Thema: Aberglaube
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Alt 03.01.2012, 09:38   #2
Stimme der Zeit
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Liebe Chavi,

herrlich. Als ich deine "gedichtete Auflistung" von Absurditäten las, musste ich auf der einen Seite lachen und mir auf der anderen an den Kopf fassen.

Das geht mir immer so. Ich finde es geradezu unglaublich, wie viel Aberglauben in der ach so modernen Welt des Menschen doch herrscht. Ich jobbte als Jugendliche mal in den Sommerferien in einem Metallbaubeschläge-Großhandelsunternehmen. Dort gab es eine Angestellte im Lager, die tatsächlich an jedem Freitag, den 13. Urlaub nahm, um nicht aus dem Haus gehen zu müssen. Sie richtete sich außerdem täglich genau nach dem Tageshoroskop aus - übrigens dem in der meistgelesenen Zeitung Deutschlands, die mit den vielen bunten Bildern und den extragroßen Buchstaben auf der Titelseite. Stand etwas auch nur annähernd "Negatives" darin, war für sie der "Tag gelaufen".

Psychologisch spricht man da sehr treffend von einer "sich selbst erfüllenden Prophezeiung". Wenn jemand felsenfest glaubt, am betreffenden Tag bestünde laut Horoskop z. B. erhöhte Unfallgefahr im Haushalt, wird sich die Person aus Ängstlichkeit besonders unsicher und ungeschickt verhalten. Anstatt sich darüber im Klaren zu sein, dass ein eventuell dann tatsächlich stattfindender Unfall a) vom Aberglauben und b) vom eigenen Verhalten verursacht wurde, wird so ein Mensch darin eine Bestätigung der Richtigkeit des Horoskops sehen - und sich künftig noch mehr danach ausrichten. Oh, Erbarmen ...

Ich las vor Jahren einmal, dass ein frisch verheiratetes Paar sich - wirklich! - noch vor dem "Vollzug" der Hochzeitsnacht trennte, da der frischgebackene Ehemann stolperte, als er die Braut über die Türschwelle trug. Das wurde als ein so schlechtes Omen für die Ehe betrachtet, dass sie beendet wurde, bevor sie begann. Nicht zu fassen!

Zitat:
wer hat diesen unsinn erfunden
der ablenkt vom missbrauch der macht
wer streut salz auf die wunden
in jeder heiligen nacht
Die eigentliche Ursache liegt tatsächlich in einer ganz bestimmten Funktionsweise des menschlichen Gehirns, schlicht und einfach. Wir verknüpfen bestimmte Ereignisse, sehen in ihnen kausale Zusammenhänge, die in Wirklichkeit gar nicht vorhanden sind - weil unser Gehirn immer nach Kausalitäten "sucht", so hat die Evolution es "konstruiert". Das hat den Vorteil, dass wir kausale Zusammenhänge erkennen können, und leider den Nachteil, dass auch über das "Ziel hinausgeschossen" wird. Wir stellen ursächliche Verbindungen zwischen zeitlich aufeinandertreffenden Ereignissen fest, die aber in Wahrheit voneinander unabhängig sind. Ich kenne eine Frau, die keinen Tomatensalat isst. Weil ihr einmal davon schlecht wurde. Nur als Beispiel: Tomatensalat = Gefahr der Übelkeit/Unverträglichkeit. Das "Zusammentreffen" war mit Sicherheit bloßer Zufall. Die Tomaten waren bereits verdorben (überreif?), oder sie hatte einen Magen-Darm-Infekt, der, ebenso zufällig, zeitlich mit dem Tomatensalat "zusammentraf". Sie "wagt" es seither allen Ernstes nicht mehr, Tomatensalat zu essen, weil sie befürchtet, ihr könnte wieder übel davon werden. Auch das ist Aberglaube - so entsteht er. Da hilft nur der Einsatz der Vernunft. Es ist auch tatsächlich so, dass viele Wiederholungen des "Nicht-Zusammentreffens" notwendig sind, damit das Gehirn diesen "Zusammenhangs-Mechanismus", der sich übrigens sehr schnell "einprägt" (es genügt oft ein einziges Mal!), wieder los wird.

Auch die bekannten "Bauernregeln", nur als Beispiel, entstammen zum großen Teil diesem "Mechanismus".

Sehr hilfreich ist es, das zu wissen. Aberglaube ist häufig auch eine aus einem Erlebnis entstandene "Vermeidungshaltung". Die Vernunft ermöglicht es, dagegen ganz bewusst anzugehen. Ich kann die Funktionsweise meines Gehirns nicht ändern - aber ich kann "Bescheid wissen", und anders damit umgehen.

Die schwarze Katze von links - jemand hatte einfach das Erlebnis, dass ihm etwas "zustieß", kurz nach der "Sichtung der Katze". Worauf er da einen Zusammenhang "erkannte", anstatt sich sofort selbst zu sagen: Zufall. Und er erzählte sicher "Hinz und Kunz" davon - und prompt entstand ein Aberglaube ...

