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Alt 21.12.2011, 12:05   #1
Friedhelm Götz
Schüttelgreis
 
Registriert seit: 02.11.2011
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Standard Mein aufregendster Heiliger Abend eine Weihnachtserzählung von Friedhelm Götz

Als ich ein Bub von acht, neun Jahren war, hatte ich zwei Herzenswünsche, die leider nie erfüllt wurden. Damals wusste ich das aber noch nicht. Der erste Wunsch war ein Akkordeon. Aber man schrieb das Jahr 1947, und zwei Jahre nach Ende des 2. Weltkrieges herrschte im zerstörten Nachkriegsdeutschland überall große Not, und so musste mein Wunsch unerfüllt bleiben.

Eines Tages sagte meine Mutter zu mir: „Du weißt, wir haben dafür kein Geld, und das wird sich so schnell nicht ändern. Außerdem hast du doch schon ein Instrument.“ Ich sah sie verständnislos an. Doch sie fuhr fort: „Du hast doch eine Stimme, das schönste Instrument ist deine Stimme, und sie kostet auch nichts. Also Bub, Sing!“

Obwohl ich das mit dem Geld ja einsah, gab ich die Hoffnung nicht auf. Aber mit dem Singen hatte sie schon recht. Und meine Mutter war in Bezug auf Gesang eine gute Lehrmeisterin. Bei uns wurde viel Musik gemacht - mein Vater spielte mehrere Blasinstrumente – und meine Mutter hatte immer ein Lied auf den Lippen. Besonders viel gesungen wurde an den langen Winterabenden und noch mehr vor Weihnachten.

Jetzt muss ich aber noch von meinem zweiten Wunsch berichten, denn der spielt in meiner Geschichte die Hauptrolle. Wie die meisten meiner gleichaltrigen Freunde wollte ich Ministrant werden, oder wie das bei uns damals hieß: Messdiener. Aber mein Vater wollte das nicht. Aus irgendeinem Grund – ich habe ihn nie erfahren – war er dagegen. Punktum. Keine Widerrede. Ich wollte mich nun allerdings nicht so ohne weiteres damit abfinden. Was hatte mein Vater mir da schon hineinzureden, dachte ich und nahm heimlich am Unterricht und den Proben teil.

Wir wohnten damals in einem Bäckerhaus, unten die Bäckerei und oben unsere kleine Wohnung. Dem Haus gegenüber stand unsere Kirche. Ein paar Schritte über die Straße und ich konnte durch einen Seiteneingang in die Sakristei gelangen.

Meine Heimatkirche stammt aus dem 19. Jahrhundert und ist von der Form und den Ausmaßen eine Nachbildung des Freiburger Münsters, ganz aus Buntsandstein gebaut, mit einem Turm, der wenn ich mich recht erinnere, gut 65 m hoch ist. Im Turm hing damals die einzige der Kirche verbliebene Glocke; die anderen waren für Kriegszwecke eingeschmolzen worden. Von dieser Glocke hing ein langes Seil im Turm herab. Aufgabe der Messdiener war es, die Glocke zu läuten. Das war gar nicht so einfach, machte aber einen Heidenspaß. Denn am Schluss hing man sich an das Seil, um die Glocke anzuhalten. Dabei wurde man dann durch den Glockenturm geschleudert. Wenn man Pech hatte, fiel man da schon mal runter. Erwähnen muss ich übrigens noch, dass in der Zeit nach dem Krieg Deutschland unter der Besatzung der Alliierten Siegermächte stand. Wir gehörten zur amerikanischen Besatzungszone.

Doch nun zu den Ereignissen am Heiligen Abend des Jahres 1947. Es war sehr kalt, wie ja die Winter in meiner Erinnerung bitter kalt und sehr schneereich waren. Während mein Vater bei der Arbeit war, konnte ich heimlich zur Ministrantenprobe gehen. In der Christmette sollte ich mitmachen dürfen, so am Rande, fast nicht zu sehen. Mittags war dann noch eine Läuteprobe, wo ich mich unter Aufsicht der Oberministranten an das Glockenseil hängen durfte.
Als es auf den Mittag zuging, überstürzten sich die Ereignisse. Meine Mutter schickte mich in den Keller, für den Vater zum Mittagessen eine Kanne Most zu holen. Eine Kanne deshalb, weil das so aussah, als würde man beim Bauern Milch holen. Denn für alles musste man Lebensmittelmarken haben.
Ich schlich mich mit meiner Kanne in den Keller hinunter und wunderte mich, dass das Kellerlicht brannte – Licht war übertrieben – es war eine Funzel, die den sehr großen und tiefen Gewölbekeller in ein düsteres, fast gespenstisches Licht tauchte. Ich schloss unseren Keller auf – es war nicht mehr als ein kleiner Lattenverschlag – und hatte kaum die Tür von innen zugemacht, als ich Stimmen hörte. Ich duckte mich in der Dunkelheit hinter das Mostfass und sah vom anderen Ende des Kellers zwei Männer mit einer Kiste. In einem der Männer erkannte ich Erich, den Sohn der Bäckersfamilie. Man munkelte, dass er in Schwarzmarktgeschäfte verwickelt sei.

Die Kiste schien ziemlich schwer zu sein, denn die Männer brachten sie nur mit Mühe die Kellertreppe hinauf. Auf einem Treppenabsatz setzten sie die Kiste ab, und einer der beiden holte aus seiner Hose ein Taschentuch heraus, um sich den Schweiß abzuwischen. Er schien Angst zu haben, denn ich hörte ihn sagen: „Hätte ich mich doch bloß nicht darauf eingelassen!“ Da bemerkte ich – ohne dass die beiden es sahen – wie ihm ein Stück Papier aus der Hose fiel und in die Dunkelheit des Kellers flatterte. Dann stiegen sie die Treppe weiter hinauf und machten das Licht aus.

