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Alt 11.10.2011, 12:12   #2
Stimme der Zeit
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Hallo, Sanssouci,

bevor jemand "unkt": Ja, es ist kein "klassisches" Sonett, aber ich betrachte es als Sonett, nur, damit es keine Missverständnisse gibt.

Der Paarreim passt hervorragend zum Inhalt, denn hier läuft die Zeit "so- und andersherum". Ein sehr aktuelles Thema, dargestellt in einem aktuellen Sonett.

Zitat:
Es drängelte Zeit sich durchs Tagstundenglas.
Sie rann so dahin und der Zeitmensch vergaß
nach Durchlauf des Sandes die Uhr umzudrehen,
versäumte den Zeitpunkt, gehetzt, aus Versehen.
Für mich beschreiben diese Verse sehr deutlich den vorherrschenden "Zeitgeist". Schnell, schnell, die Zeit drängt, alles muss "laufen"! So wird durch das Leben "gehetzt", jede Stunde geplant, und dabei vergessen, dass der "Sand" irgendwann durchgelaufen ist. Und dann? Das "Tagstundenglas" wurde nicht "rechtzeitig umgedreht", in all der Eile wurde das völlig vergessen.
Zitat: Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben ...

Zitat:
Das Missgeschick wollte er schnell korrigieren,
so wertvolle Zeit nicht noch einmal verlieren.
Drum stellte er flugs nun sein Stundenglas um.
Zeit zwängte erneut sich, nur anders herum,
Das LI macht sich also daran, flugs das Glas "umzustellen" - hier fällt mir auf, dass nicht die Rede vom "Umdrehen" ist. Umstellen bedeutet, so denke ich, dass ein "neuer Anlauf" genommen wird. Was "so herum" nicht klappte, funktioniert sicher "anders herum".
Jedes Versagen wird in der "Leistungsgesellschaft" nun mal als "Verlust von Zeit und Energie" betrachtet. Die "Zeit drängt", der Erfolg wartet ...

Zitat:
wie rückwärts gewandt, was erstaunlich war. Und:
Die Uhr stoppte plötzlich, zu eng war ihr Schlund
dem Sandkörnchen, welches sich quergelegt.
Irgendwie scheint es aber "schief zu laufen", es funktioniert nicht wie gewollt/geplant. Statt "vorwärts" geht es "rückwärts". Erstaunlich, denn so sollte es doch nicht sein? Dann "stoppt" plötzlich, ganz unerwartet, die Uhr: Da hat sich ein Sandkörnchen quergelegt. Nichts geht mehr ...

Zitat:
Gleich hielt alles an. Stillstand. Unbewegt,
gelähmt, eingeschlafen, gebremst, eingefror’n:
Das Leben, die Zeit – durch ein winziges Korn.
Ein einziges Körnchen, und alles (das Leben, das "Vorwärtskommen") bewegt sich nicht mehr. Lähmung tritt ein, das Dasein ist wie "eingefroren", selbst die Zeit scheint still zu stehen. Ein "winziges Korn" (ein winziges Ereignis), und "alles hält an".

Das klingt für mich wie die Beschreibung eines heute sehr häufig auftretenden Problems unserer modernen, gehetzten, erfolgsorientierten Leistungsgesellschaft, in der es immer an Zeit "mangelt": Einem "Burnout". Dann geht nämlich gar nichts mehr.

Wie viele Menschen "brennen" heutzutage "aus", in all dem hektischen Getriebe unserer modernen Zeit? Alles muss "rechtzeitig" und schnellstens erledigt werden, wer gönnt sich schon Ruhe? Jedes Sandkorn "zählt" ...

Der daktylische, vierhebige Rhythmus (mit Auftakt) gerät genau zwischen den beiden Terzetten, als das "quergelegte Sandkörnchen" den "Stillstand" verursacht, aus dem "Takt". Das führt bis zu "eingeschlafen" (das kann ich aber, mit etwas "zurechtbiegen" der Betonung, auch dakylisch lesen, selbst wenn es "nicht korrekt" ist), danach geht es wieder fehlerlos weiter. Da der Rhythmus aber ansonsten (bis auf eine Stelle, zu der ich noch komme) einwandfrei eingehalten wird, sehe ich darin bewusste Absicht. Es passt sehr gut zum Inhalt!

Die kleine Stelle, die ich ansonsten bemerkte:

Zitat:
Zeit zwängte erneut sich, nur anders herum,
xXxxXxxXxxX

"Zeit" unbetont ... hm. Also ich glaube, auch das dient der Aussage. Macht sich die Zeit "klein", um sich durch den "engen Schlund des Stundenglases" hindurch zwängen zu können? Ich denke, ja, auch das entspricht für mich zu genau dem Inhalt, um ein Fehler zu sein.

Deshalb auch mein Kompliment dafür, das hier ist ein sehr gelungenes Werk, in allen "Bereichen", formal und inhaltlich. Ein dickes Lob!

Sehr gerne gelesen und kommentiert.

Liebe Grüße

Stimme
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