Die allermeisten Menschen leugnen hartnäckig die Existenz des Zufalls. Es muss einfach Kausalität geben, es muss! Und wenn sie nicht "vorhanden" ist, dann muss sie trotzdem da sein - Grund des "Nichtvorhandenseins": Wir verstehen nur die Zusammenhänge noch nicht. Da sage ich gerne: Ihr habt die Quantenphysik vielleicht verstanden - aber nicht "begriffen", tut mir leid. Der Zufall ist ein existentieller Faktor und kann nicht mehr geleugnet werden. Man mache sich klar, dass der unerschütterliche Glaube an die Kausalität lediglich in der Funktionsweise des menschlichen Gehirns liegt. Kausalität existiert - aber sie ist nicht "ultimativ". Kausalität und Zufall sind gleichwertige Faktoren.
Unser Gehirn sagt uns lediglich: Es muss ein kausaler Zusammenhang vorhanden sein! Der Aberglaube ist das beste Beispiel dafür, wie sehr wir uns da irren können.

Strophe 10 verdeutlicht, dass es beim Aberglauben noch etwas gibt:

Zitat:
10.
wer hat diesen unsinn erfunden
der ablenkt vom missbrauch der macht
wer streut salz auf die wunden
in jeder heiligen nacht
Ein großes Problem: Leichtgläubigkeit. Der Mensch, der das Katzenerlebnis hatte, erzählte davon. Und ihm wurde geglaubt - d. h. auch die Zuhörer "erkannten" einen "kausalen Zusammenhang". Und darin liegt das Phänomen "Aberglaube" letztlich begründet. Diese "Kausalitätsabhängigkeit" des Menschen wurde von der Natur als überlebenswichtiger "Mechanismus" eingerichtet. Wir denken in Kausalitätsketten - Ursache und Wirkung. Die Quantenphysik setzt das teilweise außer Kraft. Es ist auch möglich, dass die Wirkung vor der Ursache kommt. Weshalb ich mich sehr bemühe, zu lernen, wie ich in Wahrscheinlichkeiten und Möglichkeiten denke - das ist schon Absicht. Meine Vernunft macht es möglich, mich zumindest teilweise aus dieser "Denkabhängigkeitsfalle" zu befreien und mein Denken auch in "andere Bahnen" zu lenken. Das allerdings erfordert Lernen und viel Übung. Wie gesagt: Einen "kausalen Zusammenhang" herzustellen ist sehr einfach - sich davon zu befreien sehr schwer. Das erfordert langfristiges geistiges "Training". Und es erfordert das Erkennen und das Anerkennen der Existenz des Zufalls.

Glaub mir, liebe Chavi: Auch jede Religion ist nur ein Aberglaube. Und er beruht auf dem gleichen "Denkprinzip". Das zufällige Zusammentreffen von bestimmten Ereignissen wurde als kausaler Zusammenhang identifiziert, und als "eherne Wahrheit" übernommen und aus der felsenfesten Überzeugung der "Richtigkeit" und "Wahrheit" heraus "weitergegeben" - denn etwas so "Wichtiges" müssen die anderen unbedingt wissen, damit sie sich auch danach richten können! Sonst könnte es schlimm für sie werden! Woher stammt wohl der Glaube an die Sintflut? Oder der Glaube an die Bedeutung des Erdbebens bei der Kreuzigung? Oder der an den "Stern von Betlehem?

Aberglaube ist eine Mischung aus Gehirnfunktion, Leichtgläubigkeit und Unwissenheit. Einer erlebt etwas, und sieht unwillkürlich einen Zusammenhang. (Ein Mix aus Gehirnfunktion und Unwissenheit genau darüber.) Er erzählt es jemand anderem. Dieser glaubt es. (Leichtgläubigkeit und Unwissenheit.) Irgendjemand schreibt das irgendwann auf. (Alles drei.) Leser glauben es - usw., usf. Warum das Ganze? Weil es einen kausalen Zusammenhang geben muss, unbedingt. Das Kausalitätsprinzip ist nur die "halbe Miete", es wird Zeit, das zu begreifen. Denn auch wenn es in bestimmten Fällen gar keinen kausalen Zusammenhang gibt - wir stellen einen her, damit es "passt". Und es muss passen. Wie sehr die Quantenphysik das Grundprinzip menschlichen Kausalitätsdenkens tatsächlich "kippt", ist den wenigsten klar ... Weshalb dieses "Festhalten" an der klassischen Physik? Weil es den meisten nicht gelingt, das "Kausalitätsdogma" im eigenen Denken zu erkennen und zu überwinden. Ich spreche aus Erfahrung: Das ist extrem schwer! Denn man muss buchstäblich gegen die eigenen "Denkfunktionen" andenken - und da hilft der Verstand nicht, denn dieser ist "kausalitätssüchtig". Hier hilft nur die reine Vernunft.

Auch die Überzeugung, alles beruhe auf kausalen Zusammenhängen ist - genau betrachtet - ein Aberglaube ...

Eine kleine Scherzfrage zum Abschluss, die ich bereits seit Kindertagen kenne, und die hier sehr schön passt:

Frage:

Was ist das?

Es hängt an der Wand, macht Tick-Tack, und wenn es herunterfällt,
geht das Gartentor auf.

Antwort: Zufall.



Sehr, sehr gerne gelesen und kommentiert!

Liebe Grüße

Stimme
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Geändert von Stimme der Zeit (03.01.2012 um 09:50 Uhr) Grund: Kleine Ergänzung.
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