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Alt 04.01.2012, 09:44   #2
Stimme der Zeit
Erfahrener Eiland-Dichter
 
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Hallo, wolo,

das ist eines deiner ernsthaften, tiefsinnigen Gedichte. Ich beginne zuerst mit den formalen Aspekten, da sie hier (wie ich finde) durch ihre "Wirkung" besonders "eng" mit dem Inhalt verbunden sind.

Strophe 1 weist ausschließlich männliche Kadenzen auf, Strophe 2 dagegen weibliche. In beiden jedoch alternieren im Kreuzreim sechs- und fünfhebig jambische Verse. Der "Rhythmus" funktioniert, wenn ich konsequent "ohne Zäsuren" lese, also innerhalb der Verse keine "Pausen" mache. Das ist keine Kritik, nur eine Anmerkung.

Es ist wirklich so, dass ich immer wieder bei einem deiner Gedichte "lande", ich muss auch einmal sagen, warum. Ich sitze da, lese, und dann staune ich immer wieder: Unglaublich, was wolo immer für Ideen hat! Mal ganz im Ernst: Du besitzt ein wirklich hohes Maß an Kreativität. Kerzen, ein Laternchen mit Batterien und ein Neologismus wie "schockschwerenötig". Aus diesem einen Wort kann ich mehrere Bedeutungen herauslesen:

Schock - schwer - nötig, Schock - Schwerenot: Schwerenot war eine alte Bezeichnung für Fallsucht (Epilepsie), sehr tiefsinnig. Schwerer Schock - nötig, Schock - schwerenötig (sehr interessant, dass auch "Schwerenöter" enthalten ist). Verbinde ich Letzeres mit "fasst den dieb!", dann ergibt sich für mich wieder eine Bedeutung. Stahl also der "metaphorisch-reale Bruder Leichtfuß" (ich würde das so sehen), der "Jetztzeit" das "Licht"? Übertragen auf die "Gesellschaft", für eine Geisteshaltung? Darin lese ich auch eine "Leichtfertigkeit". Das ist natürlich nur meine Interpretation. Und nicht zuletzt, ist "Schockschwerenot" ein bekannter "Ausruf des Schreckens".

Um näher auf den Inhalt einzugehen:

Zitat:
umarmend legt sich weihnachtsfreude auf die stadt,
die sich das licht der sterne einverleibt.
in hohlen kinderhänden flackern kerzen matt,
ein leichtes opfer für den wind der zeit.
Ich bringe auch dieser "Umarmung" keine sonderlich "positiven Gefühle" entgegen. Eine Weihnachtsfreude, die sich "das Licht der Sterne einverleibt", spricht für mich deutlich davon, dass die vielen, bunten Weihnachtslichter mit ihrem "unechten" Licht dafür sorgen, dass das "Licht der Sterne" (Positives, Hoffnung, echte "Umarmung") davon "verschlungen" wird - der Glanz der "Festbeleuchtungen" - Blendwerk. In den Kindern (wunderbar dargestellt: die Symbolik der Kinderhände) "leuchtet" das Licht der Sterne noch, aber ja, sie sind "kleine Kerzen", die, wenn sie heranwachsen, zu einem "leichten Opfer für den Wind der Zeit" werden ...

Zitat:
doch ein laternchen leuchtet sichtbar hell und stetig.
ein wunder? nein, es brennt mit batterien.
so mit der zeit zu gehen ist schockschwerenötig.
wer hat da eben: „fasst den dieb!“ geschrien?
Offenbar brennt da doch ein Licht, sichtbar, hell und stetig. Sehr gut, die Frage: ein wunder? Doch dann die "Desillusionierung": Nur eine "Täuschung", es ist nur ein Laternchen, das lediglich mit "Batterien brennt". Auf die möglichen Bedeutungen von "schockschwerenötig" bin ich ja oben bereits separat eingegangen. "fasst den dieb!" - Ja, wer hat da geschrien? Einzelne "Rufer" gibt es noch. Einige merken, dass hier im Zuge der Zeit etwas Wertvolles "gestohlen" wurde. Und das hat, meines Erachtens nach, in erster Linie, unabhängig von Glaubensrichtungen, vor allem mit einer traurigen Tatsache zu tun: Es wurde etwas Wichtiges gestohlen. Und fast niemand merkt es.

Sehr gerne gelesen und kommentiert.

Liebe Grüße

Stimme
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