich und mein Du von dir sind zwei völlig verschiedene Wesen.
Ich bin mir nicht mal sicher, ob Du nicht nur in meiner Vorstellung existierst.


Variante 2

Das LyrIch ist das vernunftbegabte Subjekt und übermittelt seine Reflexionen an ein Objekt, welches sich seinen sinnlichen Wahrnehmungen und Vorstellungen erschließt, hier: sein Spiegelbild, selbst eine Reflexion.
Da ein Spiegelbild nicht antworten kann, gebe ich als ein die Szene betrachtender Geist und Subjekt nun meinen Kommentar zu den Reflexionen der von mir beobachteten Objekte LyrIch und LyrDu.

Zitat:
Du bist nicht ich und ich bin nicht du.
Das stimmt. Ich sehe ein Objekt und sein Spiegelbild.
Zitat:
Dennoch, wir sehen uns.
Ich gehe davon aus, daß das Objekt sein Spiegelbild sieht, aber umgekehrt?
Es sei denn, man betrachtet das Zurückwerfen von elektromagnetischen Wellen, in diesem Falle das Licht, als "sehen".
Zitat:
Kenne ich dich, dann kennst du auch mich.
Das Objekt schaut in einen Spiegel und kennt somit sein Spiegelbild. Umgekehrt ist das Spiegelbild ein virtuelles Abbild des Objekts. Also ist diese Aussage, auf die Äußerlichkeiten bezogen, wahr.
Zitat:
Ich bin dein Du und du bist mein Ich.
Auf die Spiegelung bezogen stimmt das, es wäre wirklich spiegelverkehrt.
Zitat:
Du bist dein Ich und ich bin mein Du.
Das wäre im Falle einer Spiegelung der Umkehrschluss.
Zitat:
Dennoch, wir sehen nicht.
Auch diese Aussage aus dem Munde des Objektes "Ich" ist wahr, denn es selbst sieht, sein Spiegelbild "Du", unser gemeinsames Objekt seiner virtuellen Abbildung. Das aber sieht nicht, zumindest nicht im eigentlichen Sinne (s.o.).
Zitat:
Kenne ich dich?
Das Ich kennt sein Spiegelbild, davon ist auszugehen.
Zitat:
Kennst du denn mich?
Das Du bildet, zwar spiegelverkehrt, doch ansonsten ein Originalbild des Ich.
In diesem Sinne ist das Du kein eigenständiges Individuum, aber es kennt das Ich besser, als das Ich sich selbst, was sich ja nur mit Hilfe der Spiegelung selbst sehen kann, was natürlich wieder nur auf das Äußere bezogen ist.
Zitat:
Kennen wir uns?
Da das Du vom Ich abhängig ist, also das virtuelle Spiegelbild meines Objektes nur durch mein beobachtetes Objekt selbst bedingt wird, stehen beide in Wechselwirkung miteinander.
Äußerlich kennen Sie sich also.

Fazit:

Irgendwie fühle ich mich jetzt selbst horizontal und vertikal gedreht, also gespiegelt, aber ich könnte mir vorstellen, die ein oder andere Intention dieses Textes entschlüsselt zu haben.
Er ist, wie dargelegt, auf zwei Ebenen interpretierbar, wobei beide allerdings nicht ganz widerspruchsfrei ausgehen.
Auf jeden Fall ist er durchdacht und in sich, auch durch den gesamten Aufbau, eine in sich geschlossene Spiegelung.
Zum Teil in den einzelnen Versen selbst, wie auch untereinander.
Vielleicht ist es auch die Reflexion einer Reflexion.
Wer weiß das schon zu sagen?


Gerne gelesen, darüber nachgedacht und kommentiert...


Liebe Grüße

Bis bald

Falderwald
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Oh, dass ich große Laster säh', Verbrechen, blutig kolossal, nur diese satte Tugend nicht und zahlungsfähige Moral. (Heinrich Heine)



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