Jetzt saß ich ganz im Dunkeln. Von unten konnte ich kein Licht machen. Aber ich hatte dafür etwas in meiner Hosentasche - die Hosentasche eines Achtjährigen ist unergründlich, und noch heute staunt meine Frau, was sie alles in meinen Hosentaschen findet – eine Taschenlampe. Keine mit Batterien – die hätte man damals gar nicht bekommen – eine mit einem Dynamo. Ich konnte damit recht geübt umgehen, und so suchte ich die Stelle, wo das Papier zu Boden fiel. Es war ein Dollarschein! Zehn Dollar! Amerikanisches Geld! Bestimmt irgendwo geklaut, dachte ich mir. Ich steckte ihn ein, füllte meine Kanne mit Most und schlich nach oben.

Meine Mutter war schon besorgt, dass ich so lange ausgeblieben war. Als ich ihr die Geschichte erzählte und den Geldschein zeigte, rief sie: „Maria und Josef! Bub, Bub, wast hast du da gebracht, wenn das bloß gut geht!“

Als mein Vater kam, bestürmte ihn meine Mutter mit meiner Geschichte. Aufgeregt fragte sie meinen Vater: „Was machen wir jetzt bloß! Wir können das doch nicht behalten!“ Mein Vater sah sich den Schein an und wollte gerade antworten, als es draußen laut knallte. Wir stürmten ans Fenster und sahen, wie aus einem Schuppen hinter unserem Haus Flammen schlugen. Es dauerte nicht lange und die Feuerwehr war da, mein Vater half auch mit, denn er gehörte auch zur Freiwilligen Feuerwehr.

Dann kam auch die amerikanische Militärpolizei. Wir sahen, wie der Bäckersohn und der andere Mann von der MP abgeführt wurden. Mein Vater berichtete dann später, dass wertvolle Pelzmäntel und andere Kleidungsstücke, aber auch Benzin und Whiskey beschlagnahmt worden seien. Irgendwie habe es in dem Schuppen eine Verpuffung gegeben.

Eigentlich waren das ja schon genug Erlebnisse für einen Achtjährigen – noch dazu an einem Heiligabend. Aber es war noch nicht alles!
Nach dem Mittagessen musste ich mich ja zu meinen Messdienern in den Glockenturm begeben. Von meinen Freunden wurde ich interessiert erwartet, ich hatte ja allerlei zu erzählen. Von dem Geldschein sagte ich nichts. Ich war aber doch etwas aufgeregt, denn soviel Aufmerksamkeit von den Großen war ich nicht gewohnt. Als sie dann über den Erich erzählten, dass er mit Falschgeld handle, fuhr mir der Schreck so in die Glieder, dass ich vom Glockenseil abglitt und zu Boden stürzte. Ich fiel auf meinen rechten Arm und spürte einen stechenden Schmerz.

Schnell wurde ich zum Knochenflicker gebracht, so nannte man unseren Arzt, weil er sich als ehemaliger Lazzarettarzt mit Verletzungen und Brüchen bestens auskannte. Er untersuchte mich und sagte nur lakonisch: „Gebrochen, müsste geröntgt werden, aber das haben wir hier nicht.“ Er legte mir einen Gips an, sagte, ich solle den Arm ruhig halten und schickte mich heim.

So ging ich also – den Gipsarm in einer Schlinge – heim. Auf dem Heimweg überlegte ich mir, ob das wohl stimmte mit dem Erich. Wenn mein Geldschein jetzt gefälscht war – da könnten wir ja in eine ganz böse Sache verwickelt werden! Als ich vor unserem Haus mehrere Jeeps der amerikanischen Militärpolizei stehen sah, beschloss ich, einen der Militärpolizisten anzusprechen. Aber das hatte meine Mutter schon getan. Dabei stellte sich tatsächlich heraus, dass mein Dollarschein falsch war. Danach wurde der Keller noch mal gründlich untersucht und hinter einem großen Regal ein weiterer Raum entdeckt und darin – eine Fälscherwerkstatt! Also doch!

Da hatten wir die Bescherung. Apropos Bescherung – Weihnachten gefeiert wurde schließlich auch noch. Ich bekam – natürlich – kein Akkordeon, sondern für den Winter einen Pullover, der fürchterlich kratzte, den ich aber wegen meines Gipsarms gar nicht anziehen konnte.
Der Rest ist schnell erzählt. Natürlich war ich etwas traurig, dass ich in der Christmette nicht mitwirken konnte. Aber als dann „Stille Nacht“ gesungen wurde, sang ich kräftig mit, und das war es, was ich mir wünschte – eine stille Nacht.

Am anderen Morgen – Mutter war schon aufgestanden, weil sie in der Weihnachtsmesse im Chor mitsingen sollte – heftiges Klingeln an unserer Wohnungstür. Draußen ein amerikanischer Soldat, er hatte ein Paket für uns abzugeben. Wir öffneten es und fanden darin mehrere Dosen Bohnenkaffee, Butter und andere Köstlichkeiten und in einem Briefumschlag – einen Zehndollarschein! Aber ein echter!

Donnerwetter, dachte ich, da hat sich das Christkind aber angestrengt.

Geändert von Friedhelm Götz (24.12.2011 um 10:53 Uhr)
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