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Alt 22.10.2011, 10:38   #28
Stimme der Zeit
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Hallo, Faldi,

Zitat:
Liegen die erwähnten politischen Strukturen wirklich schon so weit hinter uns?
Oder wirken sie nach wie vor bis in unsere Gegenwart?
Ist es nicht viel mehr so, daß sie sich heutzutage nur in dem feiner gesponnenen Gewande der freien Marktwirtschaft als Superkapitalismus auf der Weltbühne präsentieren?
In anderen Staaten dieser Welt werden Religion und Staat nicht voneinander getrennt und Diktaturen jeglicher Art existieren nach wie vor, obwohl kürzlich einige von ihnen beseitigt wurden (den Preis dafür gilt es, wie immer, noch zu entrichten).
Aber auch in der westlichen Welt wird die Religion immer wieder als Aushängschild und zur moralischen Rechtfertigung politischer Handlungen gebraucht, weshalb auch immer wieder hohe Würdenträger derselben gerne gesehen und gehört werden.
In der Tat, die politischen Strukturen wirken bis in unsere heutige Zeit. Allerdings betrachte ich diese als "Auswüchse" und "Modifikationen" von Strukturen, die tatsächlich der "Vergangenheit" angehören, denn Fakt ist, dass wir das Jahr 2011 schreiben und nicht das Jahr 1011. In gewisser Weise handelt es sich bei den ersten beiden Versen des Sonetts um eine Art "Appell", sich das einmal "bewusst" zu machen, und aufgrund dessen die Freiheit zu gewinnen, sich davon zu lösen - anstatt sie lediglich zu verändern.
Der Mensch neigt dazu, sich an bereits Vergangenem "festzuhalten", selbst wenn dies sich längst als negativ oder falsch herausgestellt hat. Es wird zu wenig selektiert, ob etwas aus der Vergangenheit es wert ist, bewahrt zu werden oder ob es aufgrund seiner schädlichen Auswirkungen verworfen werden sollte. Nehmen wir das Automobil. Das erste Auto fuhr 1886. Aufgrund mangelnder Erfahrungen konnten damals die "Folgen" nicht bedacht werden. Ein Auto produziert schädliche Abgase. Nun, obwohl wir heute diese Erfahrung bereits gemacht haben, ändert sich nichts, das Auto wird weiterhin nach dem damaligen "Grundprinzip" gebaut. Es wurde weiterentwickelt, verfeinert und modifiziert. Dennoch: Es fährt nach wie vor mit Benzin - obwohl das zu ändern wäre. Der Mensch neigt zum "Festhalten". Ihm genügt es, dass etwas funktioniert, und so lange es funktioniert ("gut" oder "schlecht" sei dahingestellt) wird es beibehalten. Ich möchte mich nicht darüber auslassen, was dem der Wunsch nach schnellerer Fortbewegung zu Grunde liegt. Wir domestizierten Reittiere, bevor wir das Automobil erfanden. Dann müssten wir auch erörtern, weshalb dieser Wunsch gehegt wurde und wird. Das führt zu weit.

Dass Diktaturen existierten und existieren, liegt in einem Verhaltensmuster der Menschheit begründet, das wir, so wir es wünschten und es genau nehmen wollten, bis zur Entstehung der ersten Sozialstrukturen der Arten von Lebewesen, die uns "vorausgingen" zurückverfolgen könnten. Jede Sozialstruktur basiert nach wie vor auf dem "Anführer-Gefolgschaft"-Prinzip. An dieser Grundlage hat sich bis heute nichts geändert - auch das wurde lediglich modifiziert, auch die "Gewaltenteilung" einer Demokratie ändert nichts an der "Grundlage", denn dieses Prinzip gilt unabhängig von der Anzahl der "Leittiere". Banal ausgedrückt: Menschen brauchen jemanden, der (oder Plural: die) sagt (sagen), wo es "langgeht". Kurze humorvolle Einlage: Abgesehen von spezialmodifizierten, selbstdenkenden Einzelfällen, die zwar ebenfalls ein "ethisch-moralisches Leitsystem" benötigen, aber aufgrund von bewusster Eigenverantwortlichkeit in der Lage sind, auf "Anführer" zu verzichten.

