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Alt 04.09.2011, 10:58   #7
Falderwald
Lyrische Emotion
 
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Moin Stimme,

ich kopiere mal dein erstes Sonett hier hin, damit auch klar wird, wovon wir hier reden:

Zitat:
Retrospektive Aktualität


Der Mensch, das ist ein sonderbares Wesen:
Er meint nicht, was er sagt, er sagt nicht, was
er meint und sucht in vino veritas.
Das können wir bei Plinius schon lesen.

Am liebsten möchte er beim Saufen sterben,
als Sarg, ach ja, ein großes, volles Fass;
so bliebe er für alle Zeiten nass,
um einst elysisch Bacchus zu beerben.

Am Kiosk, jeden Morgen in der Frühe,
wird heimlich Wodka oder Gin geschluckt.
Sein Alltagstrott verschwimmt, ganz ohne Mühe,

es ist ganz einfach, einfach wegzulaufen.
Zu Hause bleiben Frau und Kind geduckt –
er würde sie bedenkenlos verkaufen.
Rückblickende Gegenwärtigkeit?

Die Menschen sind schon seltsam, ja manchmal könnte man sogar meinen, sie seien alle Autisten, denn wie sollten sie auch ihre Vorstellungen von dieser Welt dem Nächsten anschaulich nahe bringen.
Sie flüchten sich dabei in ihre eigene Welt und denjenigen, welchen dies nicht so einfach möglich ist, steht dafür ein legaler Verstärker zur Verfügung, der in diesem Fall der Wein, stellvertretend für den Alkohol, ist.
Und so sagte schon Plinius der Ältere: "In vino veritas".
Im Rückblick hat sein überliefertes Zitat an Aktualität nichts eingebüßt, weil es ja auf mehreren Ebenen interpretierbar ist.
Zum einen besitzt der Alkohol eine enthemmende Wirkung. Unter seiner Wirkung sind schon viele Dinge gesagt worden, die zwar Wahrheitsgehalt besaßen, aber vielleicht besser unausgesprochen geblieben wären.
Zum anderen suchen eben wirklich viele Erleichterung im Alkohol, weil sie glauben, damit ihre Leiden zu verringern und machen dies zu ihrer Wahrheit.
Letztendlich wird das zu einer ständigen Einrichtung, weil es eben ziemlich schnell geht, seinen Intellekt mit Alkohol so zu betäuben, so daß die objektive Welt an Schwere verliert.

Im zweiten Quartett ist Zynismus pur zu erkennen. Gefällt mir und ich möchte es deshalb so stehen lassen und nicht zerreden.

Es ist oft zu sehen, daß viele Menschen mit ihrem Leben einfach nicht (mehr) zurecht kommen. Sie können es und auch sich selbst nicht mehr ertragen und flüchten deshalb in die Scheinwelt des Alkohols.
Die schlimmen Fälle beginnen bereits am frühen Morgen und müssen im Laufe des Tages ihren Pegel immer auf einem bestimmten Level halten.
Das beherrscht ihr Leben, sie verändern sich und sie laufen weg, so wie es im Text beschrieben steht.
Sie laufen von der Welt weg und von sich selbst, obwohl sie etwas suchen, was sie nie finden werden, weil sie gar nicht wissen, was sie da suchen.

Die Welt und ihre Objektivität bleiben dahinter zurück, so daß all jene, die in ihrem direkten Umfeld leben, die Leidtragenden sind.
Das ist ein Teufelskeis, der niemals endet, denn von demjenigen, der in Abhängigkeit vom Alkohol lebt, sind oftmals wieder andere Schicksale abhängig.
Das kann nicht gut gehen und so sind oft Kinder und Partner die Leidtragenden.

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Die von dir beobachteten Dinge kann ich nur bestätigen.
Ich habe eine Weile eine Lottoannahmestelle betrieben und der Absatz von Spirituosen in kleinen Flaschen war tatsächlich in den Morgenstunden am Größten.
Dann war ich lange Jahre Taxiunternehmer. Was ich da, sowohl auf den Tag- als auch auf den Nachtschichten erlebte, spottet jeder Beschreibung.
In meinem Text "Taximenschenspiel" steht dazu einiges. Und selbstverständlich war dort Kollege Alkohol einer der Hauptprotagonisten, obwohl er nicht namentlich erwähnt wird, weil das Thema eigentlich ein anderes war.

Gegen den gemäßigten Verzehr von Alkohol ist sicherlich nichts einzuwenden.
Er kann anregend und entspannend sein und auch zu einer guten Stimmung verhelfen. Außerdem schmeckt z. B. Wein auch sehr gut.
Ich selbst habe aber schon vor 20 Jahren dem Alkohol abgeschworen.
Zum einen weil ich befürchtete, damit nicht umgehen zu können, zum anderen weil ich Angst um das Wertvollste hatte, was mir die Natur mitgab: Mein Gehirn.
Heute verwende ich Alkohol nur noch zum Kochen oder aber ich nasche schon mal gefüllte Pralinen oder gieße ein wenig Eierlikör über das Schokoladeneis.
Aber niemals verwende ich ihn, um mich zu berauschen.
Und in solchen Dingen bin ich ziemlich konsequent.

Fazit:

Den Einstand in den Sonett(en)kranz, den ich schon vorher lesen durfte, mit diesem Text halte ich für gelungen.

Er hat mir gefallen, weil er ein immer aktuelles Thema beinhaltet.
Sozusagen eine Retrospektive Aktualität...


Gerne gelesen und kommentiert...


Liebe Grüße

Bis bald

Falderwald
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Oh, dass ich große Laster säh', Verbrechen, blutig kolossal, nur diese satte Tugend nicht und zahlungsfähige Moral. (Heinrich Heine)



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