Die Religion. Wenn wir vertiefen, was eine Religion eigentlich ist, dann müssen wir nicht unbedingt deren Unlogik bzw. die Nicht-Bereitschaft, die Nicht-Existenz einer Seele und somit den Tod des "Ichs" zur Argumentation heranziehen. Jede Religion bildet hierarchische Sturkturen aus - womit wir wieder beim "Anführer-Gefolgschaft"-Prinzip wären. Wobei ich zu fragen wage, ob "blinder Glaube" sich lediglich auf Religion beschränkt. Eine Ideologie erfüllt den gleichen Zweck, selbst wenn sie nicht dasselbe ist, denn, wie gesagt, die Ursache ist ein Verhaltensprinzip.

Zitat:
Die griechische Mythologie war eigentlich eine recht einfache und mehr den Dichtern vorbehalten und jeder konnte erkennen, daß ihre Ideologie auf allegorischen „Wahrheiten“ beruhte. Niemand wurde gezwungen, den Göttern zu dienen. Ähnlich verhielt es sich im alten Rom.
Das hier verwendete Bild der drei Moiren, die verantwortlich sind für den Lebensfaden, der von ihnen gesponnen, bemessen und durchtrennt wird, ist stellvertretend für das Schicksal zu sehen und zeigt eindeutig die sinnbildliche, gleichnishafte Darstellung abstrakter Begriffe und gedanklicher Zusammenhänge.
Alle Religionen sind lediglich aus solchen Allegorien aufgebaut und damit eigentlich schon entmystifiziert.
Letztendlich ist es gleich, ob man sich Götter aus Stein oder Gold oder aber aus Allegorien, Ideologien oder Dogmen schafft, sie bleiben immer, was sie sind, nämlich Götzenbilder.
Zwar wurzeln in den Religionen viele moralische Grundlagen, doch benötigen sie daher ihr Sanktionssystem mit Hilfe ihrer Allegorien, die auf Lug und Trug, Wunder und Offenbarungen angewiesen sind.
Große Philosophen wie Kant und Schopenhauer haben mehr als Grundlagen für Moral und Ethik geschaffen, als alle sogenannte Weltreligionen zusammen.
Ich stimme deinen Ausführungen zu. Die Wissenschaft geht von dem sogenannten "Null-Prinzip" aus - etwas existiert so lange nicht, bis dessen Existenz bewiesen ist. Die Religion geht "andersherum" vor. Für sie existiert alles so lange, bis dessen Nicht-Existenz bewiesen ist. Zwei völlig konträre Ansichten, kein "Wunder" also, dass sie nicht miteinander in Deckungsgleichheit gebracht werden können. Die drei Moiren des Schicksals dienen im Gedicht als Allegorie, richtig.

Es gilt, was du über die wesentlich größere Toleranz polytheistischer antiker Religionen sagst. Ich denke, dieser liegt zugrunde, dass es derart viele unterschiedliche Götter waren - es gab ja sogar für jedes Haus eine eigene "Hausgottheit". Dem zu Folge boten solche religiösen Systeme mehr "Raum" für die Anerkennung von "etwas Anderem", wie beispielsweise der Philosophie.

Setzen wir den damaligen wissenschaftlichen Kenntnisstand voraus, dann wird klar, weshalb diese Allegorien notwendig waren. Sie dienten dazu, das "Unerklärliche" zu erklären. Wobei es notwendig ist, dass die Erkenntnisse falsch waren, da sie auf spekulativen und irrigen Parametern beruhten. Das ist zu "entschuldigen", denn auch die Wissenschaft irrt sich und entwickelt Theorien aufgrund bisherig als korrekt angesehenen Parametern, die sich jedoch ändern können und sich dadurch bis zu diesem Zeitpunkt als korrekt angenommene Ergebnisse dann durch neu hinzukommende Informationen Theorien/Erkenntnisse als falsch herausstellen. Der "gravierende Unterschied": Der größte Teil der "wissenschaftlichen Welt" ist zum Umdenken bereit, und auch dazu, Irrtümer oder Fehler einzugestehen (wobei allerdings Einstein ein gutes Beispiel dafür ist, dass das nicht immer der Fall ist). Jedoch ist die Situation bei Religionen auch hier "umgekehrt". Dort akzeptiert der "größte Teil" bereits die Möglichkeit eines Irrtums nicht.

Betrachten wir die Justiz. Sie dient dem Zweck, soziale Strukturen aufrecht zu erhalten. Dazu bedient sie sich, und ja, ebenso wie die Religion, einer Vorgehensweise, die auf "Strafen" für schädliches und/oder unmoralisches Verhalten basiert. Die Parallelen sind erkennbar. Ohne moralische Werte keine Regeln, keine Gesetze und ohne diese keine funktionierende Sozialstruktur. Auch hier könnte man die "Grundlagen" erforschen, aber auch das ginge zu weit. Zusammenfassend soll diese Ausführung nur veranschaulichen, weshalb es Religonen, Philosphien, Regeln und Gesetze gibt. Der Mensch benötigt ein "Orientierungssystem", das ihn "führt", ihm sagt, wo es "langgeht". Fehlverhalten hat negative Konsequenzen, korrektes Verhalten entweder positive oder zumindest keine negativen.

Ja, es stellt sich natürlich die Frage: Wie effektiv ist ein moralisches Leitsystem? Religionen sind ineffektiv, da sie auf Unlogik und Emotionen beruhen - auf Irrationalität. Philosphien sind wesentlich effektiver, da ihnen logische Prämissen zu Grunde liegen - sie sind rational. Ich denke jedoch, auch hier liegt der "Wert" von "Grundlagen der Moral und Ethik" nicht, wie du anführst, im "Schaffen von mehr"; sondern in deren Effektivität. Daher sage ich: "Große" Philosophen wie Kant und Schopenhauer schufen nicht "mehr" Grundlagen, sondern "bessere, logischere, effektivere".

Zitat:
Leider leiden noch viel zu viele an den Manipulationen, die sie schon in frühester Kindheit eingeimpft bekamen und von diesem Traum nicht mehr loskommen, weil sie um ihr vermeintliches Seelenheil fürchten müssen.
Da ein religioses System nicht mit Logik oder Fakten überzeugen kann, muss es zum Mittel der Manipulation greifen. Jede Religion ist eine Form dessen, was gemeinhin als "Gehirnwäsche" bezeichnet wird. Gerade bei Kindern, deren Gehirnstruktur sich erst auszubilden beginnt, ist das besonders fatal. Die "Aufnahmefähigkeit" im Kindheitsalter dient dazu, sich als Erwachsene im bestehenden Sozialgefüge zurechtzufinden und soll ihm die Voraussetzung geben, dort einen "angemessenen Platz" zu erreichen, an dem es "sich leben lässt". Die Werte, die wir besitzen, werden vor allem im Kindheitsalter "festgelegt", sie können daher später nur mit äußerster Anstrengung überwunden werden, selbst wenn betreffende Personen dann wissen, dass sie falsch sind. Kindheitsprägungen "sitzen tief", es wird sogar vermutet, dass sich bestimmte Strukturen des Gehirns derart "geprägt" herausbilden. Anders formuliert: Bestimmte neuronale Verknüpfungen finden statt, die dann im erwachsenen Gehirn weiter bestehen.

Zitat:
Ich persönlich glaube, alle jungen und nicht durch solche Dogmen beeinflussten Menschen wären durchaus bereit, philosophisch moralische und ethische Lehren anzunehmen, wenn man ihnen diese auf dem Wege der Bildung entsprechend nahe bringen würde.
Allein das ist nicht gewollt, sei es durch die verblendeten Alten oder die herrschenden Systeme, die Religion immer noch als die Philosophie für das dumme und einfache Volk protegiert und in ihren schulischen Bildungssystemen zulässt.
So wird die Unwissenheit und die bewusste Unwahrheit und damit die Dummheit auch noch staatlich gefördert.
Denn man stelle sich nur einmal vor, es würden wirkliche „Denker“ herangezüchtet. Die Gefahren für die Etablierten wären wohl nicht abzusehen und daher ist die reine und wahre Philosophie unerwünscht und es wird bewusst an den alten, dummen und verlogenen Dogmen festgehalten, welche das metaphysische Bedürfnis der großen, homogenen und dummen Masse zu befriedigen vermögen.
Ja, nach wie vor hängen Kreuze in Schulen und es findet Religionsunterricht statt. Selbst wenn einige Schulen diesen durch "Ethik-Unterricht" ersetzt haben, wurde leider in den meisten Fällen "dem Kind nur ein anderer Name gegeben".

Wie bereits oben von mir angeführt, stimme ich dir bezüglich der "noch unbeeinflussten" jungen Menschen zu. Eine "andere Prägung" ergibt ein "anderes neuronales Netz" und daher ein "anderes Denkmuster". Ich bin in dieser Hinsicht auch nicht "dogmatisch" (denn diese "Gefahr" besteht auch bei der Philosphie) und betrachte die "verblendeten Alten" dennoch mit einem gewissen Maß an "Nachsicht". Wenn auch sie bereits in ihrer Kindheit "geprägt" wurden, dann bedarf es einem hohen Maß an intellektuellen Fähigkeiten, um eine solche Prägung zu durchbrechen. Da dies eher selten der Fall ist, agieren die meisten von ihnen im Grunde genommen "ohne andere Wahl", da ihnen der Intellekt fehlt, sie zu überwinden. Für sie ist es "zu spät".

Zitat:
... welche das metaphysische Bedürfnis der großen, homogenen und dummen Masse zu befriedigen vermögen.
Jeder Mensch, unabhängig vom Intellekt, besitzt ein metaphysisches Bedürfnis. Es ist nicht zu leugnen oder zu negieren. Das ist unlogisch. Das entspricht unserer "Natur". Wir sind eine Spezies, die Fragen stellt und nach Antworten sucht. Was wir "steuern" können, ist das System, das dieses Bedürfnis befriedigt. Da das Prinzip "Religion" sich mittlerweile wohl (für einen rational denkenden Menschen) als ineffektiv, ja sogar schädlich herausgestellt hat, ist es die Philosophie, die vorzuziehen ist. Denn die Wissenschaft ist gezwungen, zuzugeben, dass sie nicht auf alle Fragen eine Antwort geben kann.

Und, unverdrossen: Wie groß die "homogene Masse" auch sein mag, sie umfasst nicht alle und kann daher nicht als "Gemeinplatz" festgelegt werden. Auch die Existenz von Individuen, die kein Bestandteil dieser "Mehrheit" sind; die Existenz von "nicht-homogenen Einzelnen" darf nicht vergessen werden!

Zitat:
In diesem Sinne ist dieses Sonett als außerordentlich gelungen zu betrachten.
Danke.

Zitat:
Da wäre nur eine einzige Kritik anzumerken:

Ich würde als Autor dieses Textes auf keinen Fall in der ersten Person Plural schreiben, denn über diese göttlichen Wortspiele sind wir doch schon längst hinaus, nicht wahr?

Vorschlag:

Ihr solltet euch der Herrschaft nicht ergeben…

Ihr könntet, wäret ihr dazu bereit…
Es sollte tatsächlich ein "göttliches Wortspiel" sein, und zwar gerade aufgrund des Inhalts. Aber nun gut, wenn etwa nicht funktioniert, ist es zu ändern. Da ich dieser Einstellung grundsätzlich folge, ändere ich.

Allerdings: Dein zweiter Vorschlag würde das Reimschema des Sonetts nicht passen. Dann ergäbe sich aaab. Sollte dieser sich jedoch auf den dritten Vers beziehen, wäre er zwar akzeptabel, aber ich möchte das "Mittelalter" als Bezug zu den "Feudalstrukturen" behalten. Daher ändere ich Vers 1 deinem Vorschlag entsprechend. Danke.

Zitat:
Dann hätte ich nämlich einen neuen Spitzenreiter in diesem Sonettkranz.

Vorläufige Tabelle:
  1. Götterdämmerung
  2. Retrospektive Aktualität
  3. Faites vos jeux!
  4. Der Dukatenesel
  5. Kühles Kalkül
  6. Gedankenlose Konzeption
Ich gebe hier zu, dass ich (immer noch) zwischen Sonett 1 und 2 "schwanke". Trotz der Tatsache, dass die Thematik dieses Sonetts auch mich sehr "anspricht" (wie du weißt), bin ich momentan noch unentschlossen, da ich "Retrospektive Aktualität" aus anderen Gründen ebenfalls für Platz 1 in Betracht ziehe. Eine defintive Entscheidung meinerseits wird erfolgen, ich bin mir lediglich noch nicht völlig sicher.

Zitat:
Ach ja, was ich noch vergaß:
Ich könnte mir durchaus vorstellen, daß dieses Gedicht auf den jüngsten Papstbesuch und dessen (Aus)Wirkung in Deutschland zielt. Daran konnte man wieder einmal schön erkennen, wie die Hoffnungen vieler Menschen, die an dieses Lug- und Truggebilde glauben, an der Nase herumgeführt werden. Lächerlich…
Ach ja. Es erstaunte mich, dass offenbar das "Ersetzen" der aus bewusster Absicht dem Besuch ferngebliebenen Bundestagsabgeordneten durch "Platzhalter" größtenteils an der Öffentlichkeit "vorbeigegangen" ist. Ebenso wenig wurde wirklich registriert, dass es weitaus "tiefer blicken" ließ, was der Papst alles nicht sagte, anstatt dem, was er sagte. Er sagte im Grunde genommen - nichts ...

Erneut einen herzlichen Dank für deinen ausführlichen, intensiven und gut durchdachten Kommentar!

Liebe Grüße

Stimme
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